Lyriarte (Rüdiger Lotter / Olga Watts)
Veracini · Geminiani: Sonatas for Piano and Violin Der Geiger Rüdiger Lotter, Barockspezialist und Konzertmeister der Neuen Hofkapelle München, gründete zusammen mit der internationalen Preisträgerin
Olga Watts (Cembalo) das Ensemble „Lyriarte“, das inzwischen ein fester Bestandteil des Münchner Musiklebens ist.
Die Violinvirtuosen
Geminiani und Veracini
– der fleißige und der exzentrische
Nachfolger Corellis
Betrachtet man die Musikgeschichte, dann
stellt man fest, dass sich neue musikalische
Stile oder Moden selten gleichmäßig
und linear entwickeln. Zumeist gibt es einen
revolutionären Entwicklungssprung, auf den
dann eine Phase der Modifikation, Adaption,
Variation und schließlich Ausdifferenzierung
und Verfeinerung folgt, bevor ein weiterer revolutionärer
Entwicklungssprung einen neuen
Stil, eine neue Mode begründet. Claudio
Monteverdi (1567-1643) schuf die Konzeption
der Monodie, der von einer Melodiestimme
und einer Begleitung geprägten Musik. Heinrich
Schütz (1585-1672) oder Jean-Baptiste
Lully (1632-1687) adaptierten sie mit jeweils
nationalen Besonderheiten. Andere Komponisten
übertrugen das von Monteverdi für die
Vokalmusik entwickelte Prinzip auch auf die
Instrumentalmusik. Dies hatte weitreichende
Konsequenzen, denn erst durch das Prinzip
der Hierarchisierung von führender Melodiestimme
und Begleitung war die Voraussetzung
und Möglichkeit instrumentaler Virtuosität geschaffen.

Diese wurde in der Folge von Komponisten,
die zumeist in Personalunion auch
Instrumentalisten waren, in Form von Sonaten
mit Generalbass auf die Violine angewandt,
was zu Beginn des 18. Jahrhunderts zu einer
Blüte der Gattung führte – man denke etwa an
Arcangelo Corelli (1653-1713) in Italien, Heinrich
Ignaz Franz Biber (1644-1704) in Deutschland
oder Johann Heinrich Schmelzer (1623-
1680) in Österreich. Vor allem die Sonaten von
Corelli wurden vielen nachfolgenden Komponisten
zum Modell. Und so konnte 1726 der Essayist
und Chronist des englischen Musiklebens
Roger North konstatieren: „Then came
over Corelly’s first consort that cleared the
ground of all other sorts of musick wahtsoever.
By degrees the rest of his consorts, and
at last the conciertos came, all of which are to
the musicians like the bread of life.“
Vor diesem musikhistorischen Hintergrund
sind die Geiger und Komponisten Francesco
Saverio Geminiani (1679-1762) und Francesco
Maria Veracini (1690-1768), die beide der Generation
Johann Sebastian Bachs (1685-1750)
und Georg Friedrich Händels (1685-1755) zugehören,
eindeutig der Spätphase der durch
Corelli geprägten Sonate zuzurechnen, deren
Prinzipien sie variieren, differenzieren und
verfeinern. Geminianis erste Konzerte fußen
ganz offensichtlich auf den Sonaten für Violine
und Basso continuo op. 5 seines Geigenlehrers
Corelli, und während seines langen
Aufenthalts in England arrangierte Geminiani
auch Trios von Arcangelo Corelli zu Konzerten
um. Und sicherlich dürften dabei ebenso die
Aneignung des Stils wie das Trittbrettfahren
auf einem Erfolgsmodell eine Rolle gespielt
haben. Das gleiche Verfahren wandte er auch
auf eine Sonate von Georg Friedrich Händel
an – seinerseits ein Schüler Corellis –, der ihn
bei einem Vorspiel für den englischen König
Georg I auf dem Cembalo begleitete.
Beschäftigt man sich näher mit den Sonaten
für Violine und Generalbass von Geminiani
und Veracini vor dem Hintergrund des Modells
Corellis, so stellt man fest, dass sie in erstaunlichem
Maße mit Charaktereigenschaften
ihrer Schöpfer korrespondieren: Nach allem,
was wir über Geminiani wissen, muss er ein
sehr fleißiger, strebsamer, zielstrebiger und
anpassungsfähiger Mensch gewesen sein,
der sich – von seiner Umwelt höchst geachtet
– sehr erfolgreich in den internationalen
Musikzentren bewegte und neben Italienisch
auch Englisch und Französisch sprach. Diese

Eigenschaften verraten auch seine Sonaten,
die die Prinzipien Corellis, der die viersätzige
Sonata da Chiesa mit ihrem großen Anteil an
imitatorisch-kontrapunktischen Satztechniken
bevorzugt, aufnehmen. Das Vorbild Corelli
wird von Geminiani in einem ersten Schritt
gesteigert, um in einem zweiten Schritt dann
zunehmend durch eine ausgeprägte Verzierungstechnik
überwuchert zu werden. Damit
lässt sich in den Sonaten eine Hinwendung
zum galanteren französischen Stil beobachten,
was mit längeren Aufenthalten in Paris
korrespondiert. Ganz anders dagegen Veracini,
der, wie aus zahlreichen Berichten von
Zeitgenossen hervorgeht, dem Typus des
ebenso genialischen wie großspurigen Exzentrikers
anzugehören schien, der seinen beiden
kostbaren Violinen die Namen Peter und Paul
gab. Die damit verbundenen Attitüden werden
auch in den Sonaten greifbar, die einerseits
wesentlich freier, aber auch formal unkonzentrierter
mit dem Modell Corellis umgehen, andererseits
aber auch die Virtuosität erheblich
steigern und sich zahlreicher harmonischer
wie chromatischer Kühnheiten bedienen.
Ein weiteres typisches Phänomen, das den
Beginn bzw. das nahende Ende eines musikalischen
Stils begleitet, sind Traktate und
theoretische Schriften, die entweder der Begründung
und Durchsetzung des Neuen oder
der Zusammenfassung, Bewahrung und Verteidigung
des Alten verpflichtet sind. So passt
es zum musikhistorischen Entwicklungsstand
Geminianis, dass er zahlreiche Traktate über
Fragen des Violinspiels („The Art of Playing
the Violin“,1731), des Generalbass-Spiels
(„The Art of Accompaniment“, ca. 1754) oder
des musikalischen Geschmackes („Rules for
Playing in a True Taste“, 1748) geschrieben
hat. Und auch Veracini hat in seinen „Sonate
accademiche“ op. 2 (1744) seinen Stil
zusammengefasst und vollendet und die Grundlagen
seiner Musikanschauung in einem Traktat mit
dem Titel „Il Trionfo della pratica Musicale“
op. 3 (1750) niedergelegt. Dabei geht – und
das ist eine interessante Beobachtung am
Rande – aus der Durchnummerierung der musikalischen
wie theoretischen Werke durch
Opuszahlen hervor, dass zwischen Theorie
und Praxis kein fundamentaler Unterschied
bestand. Es ist aber bestimmt kein Zufall, dass
alle diese eher retrospektiven Traktate mit der
erneuten Stilwende vom Barock zum Rokoko
und zur Frühklassik zusammenfallen.