Gustav Mahler
Sinfonie Nr. 8 „Sinfonie der Tausend“
Ricarda Merbeth. Sopran · Elza van den Heever, Sopran
Elisabeta Marin, Sopran · Stella Grigorian, Alt
Jane Henschel, Alt · Johan Botha, Tenor
Boaz Daniel, Bariton · Kwangchoul Youn, Bass
Wiener Singakademie · Slowakischer Philharmonischer Chor
Wiener Sängerknaben · ORF Radio-Symphonieorchester Wien
Bertrand de Billy, Dirigent
Es ist das Größte, was ich bis jetzt gemacht“ schrieb
Gustav Mahler nach Vollendung seiner achten
Sinfonie. Damit war bei Weitem nicht nur der gigantische
Apparat an Sängern und Instrumentalisten
gemeint, den die Partitur vorschreibt, sondern auch
die Idee, die hier zum Klingen gebracht wird. In der
Gegenüberstellung des Pfingsthymnus „Veni creator
spiritus“ mit der Schlussszene aus Goethes „Faust II“
wird die enge geistige Verwandtschaft von Kunst und
Religion zum Ausdruck gebracht, die Annäherung
an die Idee der himmlischen Liebe aus verschiedenen
spirituellen Quellen.
Mit einem Konzertmitschnitt vom 27. März 2010
aus dem Konzerthaus Wien gelang es hier, das
Riesenwerk auf Tonträger zu bannen. Besondere
Attraktivität gewinnt diese Einspielung durch eine
erstklassige Solistenriege mit Künstlern wie Johan
Botha, Jane Henschel und Kwangchoul Youn.
Bertrand de Billy beweist auch hier seine Fähigkeit,
selbst größte Klangkörper zu fein abgestimmtem,
flexiblem Musizieren anzuleiten.
"...der Angelpunkt des ganzen Werks"
Betrachtungen zur Rezeption von
Gustav
Mahlers „VIII. Symphonie“
Nun sind gerade etwas über hundert Jahre
seit der Uraufführung von Gustav Mahlers
VIII. Symphonie am 12. September 1910
in der damaligen Neuen Musikfesthalle in
München unter der Leitung des Komponisten
vergangen. Dieser Jahrestag, gepaart mit
den zwei Mahler-Erinnerungsjahren zum
150. Geburtstag (7. Juli 1860), gefolgt vom
100. Todestag (18. Mai 1911), sorgen für eine
nie dagewesene Schwemme von Aufführungen
eines Werkes, das nicht alleine die Logistik
jedes noch so großen Konzertveranstalters
vor erhebliche Probleme stellt, sondern auch
alle Beteiligten an einer solchen Aufführung,
der enormen Ansprüche wegen, die Mahler
in diesem Werk stellt.
Es könnte durchaus auch sein Gutes haben,
dass die VIII. nunmehr etwas selbstverständlicher
den Eingang in den internationalen
Konzertbetrieb findet. Der Komponist
selbst hielt dieses Werk bis zum Ende seines
Lebens für sein bestes und wichtigstes, auch
noch zu einem Zeitpunkt, als er bereits an
der unvollendet gebliebenen X. Symphonie
arbeitete, also nach Vollendung von „Lied von
der Erde“ und der IX. Symphonie, die man
heute gemeinhin als Höhepunkte in Mahlers
Schaffen sieht.
Wenn man auf die VIII. zu sprechen
kommt, trifft man sehr bald und häufig auf
Zweifel, Misstrauen und unverhohlene Ablehnung
– selbst bei erfahrenen und namhaften
Musikern, die sich durchaus seriös mit
Mahlers Werk beschäftigen. Versucht man
dann in eingehenderen Gesprächen herauszufinden,
worin diese Ablehnung begründet
liegt, so stößt man meist sehr schnell auf
zwei Ursachen: Selbst die Musiker kennen
oft die VIII. Symphonie nur oberflächlich.
Ja, ja, man hat es in der einen oder anderen
Aufführung oder Aufnahme gehört, aber
die wenigsten haben es der Mühe wert befunden,
sich ernsthaft mit der Partitur auseinanderzusetzten.
