A-cappella-Formation aus ehemaligen Regensburger Domspatzen plus eine Sopranistin, beim „Tampere-Musikfestival“ in Finnland mit dem „Grand Prix für Vokalmusik“ ausgezeichnet und 1. Preis des „Deutschen Musikwettbewerbs“, hat mit der Konzertreihe „The Hilliard Ensemble meets Singer Pur“ großes Aufsehen erregt! Auf dieser CD, unterstützt durch das Hilliard Ensemble, kommen zeitgenössische Kompositionen zur Uraufführung.
Die Komponisten
Wolfgang Rihm wurde 1952 in Karlsruhe
geboren und blieb bis heute in seiner
Heimatstadt. Er studierte Klavier und Komposition
bei Eugen Werner Velte an der dortigen
Musikhochschule, wo er selbst seit 1973 unterrichtet
und seit 1985 ein Professur innehat.
Rihm gilt als einer der bedeutendsten Komponisten
unserer Tage. Sein Opus besteht inzwischen
aus über einhundertfünfzig Werken,
davon viele für Musiktheater, eine große Anzahl
Orchesterstücke sowie Vokal-und Kammermusik.
2003 wurde er mit dem internationalen
Ernst-von-Siemens-Musikpreis geehrt.
Auf die Frage, was Wolfgang Rihm mit seiner
Musik wolle, antwortete er einmal: „Bewegen
und bewegt sein.“
Ivan Moody, 1964 in London geboren, studierte
dort bei Brian Dennis sowie bei Sir
John Tavener. Die Liturgie der orthodoxen Kirche
hat starken Einfluss auf sein Schaffen. Ein
großer Anteil seiner Kompositionen beschäftigen
sich mit liturgischer Thematik. Er erhielt
zahlreiche Aufträge von international bekannten
Ensembles. Außerdem hat Ivan Moody mit
musikwissenschaftlichen Beiträgen an den
neuesten Editionen von internationalen Musiklexika
mitgewirkt.
Salvatore Sciarrino, 1947 in Palermo geboren,
beschäftigte sich bereits als Kind mit
den bildenden Künsten. Er begann als Zwölfjähriger
autodidaktisch mit dem Komponieren,
nahm dann Unterricht bei Antonio Titone und
später bei Turi Belfiore. Seine Werke wurden
seitdem mit zahlreichen Auszeichnungen
geehrt. Er unterrichtete am Konservatorium
in Mailand und Perugia, wo er zur Zeit lebt.
Heute ist er Dozent am Konservatorium in
Florenz. Sciarrinos Musik stand schon immer
für neues Klangmaterial, aber auch das Verhältnis
zwischen Klang und Schweigen hat für
ihn an Bedeutung zugenommen, so dass seine
Musik eine besondere Transparenz bekam.
Seine äußerst konzentrierte facettenreiche
musikalische Ausdrucksweise spiegelt das
momentane Zeitgefühl wieder.
Die Amerikanerin
Joanne Metcalf (*1958)
studierte unter anderem in den Niederlanden
bei Louis Andriessen, der einer der
namhaftesten und erfolgreichsten Schüler Luciano
Berios ist. Heute ist sie Professorin am
Musikkonservatorium der Lawrence-University
in Appleton/Wisconsin. Zahlreiche Künstler
aus Europa und den USA vergaben Aufträge
an die Komponistin. 1994 gewann sie den
„Hilliard Composition Prize“ für ihr Chorwerk
Music for the Star of the Sea. Für das Hilliard-
Ensemble und Singer Pur komponierte sie
1998 Il nome del bel fior nach einem Text aus
Dantes „Paradiso“. (
www.bel-fior.org)
Zu dieser Einspielung
Die zeitgenössische Musik hat im Repertoire
von Singer Pur seit der Gründung der Gruppe
eine bedeutende Rolle gespielt. Nachdem in den
vergangenen Jahren immer mehr Komponisten
für den vokalen Klangkörper unseres Ensembles
schreiben wollten, haben wir uns entschlossen,
diesen neu entstandenen Stücken eine eigene
Aufnahme zu widmen. Die Werke, die auf der
hier vorliegenden Einspielung zu hören sind,
entstanden ohne Ausnahme als Auftragskompositionen
für Singer Pur. Anlässlich der Gestaltung
der österlichen Karwoche 2001 an der römischen
„Basilica dei SS. XII Apostoli“ und mit großzügiger
Unterstützung der Ernst-von-Siemens-
Musikstiftung (Siemens Arts Program) haben
Wolfgang Rihm und Salvatore Sciarrino ihre hier
dokumentierten Passionsmotetten geschrieben.
