Richard Wagner: Tristan und Isolde – Highlights
RSO Wien · Bertrand de Billy, conductor
Deborah Polaski (Isolde) · Heidi Brunner (Brangäne)
Die amerikanische Sopranistin Deborah Polaski zählt zweifelsohne seit ihrem Bayreuth-Debüt 1988 im Barenboim/Kupfer-Ring zu den ganz großen Wagner-Interpreten. Keine andere Sängerin nach 1914 hat so oft die Brünnhilde am “grü-nen Hügel” verkörpert wie Deborah Polaski! Aber neben der Brünnhilde ist unzweifelhaft die “Isolde” jene Partie, mit der man sie heute identifiziert.
Deborah Polaski – Isolde
„Im Sommer 1857 faßte ich den Entschluß,
mich in der musikalischen Aufführung meines
Nibelungenwerkes durch die Vornahme einer
kürzeren Arbeit, welche mich wieder mit dem
Theater in Berührung setzen sollte, zu unterbrechen.
Tristan und Isolde ward noch in
diesem Jahre begonnen, die Vollendung aber
unter allerhand störenden Einflüssen bis in
den Sommer 1859 verzögert.“
(R. Wagner an F. Uhl 1865)
Eine „kürzere Arbeit“ sollte es sein, „einfach
und mit geringen Mitteln“ (wie es an anderer
Stelle heißt) aufzuführen. Richard Wagner
war wohl ein Theaterpraktiker von Jugend an,
ein Realist in der Beurteilung seiner Pläne war
er nie. Kein anderes seiner Werke stellt die
Opernhäuser und Ausführenden vor solch ungeheure
Schwierigkeiten, wie sein Summum
Opus über Eros-Thanatos. Ist für die Orchester
Wagners Tonsprache zwar nicht einfacher,
aber doch selbstverständlicher geworden, so
bleiben die physischen und geistigen Anforderungen
der Hauptpartien bis heute fast
„unmenschlich“ und nur absolute Ausnahmesänger
jeder Generation können sich mit den
gestellten Anforderungen messen. Seit den
bald 140 Jahren seit der Uraufführung sind so
die ganz wenigen Darsteller von Tristan und
Isolde wohl bekannt; so wenige waren es,
die wirklich in jeder Hinsicht Zeichen setzen
konnten, so aufsehen erregend ist die Leistung,
dass man die Wenigen in hohen Ehren
hält.

Die amerikanische Sopranistin Deborah
Polaski zählt zweifelsohne zu diesen Auserwählten.
In Wisconsin/USA geboren kam sie
unmittelbar nach ihrem Studium nach Europa
und debütierte in Gelsenkirchen als Senta in
Wagners Holländer – und trotz vieler Umwege
und Ausflüge – der Bayreuther Meister sollte
im Mittelpunkt ihres Wirkens bleiben.
Für heutige Begriffe und Zeitmaße folgte
eine langsame Karriere vor allem an deutschen
Bühnen: Freiburg, Hannover, Karlsruhe,
Darmstadt, Mannheim, Stuttgart oder Düsseldorf
hießen diese Stationen, bevor Deborah
Polaski nach Mitte der 80er Jahre auch in
München, Berlin und auch schon an der Mailänder
Scala in Erscheinung trat.
Der große internationale Durchbruch erfolgte
freilich 1988 in der Neuproduktion von
Wagners Ring in Bayreuth in der Interpretation
von Daniel Barenboim und Harry Kupfer.
Zusammen mit Siegfried Jerusalem, John
Tomlinson, Graham Clark, Günther von
Kannen u.v.a. bildete sie den Kern einer neuen
Generation von Wagner-Interpreten, die in
der Folge die großen Opernbühnen der Welt
beherrschen sollte.