In diesem Unwillen, sich
mit der VIII. Symphonie im gleichen Maße
zu beschäftigen wie mit den anderen Werken
dieses Komponisten, liegt die zweiten Ursache
begründet, nämlich dass kaum ein Werk
in der Geschichte der Symphonie so von
den Äußerlichkeiten der Uraufführung und
der daraus folgenden Rezeptionsgeschichte
belastet ist, wie gerade dieses. Schon der
unselige Untertitel des Konzertveranstalters
Emil Guttmann, der im September 1910
in München die Uraufführung organisierte,
hängt dem Werk bis heute an: „Symphonie
der Tausend“. Obwohl wahrscheinlich nach
der Uraufführung nur ganz selten tatsächlich
über tausend Mitwirkende beteiligt waren,
hat sich der Nimbus des Kolossalen und Unmäßigen
wie ein Bleigewicht an das Werk
gehängt. Auf der anderen Seite ist fast jede
Aufführung der VIII. (auch wenn nur selten
eine wirklich den enormen Ansprüchen adäquate
zu erleben ist) stets ein triumphaler
Erfolg. Man möchte fast meinen, dass diese
Symphonie, mit ihrer Botschaft und dem
überwältigenden Enthusiasmus, den Mahler
in die Komposition legte, beim Publikum
weit früher angekommen ist als bei vielen
Interpreten.
Nun haben in der Vergangenheit selbst
so gebildete und grundmusikalische Gelehrte
wie Hans Mayer, dessen Äußerungen über
Richard Wagner bis heute zum Hellsichtigsten
gehören, was in der unübersehbaren Literatur
über den Bayreuther Meister erschienen
ist, mit den Zweifeln über die scheinbar
so disparaten literarischen Vorlagen zu dieser
Symphonie kaum weniger hinter dem Berg
gehalten als Theodor W. Adorno in seinem
bahnbrechenden Mahler-Buch aus dem Jahr
1960. Wenn solche großen Geister nicht nur
Zweifel, sondern geradezu eine apodiktische
Ablehnung gegenüber einem Werk eines
Komponisten zeigen, dessen andere Werke
sie sonst hoch schätzten, nimmt es kaum
wunder, dass selbst seriöse Musiker oft gar
nicht erst den Versuch machen, sich wirklich
eingehend mit der Materie zu beschäftigen.
Besonders Adornos negativer Einfluss auf die
Rezeption der VIII. Symphonie ist bis in unsere
Tage nachweislich wirksam. T.W. Adorno
wirft in seinem Buch zudem Mahler nicht
nur restaurative und ornamentale Tendenzen
vor, sondern überzieht mit einer geradezu
temperamentvollen Flut von Beschimpfungen
gerade dieses Werk: „symbolische Riesenschwarte“,
„Vulgarisierung der Hegelschen
Inhaltsästhetik … wie sie heute im Ostreich
blüht“,
„durchweht von den erhebenden Hochgefühlen
der Sängerfeste … meistersingerhaft“,
„vereinfachte Faktur“, der zweite Satz „wird
ins beengende Generalbassschema stilisierend
hineingesteckt“, „unglaubhafte Affirmation“
des 1. Teiles; der zweite Teil dann lässt sich
laut Adorno vom „Phantasma der Einfachheit“
verführen. Das alles wird übrigens in
einer für Adorno seltsam unfundierten und
wenig reflexiven Argumentation auf weniger
als zwei. Seiten hingeworfen. Seltsam für
einen Mann, der gerade mit diesem Buch
mehr für eine positive, wegweisende und
aufgeschlossene Mahler-Rezeption geleistet
hat als jeder vor und nur ganz wenige nach
ihm.