Mit Ivan Moody ist die Gruppe seit 1994 freundschaftlich
verbunden. Die Amerikanerin Joanne
Metcalf hat mit ihrem großen Zyklus Il nome del
bel fior unserer langen Zusammenarbeit mit dem
britischen Hilliard Ensemble ein musikalisches
Denkmal gesetzt. Allen Komponisten, die für uns
geschrieben haben (und es vielleicht noch tun
werden), möchten wir an dieser Stelle herzlich
danken.
„La circulata melodia“ – das Bild der zirkelförmigen,
in sich kreisenden Weise, das Dante
in seinem Epos „Paradiso“ aufgreift, lässt sich
nicht nur im musikalischen Satz von Joanne
Metcalfs Vertonung ausmachen. Auch die
anderen hier dokumentierten Kompositionen
weisen alte, immer wiederkehrende Melodie-
floskeln und repetierende Momente auf. Die
Darstellung auf unserem Coverbild zeigt den
„Ouroboros“, ein uraltes Symbol vieler Kulturen
der Welt (einschließlich der christlichen). Die
sich in den Schwanz beißende Schlange steht
für Ganzheit, Sterben und Werden, Leben und
Tod, letztlich auch für die Überwindung des Todes.
(kw)
Wolfgang Rihm
Glanzlose Pracht
Passionsmotetten (I–IV)
Lebenslange Sehnsucht nach einer primären
Klangsetzung rettet sich durch alle Verkleidungsspiele
hindurch. Von eingewachsenen
Splittern verschieden alter Masken gezeichnet,
erscheint ein großes weiches Antlitz,
großer Träume fähig und sehr klug. Immer
war seine Ohrenbeute der verletzte Klang, das
missgestimmte Instrument: auch die vox humana
krümmt sich in diesen Gedanken hinein.
Schweigen. Dann ein Flüstern – in flüchtigen
Sekunden die Imagination einer Ölberg-Szenerie.
Versammlung leiser Stimmen, die ein Echo
Christi buchstabieren. Aus zerschlissenen
Akkorden wird atmende, zitternde Bewegung.
Luft-Architektur wölbt sich vom „sustinete
hic“ – „bleibt hier!“ zum kunstvoll-unreinen
Spitzenton des „turbam quae circumdabit me“
– „lärmende Menge, die mich umringt“. Das
Ausgeliefertsein sucht seinen Sinn – mit verzweifeltem
Spagat weitauseinanderliegender
Harmonien – im „vadam immolari“. Und Abschiedsruhe
spricht aus dem nächsten Klang:
„pro vobis“ – für euch geschehe es. Im endlichen
Verblassen und Wegsinken von c-moll
nach h-moll wird aus dem Opfergang der Rückzug
in ein scheues Rätsel.
Und siehe, wir erblickten ihn – „Ecce vidimus
eum“. Glanzlos beginnt wieder, was zu
ungeheurem Aufschwung drängt. „Peccata
nostra portavit“: reine Quarten und Quinten der
Sopranlinie verkünden Trost und Freude. Darunter
verbeißen sich die Terzen fortwährend
ineinander, formen eine rauhkehlige, in ihren
Wunden dick anschwellende Musik.
Unvermittelt werden eine Episode später
Zeit und Erinnerung außer Kraft gesetzt – Silben
und Pausen reihen sich quasi senza tempo.
Durch einen schmalen Spalt fällt Licht in die
Kammer des Vergessens: das Ohr kombiniert
Stoffreste von glitzerndem Prunk, in Fetzen
gerissen und matt geworden im Staub. „Velum
templi…“: welcher Vorhang, und welches
Tempels? – Erst im rhythmischen Aufbruch aus
der Tiefe erwacht neu das Gedenken an die
Geschichte, in der wir uns befinden, an Unruhe
der Erde, auferstandene Menschen und die Demut
eines neben Jesus gekreuzigten Räubers,
dessen schwer hervorgestoßenes Wort hier im
dunklen Quartett ohne Oberstimmen erklingt.
