Michael Gläser - Dirigent / conductor
Theresa Blank - Alt /alto
Anton Rosner - Tenor / tenor
Larissa Kowal-Wolk
„Die Stunde der glücklichsten
Befriedigung“
Zu Sergej Rachmaninows ganznächtlicher
Vigil Das große Abend- und Morgenlob
für Soli und gemischten Chor a cappella,
op. 37
Entstehungszeit
Januar und Februar 1915 in Moskau
Widmung: dem Gedächtnis des um die
Kirchenmusikpflege hochverdienten Stepan
Smolenski (1848–1909)
Uraufführung
10. März 1915 (allerdings ohne die Nummern
1, 13 und 14) in Moskau mit dem Moskauer
Synodalchor unter der Leitung von
Nikolaj Danilin im Rahmen eines Wohltätigkeitskonzerts
zugunsten der russischen
Kriegsopfer
Lebensdaten des Komponisten
20. März (1. April) 1873 auf dem Familiengut
Oneg/Gouvernement Nowgorod – 28. März
1943 in Beverly Hills/Kalifornien
„Rachmaninow, der Verfasser von Werken,
die in ihren emotionalen und geistigen Wirkungen
durch und durch bourgeois sind,
der Komponist von Liturgien, Messen und
den Glocken [einem Werk für Soli, Chor
und Orchester, in dem das Glockengeläut
eine wichtige Rolle spielt], war und ist ein
Diener und ein Werkzeug der schlimmsten
Feinde des Proletariats, der Welt-Bourgeoisie
und des Welt-Kapitalismus.“ – Dieses
Zitat aus einer offiziellen Resolution
der frühen 1930er Jahre dokumentiert die
Feindseligkeit, die dem Komponisten Rachmaninow
im nachrevolutionären Russland
entgegengebracht wurde und die ihn dazu
veranlasst hatte, seine Heimat wohlweislich
nach Ausbruch der Revolution zu verlassen.
Zuvor in Russland und später im
Westen wurde er in erster Linie als Schöpfer
episch-erzählender Symphonien, spätromantischer
Klaviermusik und liedhafter
Romanzen geschätzt; zudem hatte er auch
einige herausragende geistliche Werke
geschaffen. Sie vor allem waren den neuen
atheistischen Machthabern ein Dorn im
Auge, die nun dafür sorgten, dass Aufführungen
seiner Kompositionen in Russland
für lange Zeit verboten wurden.
Aber gerade eine geistliche Komposition,
sein Opus 37, zählte Rachmaninow selbst zu
seinen besten Werken, fügte es sich einerseits
so nahtlos und selbstverständlich in das
strenge Reglement des russisch-orthodoxen
Gottesdienstes und vermittelte darüber hinaus
eine so innige, mit Gott Zwiesprache
haltende, aufrichtige Gebetshaltung, wie sie
für die Gläubigen des byzantinischen Ritus
charakteristisch ist.
Zu den prägenden Kindheitserinnerungen
gehören für alle Russen – so auch für
Rachmaninow – die langen Gottesdienste mit
ihren machtvollen Chorgesängen. Tatsächlich
ist der ostkirchliche Ritus ohne Gesang
undenkbar, da abgesehen von der Predigt
alles gesungen wird. Im Zuge der Christianisierung
ab dem Jahre 988 entwickelten
sich die russischen Kirchengesänge unter
Einbeziehung folkloristischer Elemente als
rein vokale Form, da nach ostkirchlicher
Anschauung ein Musikinstrument nicht zu
beten oder zu lobpreisen vermag und zudem
durch seine Verwendung in der Tanzmusik
eine Profanierung des kirchlichen Raumes
bewirken würde. Obwohl im Laufe der Jahrhunderte
der anfangs streng einstimmige
Männergesang erweitert wurde, die
Mehrstimmigkeit allmählich Einzug hielt, weibliche
Stimmen im kirchlichen Chorgesang zugelassen
wurden und sich schließlich sogar westliche
Einflüsse bemerkbar machten, blieb das
Instrumentenverbot unangetastet.
Dem westlichen Hörer, der mit dem von
Mystik erfüllten byzantinischen Ritus nicht
vertraut ist, offenbaren sich die russischen
Kirchengesänge wie der Eintritt in eine andere
Welt: fremd, faszinierend und geheimnisvoll.