Fast tausend Jahre liegen zwischen der
Entstehung der beiden literarischen Vorlagen
für die zwei Teile der Symphonie. Zum einen
der lateinische Pfingsthymnus „Veni, creator
spiritus“ – zwischen 800 und 850 entstanden
und dem Kirchenvater Hrabanus Maurus zugeschrieben
– und Goethes Abschluss seines
„Hauptgeschäfts“, der Schlussszene des Faust,
der für viele bis heute als die komplexeste und
tiefsinnigste Theaterdichtung in deutscher
Sprache gilt. Gerade die angebliche qualitative
Divergenz der beiden Dichtungen führte
zu Hans Mayers oben erwähnter Attacke auf
das Werk. Nun wusste er, der sonst scheinbar
immer alles wusste, höchstwahrscheinlich
übrigens genauso wenig wie der Komponist
selbst, dass der Weimarer Dichterfürst gerade
eben jenen Pfingsthymnus nicht nur besonders
schätzte, sondern dero höchstselbst eine
eigene, nie publizierte Übersetzung angefertigt
hatte – und seinen Hauskomponisten Zelter
zur Vertonung zu überreden suchte. Man
wäre doch neugierig zu erfahren, wenn Mahler
dies gewusst hätte, ob er nicht vielleicht
an eine Vertonung in deutscher Übersetzung
gedacht hätte – und dann natürlich eben jene
von Goethe; und dann wäre noch interessant
zu wissen, wie Hans Mayer dann die Zusammengehörigkeit
und die Qualität der beiden
Teile im Zusammenhang beurteilt hätte. Der
Vorwurf der Zusammenhanglosigkeit zwischen
den beiden Teilen ist übrigens eines der
ältesten und hartnäckigsten Vorurteile gegen
die VIII. Symphonie. Auch hier muss man vermuten,
dass die Kritiker weder die Verwendung,
die Mahler von dem Pfingsthymnus
vornahm, studiert haben, noch die genaue
Übersetzung kennen – und leider in vielen
Fällen auch nicht Goethes Faust! Leicht übersehen
wird oft, dass Mahler von jeher, ob bei
der Verwendung von „Wunderhorn“-Texten,
Klopstock- oder Nietzsche-Dichtungen, sich
aus der literarischen Vorlage das, was ihn ansprach
und inspirierte, herausholte, die Texte
umstellte, verkürzte oder mit eigenen Worten
erweiterte – also sie einfach aus seinem Verständnis
heraus neu interpretierte. In seiner
Verwendung des Pfingsthymnus verfährt
Mahler nicht weniger radikal als mit Texten
davor, trifft sich aber im Grundverständnis
durchaus mit Goethes Zugang zu diesem emphatischen
Anruf an das schöpferische Genie
– der mutmaßliche Schöpfer Hrabanus
Maurus wäre möglicherweise ebenso wenig
über die Verarbeitung und den Zusammenhang
begeistert gewesen, wie ein Klopstock
oder Nietzsche über die Art der Verwendung
ihrer Texte in der II. und III. Symphonie.
Auch wenn Mahler Goethes Übertragung des
Hymnus höchstwahrscheinlich nicht kannte,
so war er doch ein wirklicher Goethe-Kenner,
der wahrscheinlich dessen These aus Maximen
und Reflexionen gelesen hatte: „Licht und
Geist … sind die höchsten denkbaren unteilbaren
Energien“. Und was man noch wissen
sollte: Den Plan, die Schlussszene des Faust zu
vertonen, trug Mahler schon lange vor dem
eigentlichen Entwurf der Symphonie mit sich
herum.
Die Realität des Werkes ist allen Anwürfen
fast diametral entgegengesetzt. Der inhaltliche
Bezug zwischen dem „Veni, creator“ und der
Emphase in der Schlussszene im Faust lassen
sich eigentlich sehr leicht aufzeigen. Ebenso
die zahlreichen musikalischen Brücken, die
Mahler gleichsam wie Hinweispfeile zwischen
den Sinnbezügen der beiden Dichtungen gespannt
hat. Die VIII. ist nicht mehr ein rein
polyphones Meisterstück, wie wir es in der
V. und besonders noch in der VII. Symphonie
so trefflich studieren können, denn Mahler
bedient sich der Vorlagen gemäß auch einer
viel eklektischeren Struktur. Gerade in diesem
Werk zeigt sich der Komponist Mahler wie nie
zuvor als souveräner Beherrscher aller musikalischen
Formen, sei es Sonatensatz (1. Teil),
Variation, Hymnus oder Fuge, Liedgestaltung
oder Choral. Mahler steht an diesem Punkt
seines Lebens einfach das gesamte Repertorium
der Komponierkunst zu Gebote, und er nutzt
diese technische Meisterschaft souverän – und
mit Lust! Meist völlig in den Hintergrund
gedrängt wird auch die eminente Bedeutung der
Tonartendramaturgie. Es-Dur, E-Dur und es-
Moll prägen den Sinngehalt dieser Symphonie
in ganz entscheidendem Maße, und auch hier,
in der Verwendung der Tonarten, zeigt sich
Mahler am Gipfelpunkt seines Könnens.