Aber zuerst eine Generalpause: Unmittelbar
nach dem Bayreuth-Debüt im Herbst
1988 überraschte die Mitteilung, dass die
Künstlerin sich aus privaten Gründen von der
Opernbühne zurückgezogen hat – um dann ein
Jahr später, persönlich gestärkt und künstlerisch
gereift, zurück zu kehren und nun jenen
Weg an allen großen Bühnen und Festivals
der Welt zu machen, die den Namen Deborah
Polaski zu dem werden ließ, was er bis heute
ist: eine ideale Einheit von Darstellung und
Gesang, eine Künstlerin, die an Ehrlichkeit,
Ausstrahlung und Faszination bald Vorbild für
nachfolgende Generationen wurde und kraft
ihrer Persönlichkeit und Kunst neue Facetten
und unverwechselbare Interpretationen
den altbekannten Figuren abgewinnt, wie es
nur den ganz großen Interpreten der Operngeschichte
gelingt. Dies wird mit dem Namen
Deborah Polaski verbunden bleiben. Bereits
1991 kehrte sie auch nach Bayreuth zurück,
sang wieder im Barenboim/Kupfer-Ring die
Brünnhilde und verkörperte diese Rolle auch
in der folgenden Produktion von 1994 bis 1998
unter James Levine und Alfred Kirchner. Keine
Sängerin nach 1914 (und nur eine einzige
davor!) hat so oft die Brünnhilde am „Grünen
Hügel“ verkörpert wie Deborah Polaski.
Zum zweiten Markenzeichen der „Hochdramatischen“
wurde Richard Strauss’ Elektra.
Seit ihrem Debüt in dieser Rolle in Darmstadt
1983 sang sie die Atridentochter über 150 Mal
auf der ganzen Welt unter den größten Dirigenten
und bedeutendsten Regisseuren:
In Berlin, Paris, London, New York, Chicago,
Mailand, Florenz, Sydney, München, Leipzig,
Köln, Dresden, Wien, Salzburg – der Weg ist
sicher noch lange nicht zu Ende.
Zahlreiche andere Rollen des dramatischen
Fachs bestimmten die Karriere der großen
Sänger-Darstellerin:
Wagners Senta, Venus, Ortrud, Sieglinde
und Kundry ebenso wie R. Strauss´ Färberin,
Marschallin und Ariadne, Beethovens Fidelio,
Bergs Wozzeck-Marie und in jüngster Zeit
auch Berlioz Cassandre und Dido in den Trojanern
oder Janác¡eks Küsterin in Jenufa.
Aber neben der Brünnhilde und der Elektra
ist unzweifelhaft die Isolde jene Partie, mit der
man Deborah Polaski heute identifiziert.
1983 sang sie die Rolle zum ersten Mal in
Freiburg, dann in Amsterdam.
Es folgte eine längere Pause, bis sie für
die Neuproduktion 1995 an der Dresdener
Semperoper die Rolle neuerlich vornahm. Nun
folgten in rascher Folge die Osterfestspiele in
Salzburg unter Abbado, Florenz unter Mehta,
Tokyo neuerlich mit Abbado, Berlin unter Barenboim
und zuletzt Barcelona unter Bertrand
de Billy, dem Dirigenten der vorliegenden Aufnahme.
Die Isolde ist nicht nur die längste und anspruchsvollste
aller Sopran-Rollen, sie stellt
auch darstellerisch und interpretatorisch
Anforderungen an jede Sängerin, die es niemals
zuvor und kaum nachher je gegeben
hat. Wagners „Handlung“ wie er sein Werk
ironischer Weise betitelt hat, ließ sich weder
stimmlich noch darstellerisch mit den Mitteln
des damaligen Operntheaters beikommen.
Und bis heute gibt es kein „Rezept“ wie man
dieser ungewöhnlich langen, vielschichtigen
und unergründlichen Partie beikommen kann.
Naturgemäß gibt es daher nicht einen Weg
und die bedeutenden Interpretinnen dieser
Figur haben höchst unterschiedliche Deutungen
gefunden.
Deborah Polaskis Zugang erstaunte gleich
zweifach. Einerseits, obwohl über alle notwendigen
Mittel einer Hochdramatischen
gebietend, arbeitete sie die lyrischen und leisen
Stellen beispielhaft heraus und kann vor
allen durch ihre volle mittlere und untere Lage
die teilweise ungewohnt tiefen Stellen in die
Partie mühelos mit den hohen dramatischen
Ausbrüchen verbinden. Parallel dazu befreit
sie die Figur von übertriebener Hektik und
falschem Pathos; nie vergisst man bei ihr die
„Königstochter“ aus Irland. Stolz und Verletztheit
bleiben bei ihr, vor allem im ersten Akt,
allgegenwärtig. Ein weiters Markenzeichen
der Polaski ist seit jeher die Durchdringung
des Textes, was insbesondere im zweiten Akt
besonders auffällt, wenn es etwa im Gespräch
mit Tristan darum geht in welcher Welt das
„uns“ zu finden ist, wo Tristan „und“ Isolde
vereint sein werden – kurz wenn nach dem
ersten Überschwang der Begegnung ein fast
„philosophischer Diskurs“ beginnt, wie ihn
nur Richard Wagner in Musik setzen konnte.
