Die armenische Konzertpianistin Sona Shaboyan spielt seit ihrem sechsten Lebensjahr Klavier. Sie studierte an der Tschaikowsky-Musikschule in Eriwan und später in der Schweiz und Deutschland. Ihre CD beinhaltet ausschließlich Werke armenischer Komponisten
wie Aram Katchaturian, Robert Andreasian, Georgy Saradian, Alexander Arutiunian,
Arno Babachanian, Eduard Mirsoian und Ruben Sargsian. Bei allen Werken handelt es sich um Weltersteinspielungen!
Armenische Miniaturen
Die armenische Klavierkultur ist noch relativ
jung: die ersten Klavierstücke wurden
erst im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts komponiert. Trotzdem hat sie einen raschen Aufschwung
erlebt, denn bereits
im Jahr 1916 wurden die Komitas-Tänze fertiggestellt, die später in das Repertoire einiger Pianisten
Eingang gefunden haben. Diese Tänze haben die Kammerrichtung des armenischen Klavierklanges begründet.
Die Komitastänze sind eine Bearbeitung von Volkstänzen durch Komitas (Soghomon Soghomonyan),
in deren Titel nicht nur der Ort sondern auch die verwendeten Volksinstrumente
angesprochen werden. „Erangi“, ein zierlicher und weiblicher Tanz, ist erfüllt von Unterstimmen,
die das Stück mal lieblich und sanft, mal angespannt und sorgenvoll färben. „Marali“ ist geprägt
von einer vertrauensvollen,
intimen, aber auch traurigen Atmosphäre. Im Gegensatz dazu „Suschiki“, das funkelnde Freude und
spielerische Koketterie
ausstrahlt. Komitas bildete in diesen
Stücken ein vielfältig differenzierbares rhythmisches Gerüst, das Assoziationen zu verschiedenen
Volksinstrumenten hervorruft.
Im Gegensatz dazu hat das Werk vom Aram Chatschaturyan das Entstehen der armenischen
Klaviermusik mit ihrem dynamischen,
auffallenden und von grellen Klangfarben
geprägten Konzertstil beeinflusst: die berühmte „Toccata“ (1932) stellt den Beginn der
neuen armenischen Klaviermusik dar. Es ist ein Stück, in welchem die Vielfältigkeit des

nationalen Charakters mit der für virtuose
Klavierkonzerte üblichen Eigenschaften zum Ausdruck gebracht wird. Die Dynamik und die
ansteckende Energie des armenischen
Tanzes, die überraschende Interpretation
der traditionellen Kompositionen, die meisterhafte Nachahmung von Volksinstrumenten
und deren farbiger Harmonik schaffen
eine einmalige Klangpalette und spiegeln die anziehende Welt des Ostens.
Die Klavierbearbeitungen armenischer Lieder von Robert Andreasyan stammen aus den 40er und 50er Jahren;
die drei hier vorliegenden basieren auf den von Komitas festgehaltenen Melodien. Das Lied „Garun
a“ („Es ist Frühling“) ist voll von tiefer Trauer. Es beginnt mit einem dämmerigen Vorspiel
und glänzt anschliessend durch die jungfräuliche Helle seiner Melodie. Das Lied ist von seelischer
Wärme und von Offenheit
der Gefühle geprägt. Das graziöse, humorvolle Lied „Hoi Nazan“ verzaubert uns durch das merkwürdige
Spiel der Artikulationsstriche,
die vor dem Hintergrund der flexiblen, fein geschmückten Begleitung besonders gut spürbar werden.
Die weit und breit atmende Kantilene des Liedes „Dzirani tzar“ („Aprikosenbaum“) ist von einer
typisch
romantischen Begleitung umhüllt und ruft ein Gefühl tiefer Leidenschaft hervor: lange
klingen die überraschenden „Blitzerscheinungen“
in unserem Inneren nach; sie sind voll von Erbitterung und Ergebenheit.
Die Lieder „Khjamantscha“ (der Name eines armenischen Saiteninstrumentes)
und „Jes mi garib Blbuli pes“ („Ich bin eine wandernde
Nachtigall“) sind nach Themen von Sajat-Nowa, dem grossen armenischen Volksliederinterpreten
des 18.Jahrhunderts, komponiert
worden. In „Khjamantscha“ brilliert das Klavier mit unterschiedlichsten Klangfärbungen
und durch die Vielfältigkeit des Registerwechsels.