Die Vision vergeht – nur der fragende Überrest
eines Dominantseptakkords hängt in die Stille
hinein.
Doppelchörig hebt nun die vierte Motette
an. „Tenebrae factae sunt“ – „Finsternis ward“:
hohe Stimmen rufen es aus, und der Widerhall
kommt aus dem Schatten. Fern, sehr fern klingt
die Klage der Gottverlassenheit. Gegen die
Erwartung der vox magna setzt der Komponist
eine leise, unisone und von langen Pausen des
Schweigens durchschnittene Wellenbewegung,
aus der ein Tenorsolo fliehend emportaucht.
Karger und dissonanter als selbst im
Auftritt des Räubers, gestaltet sich die letzte
Wiederholung der Frage: „ut quid me dereliquisti?“
noch einmal als Quartettsatz – ehe
die Klangrede in erregtes Stocken gerät. Die
Sehnsucht nach Gott konnte in beinah tonlose
Entrücktheit übersetzt werden; doch vor dem
Schrei nach dem Vater endet die inszenierte
Distanz. Planende Hand schreckt, um der Drastik
der Darstellung willen, vor der Zumutung
vokaler Extremlagen nicht zurück. Fortissimo
bricht das letzte Gebet hervor und wird vom
Wind hinweggetragen: „In deine Hände befehle
ich meinen Geist“ – „spiritum meum … meum
… meum…“
Michael Herrschel
Salvatore Sciarrino
Responsorio delle tenebre (2001)
(a sei voci)
Responsorium der Finsternis; 2001; sechsstimmig
Unsere gesamte Kultur gründet auf verschiedenen
Motiven des Passionsrituals.
Das Wissen jenseits des Schmerzes betrifft
uns alle: es offenbart und verhüllt sich in einem
antiken Bildersturm. Hierbei handelt es sich
um starke und extreme Bilder, die in der Lage
sind, menschliche Begebenheiten wiederzuspiegeln.
Aus diesem Grunde muss ich meine Enttäuschung
gestehen, als mir angeboten wurde, die
Musik für den 53. Psalm zu komponieren: im Vergleich
zu den anderen wirkt dieser recht „abgeschliffen“
und allgemein. Trotzdem habe ich die
Herausforderung akzepiert und mir vorgenommen,
die Musik zu entblößen und sie somit zu
einer noch größeren Wirksamkeit zu zwingen.
Ich habe mir eine wechselseitige Responsorium-
Folge vorgestellt, d.h. Stimmengruppen,
die sich gegenseitig antworten sollten. Die Gegenüberstellung
zwischen dem modernen und
gregorianischen Gesang bedeutet auch eine
Wiedervereinigung mit der Responsorium-Tradition,
dessen Anwesenheit über mehrere Epochen
hinweg einen bedeutenden Unterschied
im Stil der Antworten hervorgerufen hat.
Andererseits weist die Unstetigkeit der verschiedenen
Ausdrucksformen, die ich in meiner
langjährigen Arbeit verfeinert habe, eine Geistesverwandtschaft
zur Sensibilität der gegenwärtigen
Welt auf.
Der „Zellkern“ der gregorianischen Strophen
hallt also im gegenwärtigen geistigen Raum wieder,
und die neue Strophe verkörpert und verbreitet
sich wie ein Echo, das aus weither kommenden,
früheren Jahrhunderten entstammt.
Als die Komposition beendet war, offenbarte
mir der Text seine formale Vollkommenheit: Parallelität
und Symmetrien, eine unregelmäßige
Versanzahl, ein anfänglicher Sechser-Bogen,
in dem der dritte Vers die Rolle eines langen
Bogenschlusses annimmt. Wichtig war es mir,
dem Wort – Stimme für Stimme – eine gewisse
Logik zuzuweisen, auch wenn es in der musikalischen
Artikulation immer wieder zersplittert
wurde. Mir ist bekannt, dass der 53. Psalm von
einigen Gelehrten als eine verfeinerte Stilistikübung
betrachtet wird. Nun verstehe ich auch
die Gründe für meine anfängliche Ratlosigkeit,
denn Vollkommenheit grenzt an Kälte.