Bei ihr erkennt man Isolde als gleichwertige
Partnerin Tristans, nicht als emotionale Stichwortgeberin
oder nur von wilden Emotionen
entfesselte Heroin. Der Diskurs zwischen den
Figuren und der Figuren mit sich selbst bildet
ja das eigentliche Zentrum des Dramas und
findet in Deborah Polaski eine ideale Interpretin.
Die vorliegenden Ausschnitte dieser Aufnahme
sind allerdings völlig auf Isolde konzentriert,
man könnte ironisch fast sagen „Isolde
ohne Tristan“, was aber in sich nicht stimmt,
da er in den Auseinandersetzungen mit ihrer
Vertrauten Brangäne und in den Monologen
des 3. Aktes allgegenwärtig ist. Neben den
großen Szenen der Isolde sind auch die drei
Vorspiele zu den Akten zu hören, die nicht nur
die Grundstimmung sondern auch symphonische
Reflexion der „Handlung“ darstellen.
Grundlage dieser Aufnahme, die im Großen
Sendesaal des Österreichischen Rundfunks
im Februar 2004 entstand, war die Zusammenarbeit
zischen Deborah Polaski und Bertrand
de Billy im Juni 2002 am Teatro Liceu in Barcelona
dessen Musikchef der Dirigent von der
Wiedereröffnung 1999 bis zum Sommer 2004
war. Die Isolde war Deborah Polaskis umjubeltes
Debüt im traditionsreichen Haus an den
Ramblas und auch die Brangäne dieser Aufnahme,
die Schweizerin Heidi Brunner, wirkte
in dieser Aufführungsserie mit.
Michael Lewin
Heidi Brunner – Brangäne
Heidi Brunner wurde in Luzern geboren
und studierte neben Gesang auch Orgel
und Dirigieren in Zürich, Luzern und Basel.
Sie debütierte mit der Titelrolle von Rossinis
La Cenerentola und wurde bald danach
von René Jacobs für Orontea in Basel und
L’incoronazione di Poppea in Innsbruck engagiert.
Nach verschiedenen Auftritten in Biel
führte sie der Weg ans Landestheater Dessau,
wo sie zwei Jahre lang Mitglied des Ensembles
war und besonders durch die Giovanna in
Donizettis Anna Bolena überregional auf sich
aufmerksam machte. Es folgten Cenerentola
und Werther in Inszenierungen von Christine
Mielitz an der Komischen Oper Berlin und
schließlich ihr Debüt an der Staatsoper Berlin,
zuerst als Roggiero in Rossinis Tancredi.

Erfolge feierte sie als Rosina in Ruth Berghaus’
Barbier-Inszenierung. Mit Beginn der
Direktion Klaus Bachlers kam Heidi Brunner
als Ensemblemitglied an die Wiener Volksoper,
wo sie als Sextus in Nicolas Briegers
Titus-Inszenierung unter der musikalischen
Leitung von Arnold Östmann und als Cenerentola
in Achim Freyers Produktion unter der
musikalischen Leitung von Gabriele Ferro ihr
Publikum eroberte. Neben dem Hänsel in Humperdincks
Hänsel und Gretel und dem Orlofsky
in der Fledermaus war sie auch als Elvira in
Don Giovanni und in der Neuproduktion von
Norma als Adalgisa zu erleben. Zur gleichen
Zeit debütierte sie als Rosina an der Wiener
Staatsoper, wo sie in der Folge Zerlina in Don
Giovanni, Idamante in Idomeneo und die Muse
in Hoffmanns Erzählungen gestaltete.
Bei den Wiener Festwochen sang sie 1998
in Achim Freyers Neuproduktion von L’Orfeo,
ein Jahr später beim Festival OsterKlang in
Massenets Maria Magdalena. Zuletzt war sie
in Wien beim KlangBogen-Festival 2003 in
Nicolas Briegers Idomeneo-Produktion unter
der musikalischen Leitung von Bertrand de
Billy als Idamante zu erleben, im Herbst sang
sie an der Volksoper in Schönbergs Erwartung.
In München trat sie ebenfalls in Freyers
Orfeo-Produktion am Prinzregententheater auf
und war als Siébel in der Neuproduktion des
Faust unter David Pountney und der musikalischen
Leitung von Simone Young zu hören.