Allein sein Festhalten an der Form der
Symphonie, eben einer „von Anfang bis Ende
durchgesungenen“, reizte schon die Zeitgenossen
zu Kritik, aber Mahler war der Idee,
mit jeder Symphonie einen Teil einer Welt
und einen eigenen philosophischen Kosmos
zu schaffen, unbeirrbar verfallen, und nur
einem Meister aller musikalischen Formen
konnte dieses Meisterstück in einer so unglaublich
kurzen Zeit gelingen. Das Particell
entstand in nicht mehr als sage und schreibe
drei Monaten! Mahler schöpfte also nicht nur
handwerklich, sondern auch gedanklich-musikalisch
aus dem Vollen. Dass trotz des Festhaltens
an der symphonischen Form Mahler
Kantate, Oratorium und Oper ebenso zu Gebote
standen wie jede Möglichkeit innerhalb
der Struktur einer Symphonie, ist evident.
Die Verwendung der menschlichen Stimme
in Mahlers Symphonien war in seinem
Werk an sich seit der II. keine Überraschung
mehr. Die VIII. unterscheidet sich allerdings
wesentlich dadurch, dass die menschliche
Stimme als gleichwertiges Instrument neben
den Instrumentalstimmen des Orchesters
eingesetzt wird. Das macht auch die Ausführung
der Gesangspartien so außergewöhnlich
schwierig und unterscheidet sie deutlich von
denen anderer Symphonien, in denen einzelne
Sänger zeitweise solistisch hervortreten.
Auf eine eingehende Analyse der Symphonie
muss an dieser Stelle aus naheliegenden
Gründen verzichtet werden und an die
unten genannte Literatur, in besondere auf
die neueren Analysen von Chr. Wildhagen
und P. Revers verwiesen werden.
Aber nur einige Anmerkungen sollen das
eingangs Gesagte noch erläutern: Selbst in
der endgültigen Form lässt sich das ursprüngliche
Konzept einer viersätzigen Symphonie
in rudimentären Elementen noch nachvollziehen,
wobei der langen, rein orchestralen
Einleitung zum zweiten Teil in der Analyse
der Struktur eine Schlüsselstellung zukommt.
Ursprünglich sollte nämlich auf den Hymnus
des ersten Satzes ein Adagio mit dem Arbeitstitel
„Caritas“ folgen, das sich durchaus im
Charakter dieser Einleitung (und des daran
anschließenden Chores) wiederfindet, die ja
den einzigen rein orchestralen Teil des gesamten
Werks bildet. Die Reste der Urkonzeption
eines Scherzos mit Wunderhornliedern unter
dem Titel „Weihnachtsspiele mit dem Kindlein“
und einer abschließenden Hymne auf
die Macht des Eros lassen sich schwieriger (im
Falle des Scherzos) oder leichter (im Finale)
im inhaltlichen Zusammenhang zu Goethes
Dichtung und der endgültigen Kompositionsstruktur
wiederfinden. Ein übertriebenes
Gewicht sollte man dieser ursprünglichen
Idee für das Verständnis des Ergebnisses nicht
zumuten, aber offensichtlich ist, worauf der
rasante Entstehungsprozess hindeutet, dass
der Übergang von Urkonzeption zur endgültigen
Werkgestalt für den Komponisten
nicht ein so großer Weg war, wie es vielleicht
zu vermuten wäre. Es ist aber auch einer von
vielen Hinweisen, dass die VIII. nicht, wie
gerne behauptet, aus dem Kanon der anderen
Mahler-Symphonien herausfällt, sondern
sich – ganz im Gegenteil – sehr gut einfügt,
wenn man bereit ist, die äußeren Umstände
der Uraufführung und ihrer Folgen einmal
beiseite zu lassen und sich auf die Analyse des
Vorliegenden konzentriert.