Das Lied „Jes mi garib Blbuli pes“ ist in der Bearbeitung von Andreasyan zur Beichte eines einsamen
Dichters geworden,

der seine Geschichte halblaut beginnt und dann Schritt für Schritt zur Höhe seines emotionalen
Ausdruckes übergeht.
„Krunk“ (Kranich) ist eine der Melodien, die dem armenischen Herzen
am nächsten liegen. Sie ist in den 60er und 70er Jahren von Georgi Saradjyan umgesetzt worden.
Die Einleitung basiert auf dem Leitmotiv des Liedes und lässt sofort einen tragischen Nervenimpuls spüren.
Die Trauermelodie selbst klingt zunächst sehr zurückhaltend; sie entwickelt sich erst im Verlauf des
Stückes
zu einem mächtigen Konzert mit heftigen
Passagen und Akkorden. Dabei verleiht ihm der sich immer wiederholende Basston E eine Atmosphäre von
Ausweglosigkeit und Tragik.
Die „Zwei Bilder“ (1960) von Alexander Arutiunyan sind durch eine
ausgeprägte Innengestalt gekennzeichnet; jedes Stück stellt einen bestimmten Klavierstil dar:
„Der Abend im Ararat-Tal“ zeigt Assoziationen zu den lyrischen Präludien der Romantiker,
während die hastigen, glänzenden Oktaven und die breiten Akkordsprünge im „Tanz der Krieger“
die Tradition von Liszt und Rachmaninow
weiter entwickeln. Ungeachtet davon sind Arutiunyans eigene Kreationen nicht zu überhören:
eine scheinbar einfache Melodie, kombiniert mit einer sich immer wieder wiederholenden
Begleitung. Dies ist insbesondere
beim Harmoniewechsel sehr effektvoll. Die asketische Harmonisierung, kombiniert mit einem rythmischen
Ostinato, verleihen dem Stück durch die stetig wachsende Spannung die Atmosphäre eines
heidnischen Rituales. Dem populären Stück „Wagarschapater Tanz“ (1944) des armenischen
Komponisten Arno Babadschanyan liegt eine Melodie des armenischen Volkstanzes zu Grunde, die schon im Stück „Erangi“ von Komitas vorgekommen
ist. Arno Babadschanyan war 23 Jahre alt, als er das Stück komponiert hat.
Seine ehrwürdigen Vorgänger haben diese Melodie als einen harmlosen Tanz interpretiert.
Demgegenüber hat Babadschanyan daraus ein glänzendes, temperamentvolles, von Farbtönen erfülltes
Klavierstück geschaffen.
Die „Sechs Bilder“ (1965) vermitteln da-gegen einen einzigartigen Überblick über die Entwicklung
der armenischen Klaviermusik. Darin ist es gelungen, die charakteristischen Eigenschaften
der alten armenischen Nationalkunst
auf dem Niveau des zeitgenössischen
musikalischen Denkens zum Ausdruck zu bringen: „Improvisation“ und „Kleine Toccata“
beweisen eine prägnante Dynamik der rhythmischen Ornamente. Das „Volkslied“ vereinbart die
verschiedenen Charaktere.
„Intermezzo“ enthält eine unerwartete Wandlung der Dramaturgie, indem zwei unterschiedliche
Bewegungsarten zeitlich kein einziges Mal aufeinander prallen – eine wunderbare
dramaturgische Erfindung! „Choral“ ist in einem perfekten, strengen Viertakt zusammengefasst
und die ganze Vielfältigkeit der Metrorhythmen im „Sassunischen Tanz“ klingt plötzlich so überraschend
anders.
„Poem“ (1969) von Eduard Mirsoyan fängt mit mächtigen romantischen Schritten an. Aber
sobald die ersten Klangwellen vorbei
sind, treten wir ein in eine andere Welt ein: in die feine Melodie-Linie sind
leichte, blinkende Klänge eingefügt. Sehr einfach und zurückhaltend fängt auch
der Mittelteil an, doch ganz rasch entwickelt er sich zu einer gewaltige Klangflut.
Den dynamischen Druck erreicht Mirsoyan durch Überlappen von zwei einfachen
Ostinatos mit verschiedenen
metrischen Strukturen.