Heidi Brunners Karriere begann sich in
den letzten Jahren von Mozart und Rossini
mehr ins dramatischere Fach zu bewegen.
Sie sang ihren ersten Komponisten in Ariadne
auf Naxos in Nancy unter Bertrand de Billy
und ihren ersten Octavian im Rosenkavalier
im Theater in Meiningen unter der musikalischen
Leitung von Kirill Petrenko. Eine weitere
wesentliche Wirkungsstätte wurde für Heidi
Brunner auch das Gran Teatro del Liceu in
Barcelona, wo sie seit ihrem Debüt in Mozarts
Titus große Erfolge feierte, sowohl mit ihrer
ersten Brangäne als auch an der Seite von
Edita Gruberova als Komponist in Ariadne auf
Naxos und zuletzt als Dorabella in Così fan
tutte.
Von Anfang an waren das Konzertpodium
und der Liedgesang ein wesentlicher Teil ihrer
Karriere.
Bertrand de Billy, Dirigent
Bertrand de Billy, neuer Chefdirigent
des RSO-Wien, führte sein Orchester
im Musikverein zu einem triumphalen
Erfolg. So übertitelte der einflussreiche
Wiener Musikkritiker Wilhelm Sinkovicz in der
Tageszeitung „Die Presse“ am 17. November
2002 seine Rezension, nach der Aufführung der
großen C-Dur Symphonie von Schubert durch
das RSO Wien unter seinem damals ganz
neuen Chefdirigenten. Weiter war zu lesen:

„Gewiss, der Applaus hatte wohl demonstrativen
Charakter. Doch die Aufführung von
Franz Schuberts großer C-Dur-Symphonie, an
der schon mancher berühmter Mann … in
ebendiesem Saal in Ehren gescheitert ist,
bewies zum einen, dass man mit Bertrand de
Billy einen der wirklich bedeutenden Maestri
der jüngeren Generation nach Wien geholt
hat. Und zum andern, zu welchen Höhen dieser
das Rundfunk-Orchester zu führen vermag.
Das Ensemble hat heute eine erstklassig
abgestimmte, virtuose Bläserriege zu bieten,
und einen im Falle der Primgeigen sogar
exquisit zu nennenden Streicherklang. Und de
Billy dirigiert Schubert nach allen Erkenntnissen
der jüngsten Musikforschung „gereinigt“,
also mit etlichen für das Wiener Ohr neuen
Akzenten und dynamischen Nuancierungen,
nimmt ihm aber nicht den wienerischen Ton,
sorgt im Andante sogar für eine wirklich
atemberaubende dramatische Entwicklung,
die ganz natürlich aus dem musikalischen
Fluss heraus entsteht.“
Fast gleichlautend die Kritiken der Neuen
Kronenzeitung „Bei Schuberts großer C-Dur-
Symphonie in einer Wiedergabe wie aus einem
Guss erwies sich de Billy dank Spannung und
Dramatik als führender Dirigent der jüngeren
Generation.“ und der Oberösterreichischen
Zeitungen einen Monat später beim Gastspiel
des RSO im Linzer Brucknerhaus. Mehr noch
als in seinem Einstandskonzert in Wien, einen
Monat davor, demonstrierten Orchester und
Chefdirigent den Paradigmenwechsel: das
20. Jahrhundert weiter im Mittelpunkt, aber
ansonsten keine Grenzen mehr. Die Überraschung
war offensichtlich gelungen. Die
vorliegende Aufnahme entstand im Dezember
2003 nach einem öffentlichen Konzert der
8. Symphonie Franz Schuberts im großen Sendesaal
des ORF.
Der Dirigent Bertrand de Billy wurde 1965
in Paris geboren, wurde am Conservatoire
National Superieur de Musique ausgebildet
und spielte dann in der Folge in verschiedenen
Orchestern seiner Heimatstadt Violine
und Bratsche. Beim Orchestre Colonne wurde
er Assistent von Pierre Dervaux und wechselte
sehr bald vollständig ans Dirigentenpult.