Christian Wildhagen hat in seiner Deutung
insbesondere die engen inhaltlichen
Querbezüge durch genaue Textanalyse einerseits
und die parallelen musikalischen
Entsprechungen andererseits eindrucksvoll
herausgearbeitet. Es nimmt eigentlich wunder,
warum erst so spät wirklich fundierte
und logisch begründete Studien zu dieser
Symphonie erschienen. Die erwähnte Arbeit
entstand z.B. erst 90 (!) Jahre nach der
Uraufführung. Dabei sind Mahlers Anweisungen
in der Partitur klar, die Querbezüge
musikalischer Art gar nicht verborgen oder
schwer deutbar. Und Mahlers Ausspruch von
den Uraufführungsproben war von jeher hinlänglich
bekannt: „Da geht die Brücke hinüber
zum Schluss des ‚Faust‘. Diese Stelle ist der
Angelpunkt des ganzen Werkes“. Gemeint ist
der Einsatz des „Accende lumen sensibus“ im
ersten Teil und sein Bezug auf sein Wiedererscheinen
bei den Worten des zweiten Teils
im Chor der Engel: „… wer immer strebend
sich bemüht, den können wir erlösen“.
Allein in diesem überlieferten Ausspruch
wäre doch bereits ein wesentlicher Schlüssel
zum Werkverständnis zu sehen. Der eigentliche
Sinnzusammenhang der beiden Teile
in Mahlers VIII. ist im Grunde bereits das
Thema der früheren Symphonien. Insbesondere
der Schlusssatz der III. Symphonie ließe
sich unschwer als Orchesterskizze des Gedankenguts
für dieses Werk deuten: Mahlers
Lebensthema der Vision einer umfassenden,
erlösenden und schöpferischen Liebe. Christian
Wildhagens Analyse führt richtigerweise
aus, dass sich das „Accende“-Thema im zweiten
Teil „zum Leitthema der erlösenden Liebe“
entwickelt und weite Teile in „geradezu
monothematischer Tendenz“ beherrscht. Die
Uridee der Caritas aus den ersten Entwürfen
zu diesem Werk findet sich natürlich ebenso
wieder wie die des Eros im Finale der Symphonie
– verstanden natürlich im übergeordneten,
über das rein Menschliche hinausgehenden,
allumfassenden Begriff.
Der Vorwurf, im zweiten Teil würde
der Auftritt der Anachoreten (die wohl die
Stellung des ehemaligen Scherzos der viersätzigen
Konzeption einnehmen) wie eine
Aneinanderreihung von Arien, ja wie eine
Liedertafel wirken, verkennt, dass zum einen
Goethes Vorlage dies bereits rein dramaturgisch
impliziert: Auf die Anachoreten folgen
die Engel und auf diese die Frauen – das
„ewig Weibliche“: der Aufstieg zum höchsten
Wesen der Liebe (wieder wäre der Vergleich
zur III. Symphonie sinnfällig!), der geradezu
kongenial auch im musikalischen Aufbau
dargestellt wird. Zudem wird der Charakter
der auftretenden Figuren höchst differenziert
und eindrücklich gezeichnet und gesteigert.
Gerade gegen Ende des Werkes wird das
Gewebe der musikalischen Querverbindungen
immer dichter und zielt in bestechender
Konsequenz auf das Finale, den „Chorus
mysticus“ hin, der in der formalen Struktur
den Platz einer Coda einnimmt. Hier wird
man neben der III. Symphonie auch an das
Gedankengut der II. erinnert. Heißt es in der
„Auferstehungssymphonie“ noch in Mahlers
Worten: „Sterben werd ich, um zu leben“, vertont
er nun Goethes Worte zur Wandlung
von Fausts Seele zu neuer, geläuterter, höherer
Existenz: das Ideal der Überwindung des
Todes in der über allem stehenden Liebe. Die
Symphonie schließt wieder mit dem „Veni,
creator“-Thema – dem Ausgangspunkt und
der Grundidee dieses wahrhaft komplexen
und zutiefst menschlichen Werkes.
Michael Lewin