Das liegt zum einen an den bedeutungsschweren
Texten in altkirchenslawischer
Sprache (die sich aus dem Altbulgarischen
entwickelt hat), zum anderen an dem auf acht
Kirchentönen basierenden byzantinischen
Tonsystem, das ganz anderen harmonischen
Gesetzen folgt als das in Westeuropa geläufige
Dur-Moll-System. Das, was das Wesen
und den Zauber der russischen Volkslieder
ausmacht, ihr charakteristischer Melodieverlauf,
die darin enthaltene Melancholie und
Tiefgründigkeit, findet sich ebenso in den russischen
Kirchengesängen, sind doch beide
Formen, folkloristische wie sakrale Gesangskunst,
parallel nebeneinander entstanden und
haben sich gegenseitig beeinflusst.
Im Sommer 1910 komponierte Rachmaninow
eine Liturgie des Heiligen Chrysostomus,
die in Fachkreisen oft nur als Vorstufe
zu seinem eigentlichen geistlichen Meisterwerk,
dem Opus 37, angesehen wird. Korrekt
übersetzt trägt das 1915 komponierte
Werk Vsenos¡c¡noe bde¡nie die Bezeichnung
„Ganznächtliches Wachen“ – eine
geläufige Gottesdienstform, die sich in das
„Große Abend- und Morgenlob“ gliedert;
– „ganznächtlich“, weil sich der Gottesdienst,
der als Vesper am Abend begann,
ursprünglich die ganze Nacht hinzog und
nahtlos in das Morgenlob überging. In einigen
Klöstern wird dies auch heute noch am
Vorabend hoher Festtage praktiziert.
Rachmaninow vertonte die 15 feststehenden
Teile der Liturgie: Diese textlich
unabänderlichen Nummern werden innerhalb
eines Gottesdienstes durch Gebete,
Lesungen, Litaneien und Troparien, die
sich auf den jeweiligen Festtag beziehen,
ergänzt. Wahrend der Abendgottesdienst
dem Lobpreis des Schöpfers dient, auf die
gnadenreiche Ankunft Christi verweist und
den Gläubigen mit Erlöschen des Tageslichts
gewissermaßen zur Ruhe geleitet,
schafft der Morgengottesdienst mit seiner
Heilsbotschaft des Neuen Testaments hoffnungsvolle
Freude.
Jede Nummer begleitet traditionell eine
ganz konkrete liturgische Handlung: Mit
der Nummer 1 des Chores, quasi der Einladung
zum Gottesdienst (Kommet, lasset
uns anbeten), wird der Vorhang der Heiligen
Pforte aufgezogen, die Ikonostase
öffnet sich in der Mitte und der Priester
schwingt schweigend das Weihrauchfass.
Während dieser Beginn von Rachmaninow
„frei“ vertont wurde, er die Melodie also im
Stil des althergebrachten Gesanges selbst
komponierte, setzt in der zweiten Nummer
das Alt-Solo Lobe den Herrn, meine Seele
mit der von alters her bekannten, unendlich
ergreifenden griechischen Weise ein und
trägt eine verkürzte Form des Schöpfungspsalms
(Psalm 103) vor. Es ist bereits ein
erster Höhepunkt der Vesper, wird dem
Gläubigen doch die ganze Pracht und Herrlichkeit
der ihn umgebenden Natur vor
Augen geführt. Rachmaninow überlässt die
Führung der Solostimme, die vom Chor
mit lang ausgehaltenen Klängen lediglich
gestützt wird. Dies ist jedoch nur bedingt
die Entscheidung des Komponisten, denn
der vorgeschriebene liturgische Ablauf legt
sogar die solistische oder chorische Vortragsweise
fest und zeigt das strenge Reglement
der byzantinischen Gottesdienstordnung.
Fünf der 15 Nummern (1, 6, 7, 10 und 11)
sind von Rachmaninow mit eigenen Melodien
versehen, wohingegen die übrigen
Teile auf alte einstimmige griechische und
russische Kirchengesänge zurückgehen.