Bereits in dieser frühen Zeit erarbeitete sich
der junge Musiker ein Repertoire, das weit
über die Paradestücke der Orchesterliteratur
hinausging, und man erwartete sich von ihm
allgemein eine glänzende Karriere als symphonischer
Dirigent. Bereits an diesem Punkt
seiner Karriere überraschte de Billy. Ihm war
bewusst, dass das Konzertpodium nur ein
Teil des musikalischen Spektrums war, und er
wollte als junger Musiker die Erfahrungen und
Anforderungen der Opernbühne nicht missen;
so entschied er sich fast über Nacht, ein
Angebot aus Dessau anzunehmen, um dort als
Kapellmeister und bald auch stellvertretender
GMD seine Affinität zur Bühne zu entdecken.
Sehr rasch sprach sich seine Begabung
herum, und er erhielt erste Einladungen, vor
allem an spanische Opernhäuser; als er nach
zwei Jahren Dessau verließ, waren bereits
die großen Opernhäuser der Welt auf ihn aufmerksam
geworden. Er entschied sich, trotz
aller Angebote, noch einmal eine Kapellmeisterposition
anzunehmen, und zwar diesmal an
der Volksoper in Wien, wo er bereits 1994 mit
Bizets Perlenfischer debütiert hatte. Parallel
dazu aber entwickelte sich nun ausgerechnet
durch die Opernbühne eine rasche internationale
Karriere. Londons Covent Garden, die
Staatsopern in Berlin, Hamburg und München,
das Theatre de la Monnaie in Brüssel waren
sehr bald seine nächsten Stationen. Zwei Häuser
sollten aber entscheidend werden: zum
einen die Wiener Staatsoper und zum anderen
die Metropolitan Opera in New York. Placido
Domingo entdeckte den jungen Dirigenten
während einer Vorstellung von Hamlet an
der Wiener Volksoper und lud ihn spontan
für eine Produktion von Gounods Roméo et
Juliette an das von ihm geleitete Opernhaus in
Washington ein. Ebenso war Domingo später
Pate seines Debüts in Los Angeles, wo der
berühmte Tenor unter de Billys Leitung als
Don José in Carmen auf der Bühne stand; vor
allem aber war es Domingos Empfehlung, die
den Ausschlag für Bertrand de Billys Debüt
an der Metropolitan Opera gab, wiederum mit
Gounods Roméo et Juliette, wo er seither zu
den wichtigsten Gastdirigenten gehört.
Erst die Entwicklung seiner Karriere auf
der Opernbühne brachte ihm ein bisschen
den Stempel des „französischen“ Dirigenten
ein, und obwohl die Zukunft zeigen sollte, dass
seine musikalischen Fähigkeiten einem viel
breiteren Spektrum offen stehen, war er offensichtlich
für viele Häuser der lang gesuchte
Dirigent für dieses schwierige Repertoire.
So aufregend die Entwicklung der Karriere
verlief, so skeptisch war de Billy immer einem
Leben als reiner „Reisedirigent“ gegenüber,
und so akzeptierte er die Einladung, ab 1999
Chefdirigent des wieder aufgebauten Teatro
del Liceu in Barcelona zu werden. De Billy
setzte sich von vorneherein ein Limit von fünf
Jahren für diese Phase, in der er zum Ziel
hatte, die musikalische Abteilung des Hauses
völlig zu reorganisieren und den Stellenwert
des Orchesters in diesem traditionell Sänger-
betonten Haus neu zu definieren. Nach
der glanzvollen Premiere von Puccinis Turandot
dirigierte er zwar durchaus Werke des
bekannten Repertoires wie Donizettis Lucia
di Lammermoor, Verdis Aida oder Puccinis
Bohème und nur ein einziges französisches
Werk, nämlich Thomas’ Hamlet, den Schwerpunkt
aber bildeten in seinem „Fünfjahresplan“
die Werke von Mozart und Richard
Wagner. Mozart, so das eiserne Credo des
anerkannten Orchestererziehers Bertrand de
Billy, ist die Grundlage jeder Orchesterkultur,
und Richard Wagner jene Anforderung,
die das Orchester braucht, um eine ständige
Weiterentwicklung auch aus eigenem Antrieb
zu gewährleisten. Mit den Opern von Mozart
und Wagner hatte de Billy auch seine größten
Erfolge in Spanien; neben seiner Affinität zur
französischen Musik wurde Bertrand de Billy
bald auch als Mozartdirigent zum internationalen
Markenzeichen.