„Darbringung zu Komitas“ von Ruben Sargsyan (1984) ist das
Werk eines Komponisten
der neuen Generation. Wir hören hier Assoziationen mit „Kuperens Grabstein“,
dem bekannten Zyklus von Maurice Ravel, mit dessen schwierigem, polyharmonischem
Klang die charakteristischen Komitas-Intonationen
völlig verschmolzen sind. So entsteht eine zerbrechliche Welt der
Träume und der Traurigkeit und das finstere Glockenspiel am
Schluss – das an „Krunk“ von Komitas erinnert
– wird darin zum Symbol des tragischen Schicksals des armenischen Volkes.
Die Komponisten
Komitas (d.i. Soghomon Soghomonyan) (1869–1935) war Komponist, Folklorist, Sänger,
Chordirigent und Begründer der wissenschaftlichen
Ethnographie Armeniens. Er gilt als ausserordentlicher Vertreter der armenischen
Musikkultur und hat die ersten Sammlungen armenischer Bauernlieder, alter
Hussanlieder (Lieder der Wandersänger), Volkstänze, mittelalterlicher
Thagen und kurdischer
Volkslieder zusammengestellt. Zudem
ist er Autor einer Liturgie (Phatharag), einer Bearbeitung
der Volkslieder für Klavier, Stimme und Chorlieder.
Aram Chatschaturyan (1903–1978) war Komponist
und Professor am Konservatorium in Moskau. Als anerkannter
Volksartist war er Akademiemitglied und Träger höchster
Auszeichnungen.
Weltberühmt wurde er durch seine Instrumentalkonzerte für
Klavier, Geige und Cello sowie durch seine Ballette „Gajane“
(Säbeltanz) und „Spartakus“. Er hat drei Symphonien, mehrere
Instrumentalsonaten, Rhapsodien für Klavier, Geige und Cello,
ein „Kinderalbum“ für Klavier und Stücke für Theateraufführungen
sowie Filmmusik komponiert.
Robert Andreasyan (1913–1986) war Pianist, Komponist
und Professor am Konservatorium Eriwan. Er komponierte ein
Klavierkonzert, das Poem „Nairi“ für Klavier und bearbeitete
mehrere Lieder von Sajat Nowa und Komitas für Klavier.
Georgij Saradyan (1919–1986) war ebenfalls Pianist,
Komponist und Professor am Konservatorium
Eriwan. Er ist Komponist eines Trios für Klavier, einer
Suite zu Volksthemen für zwei Klaviere und weiterer
Klavierstücke, darunter Bearbeitungen der Lieder von Sajat Nowa,
Scheram und Komitas für Klavier.
Alexander Arutiunyan (geb. 1920) ist Pianist,
Komponist und Professor am Konservatorium
Eriwan. Unter seinen zahlreichen Werken sind die Oper
„Sajat Nowa“, die Symphonie, „Kantate über die Heimat“
für Solisten, Chor und Symphonieorchester, Konzerte und
Sonaten
für verschiedene Instrumente und Orchester.
Besonders bekannt sind seine Konzerte
für Trompete und Symphonieorchester sowie seine
„Polyphonische Sonate“ für Klavier.
Arno Babadschanyan (1921–1983) war Komponist
und Pianist. Seine bekanntesten Werke
sind die „Heldenballade“ für Klavier und Orchester,
die „Polyphonische Sonate“ für Klavier sowie die „6 Bilder“
für Klavier. Er hat Sonaten für Geige und Klavier, Konzerte
für Geige und Cello mit Orchester, Streichquartette
und ein Klaviertrio komponiert, aber auch Musikstücke
für Filme und viele Lieder, die grosse Popularität geniessen.
Eduard Mirsoyan (geb. 1921) ist Komponist,
Professor des Konservatoriums Eriwan. Als Vorsitzender
des Komponistenverbandes Armeniens
sowie als Präsident des internationalen
Friedensfonds in Armenien ist er eine Persönlichkeit
des öffentlichen Lebens. Er hat verschiedene Kantaten, einer
Symphonie für Streichorchester und Pauken, mehrere
Kammermusik- und Vokalstücke, aber auch Kino- und
Fernsehfilmmusik komponiert.
Ruben Sargsyan (geb. 1945)
ist Komponist und Professor am Konservatorium Eriwan.
Er ist Komponist von Symphonien, Instrumentalkonzerten,
Streichquartetten, Sonaten für Klavier, Geige und Cello,
Vokal- und Instrumentenzyklen
sowie von Musik für Kinder.
Fotos: Oli Rust