Meisterhaft verstand es Rachmaninow, alle
15 Teile kompositorisch zu einer Einheit zu
verschmelzen, ohne Brüche entstehen zu
lassen.
Nach der Seligpreisung (Nr. 3) verweist
der Abendlichts-Hymnus (Nr. 4) auf den zur
Neige gehenden Tag. Nach Kiewer Singweise
gesetzt, gehört er zu den ältesten
Melodien des orthodoxen Ritus und vermittelt
ein geradezu mystisches Klangerlebnis,
zumal es zum Zeitpunkt des Erklingens im
Kirchenraum bereits dämmrig geworden
ist. Der Hymnus bewegt sich im Pianissimo,
stufenweise pendelnd, in langen Notenwerten
und versetzt den Zuhörer in einen
tranceartigen Zustand.
Mit dem Lobgesang des Simeon (Nr.
5), Herr, nun lässest Du in Frieden fahren
dahin, neigt sich die Vesper allmählich
dem Ende zu. Dieses orthodoxe Pendant
zum lateinischen „Nunc dimittis“ hatte sich
Rachmaninow für sein eigenes Begräbnis
gewünscht, was letztlich aber nicht
zustande kam, da die Noten fehlten. Doch
ist sein Wunsch ein Zeichen dafür, dass
er mit diesem Satz sehr zufrieden war.
Allerdings stellte gerade diese Nummer
den Chorleiter der Uraufführung vor ein
größeres Problem, wie Rachmaninow
selbst erzählte: „Gegen Ende haben die
Bässe eine Partie, eine Pianissimo-Tonleiter,
die ganz langsam bis zum B in der
Kontraoktave absteigt. Als ich diese Partie
gespielt hatte, schüttelte Danilin [der Dirigent
der Uraufführung] den Kopf und sagte:
,Um Himmels willen, wo sollen wir solche
Bässe hernehmen? Die sind so rar wie der
Spargel zur Weihnachtszeit!‘ Er fand sie
aber doch. Ich war mit den Stimmen meiner
Landsleute vertraut und wusste genau, was
man russischen Bässen zumuten darf!“
Nach dem Ave Maria (Nr. 6), mit dem der
Gottesmutter gedacht wird, schließt die
Vesper – und geht in der folgenden Nummer
mit dem prachtvollen, sich klanglich
entfaltenden Gloria in das Morgenlob über.
Die folgenden zwei Nummern beinhalten
eine ausgedehnte Anbetung Gottes, die in
Alliluija-Rufen gipfelt. Mehr und mehr tritt
das Mysterium der Auferstehung in den
Vordergrund. In Gelobet seist Du, o Herr
mein Gott! (Nr. 9) wird der ganze Auferstehungstag
anschaulich geschildert; musikalisch
belebt sich der Chorsatz durch wechselnde
Kombinationen der häufig zwei- und
dreifach unterteilten Stimmgruppen sowie
der solistischen Partien und vermittelt
den Eindruck von rhythmisch selbständig
agierenden Gruppen. Nachdrücklich und
bedeutungsvoll wird die eigentliche Heilsbotschaft
Auferstanden ist Christus (Nr. 10)
einstimmig vom Männerchor vorgetragen.
Liturgisch ist das der zentrale Moment, in
dem der Priester das Neue Testament in
die Mitte des Kirchenraumes trägt, damit
es gleichsam als Antlitz Christi wie eine
Ikone von den Gläubigen verehrt werden
kann. Nach dem Magnificat (Nr. 11) bricht
sich nochmals in zwei Troparien die Freude
über die Auferstehung Bahn, bevor wiederum
der Gottesmutter für die Geburt des
Heilands gedankt wird.
Der Kritiker Alexander Ossowski äußerte
sich zu Rachmaninows geistlichen Werken:
„Man muss nicht gläubig sein, nicht die
Dogmen und Rituale der orthodoxen Kirche
kennen, um das Kunstvolle, die
Ausdrucksfülle und die Poesie dieser Musik zu spüren.“
Ist man aber eingeweiht in die Welt
des byzantinischen Glaubens, so empfindet
man, wie Rachmaninow selbst anlässlich
der Uraufführung über sein Werk befand,
die ganznächtliche Vigil als „Stunde der
glücklichsten Befriedigung“.