Bertrand de Billys Verbindung zur Oper
war nun international eine so selbstverständliche
und erfolgreiche, dass die Nachricht
für Überraschung sorgte, er würde im Herbst
2002 Chefdirigent und künstlerischer Leiter
des RSO Wien werden. Man konnte vereinzelt
Fragen hören, ob er denn genügend symphonisches
Repertoire, ob er denn Erfahrung
mit der zeitgenössischen Musik etc. hätte,
um einen so verantwortungsvollen Posten
zu übernehmen. Zu diesem Zeitpunkt war
bereits in Vergessenheit geraten, dass de
Billys musikalische Grundlage ursprünglich in
der symphonischen Musik lag und die Aufführung
von Zeitgenossen für ihn genauso eine
Selbstverständlichkeit war und ist.
Als er im Oktober 2002 zum ersten Mal als
Chefdirigent an die Spitze seines Orchesters
im Wiener Musikverein trat, war die
Programmreihenfolge gleichsam die Grundlage
für seine weitere Arbeit. Mozarts Linzer
Symphonie, eine Uraufführung des jungen
österreichischen Komponisten Johannes
Maria Staud und Hector Berlioz’ Symphonie
fantastique standen auf dem Programm, und
de Billy machte von Anfang an klar, dass
er nicht bereit sei, das Orchester – wie es
manche aus dem Wiener Kulturestablishment
gerne gesehen hätten – im Ghetto der zeitgenössischen
Musik und klassischen Moderne
zu lassen.
„Ein Orchester, das nicht eine ordentliche
Mozart-Symphonie spielen kann, ist auch
nicht gut genug für eine Uraufführung“ – das
ist einer der Leitsätze de Billys, und in der
Folge bestimmten Werke von Mozart, Beethoven,
Schubert oder Mahler ganz selbstverständlich
das Bild des Orchesters, ohne dass
die Pflege der klassischen Moderne und das
Interesse an der musikalischen Gegenwart im
geringsten darunter leiden sollten. Heute wird
die Flexibilität dieses Klangkörpers ebenso
bewundert wie die interessanten Konzertprogramme,
und eine entscheidende Farbe bilden
tatsächlich die Werke der französischen
Orchesterliteratur.
Radio-Symphonieorchester Wien
(RSO Wien)
Das Radio-Symphonieorchester Wien
ging 1969 aus dem 1933 gegründeten
Großen Orchester des Österreichischen
Rundfunks hervor und profilierte sich
seitdem als eines der vielseitigsten Orchester
in Österreich. Seit der Gründung des RSO liegt
der Schwerpunkt des Orchesters vor allem
auf der Pflege der zeitgenössischen Musik.
Unter seinen Chefdirigenten Milan Horvat,
Leif Segerstam, Lothar Zagrosek, Pinchas
Steinberg und Dennis Russell Davies erweiterte
das RSO Wien kontinuierlich sein Repertoire

von der Vorklassik bis zur Avantgarde.
Seit dem 1. September 2002 ist Bertrand de
Billy Chefdirigent des RSO Wien.
Neben den beiden Konzertreihen im Musikverein
und dem Konzerthaus in Wien tritt
das Orchester regelmäßig bei den großen
Festivals auf, wobei eine besonders enge
Bindung an die Salzburger Festspiele und zum
Klangbogen Wien besteht. Die ausgedehnte
Tourneetätigkeit des RSO Wien führte das
Orchester u. a. nach den USA, Südamerika
und Asien sowie in verschiedene europäische
Länder. Zu den Gästen beim RSO zählten bislang
so bekannte Künstler wie u. a. Leonard
Bernstein, Ernest Bour, Andrew Davis, Christoph
von Dohnanyi, Christoph Eschenbach,
Michael Gielen, Hans Werner Henze, Ernst
Krenek, Bruno Maderna, Krzystof Penderecki,
Wolfgang Sawallisch, Giuseppe Sinopoli,
Hans Swarowsky und Jeffrey Tate.
Die umfangreiche Aufnahmetätigkeit des
RSO Wien für den ORF und für CD umfasst
Werke aller Genres, darunter viele Ersteinspielungen
u. a. von Werken Schönbergs,
Hauers, Wellesz’, von Einems, Cerhas und
anderen Vertretern der österreichischen
Moderne.
In jüngster Zeit legte das Orchester Produktionen
von Werken Luciano Berios, Philipp
Glass’, Gija Kantschelis und Valentin Silvestrovs
(unter Dennis Russell Davies) und
vieldiskutierte Einspielungen von Le Nozze di
Figaro, Così fan tutte, Don Giovanni und Eugen
d’Alberts Tiefland (unter Bertrand de Billy)
vor.