Bewusst habe ich aus der Vulgata geschöpft,
sowohl weil ich die lateinische Sprache des
Sankt Hieronymus liebe, als auch um mich in
einem Programm einzugliedern, welches aus
historischen Kompositionen besteht.
Mit Ausnahme des abschließenden Verses
werden die Verse in Dreiergruppen wiederholt,
um ihre charakteristische Kreisförmigkeit mit
der binären Wechselseitigkeit des Responsoriums
zu verflechten. Auf diese Weise gestattet
die Verstärkung eine Offenbarung der Stetigkeit
durch die Unstetigkeit. Das Schema weist folgende
Struktur auf:
I III II IV VI V VII
2 1 3 5 4 6 7
Ich bin Sizilianer auf dem Festland und fühle
ich mich als Außenseiterfigur im Gegensatz zu
der charakteristischen Orthodoxie der heutigen
Komponisten.
Meine Berufung ist zweifach: einerseits
weise ich den Mut auf, persönliche Lösungen
anzubieten, andererseits empfinde ich einen
gewissen Stolz gegenüber einer Tradition, die
durch und in uns wiederleben und sich somit
verwandeln kann.
Ich bin vorwiegend für meine instrumentalen
Inventionen bekannt, habe aber auch einen
persönlichen Vokalstil mit einem charakteristischen
Mittelmeer-Akzent geformt: ein unabdingbares
Instrument für die Bezauberung des
Melodramas.
Ich habe mich allen Musikstilen angenähert
und wahrscheinlich neue erahnt, mit einem
deutlichen Bewusstsein für das zeitliche Phänomen,
welches jedes neue Musikstück von
mir prägt.
Ich lausche der Realität mit einem Insektenund
einem Giganten-Ohr und versuche, diese
innerhalb einer Wind- und Gesteins-Wolke wiederzugeben.
Es handelt sich um Hörerlebnisse,
die adäquaterweise als ökologisch beschrieben
werden könnten.
Wenn wir uns dem Unnahbaren nähern, der
vollkommenen Stille, entdecken wir unseren
eigenen Atem. Somit eröffnet sich ein stetiger
Hoffnungsschimmer in der offiziellen Kultur.
Meine Sprache entwächst also aus der
naturalistischen Unmittelbarkeit und aus einer
globalen Wahrnehmung: sobald die Musik anfängt,
eröffnet sich eine Pforte – und wir treten
ein.
Salvatore Sciarrino
(Übersetzung aus dem Italienischen:
Isabella Colliva)
Ivan Moody
Lamentation of the Virgin
– Klage der Jungfrau
Lamentation of the Virgin wurde 1995 für Singer
Pur komponiert, die meine Musik bereits
hervorragend interpretiert hatten. Als sie
mich nach einem neuen Stück fragten, schrieb
ich zwei: ein weltliches (Le Renard et le Buste,
nach einer Fabel von La Fontaine) und ein
kirchliches, Lamentation of the Virgin.
Dieses Werk kombiniert einen Text aus der
berühmten Benediktbeurer Handschrift (der
Carmina Burana-Sammlung), einen tief beeindruckenden
Schmerzensschrei der Mutter
Gottes, die ihren Sohn gekreuzigt sieht, mit einem
oft gebrauchten Text aus der Liturgie der
Orthodoxen Kirche, dem Trisagion: „Heiliger
Gott, heiliger Starker, heiliger Unsterblicher,
erbarme dich unser“. Das Gedicht aus der
Benediktbeurer Handschrift steht in mundartlichem
mittelalterlichem Deutsch, das Trisagion
hingegen habe ich in drei Sprachen dazwischengesetzt:
in modernem Deutsch sowie in
Griechisch und Slawisch, zwei der Hauptsprachen
der Orthodoxen Kirche. Die Verwendung
dieser drei Sprachen symbolisiert die Dreieinigkeit
und steht zusätzlich für die Allgemeingültigkeit
des Trisagion-Gebetes.
Lamentation of the Virgin ist den Sängern
von Singer Pur gewidmet.
Ivan Moody
Joanne Metcalf (b. 1958)
Il nome del bel fior (1998)
Der Canto XXIII aus Dantes „Paradiso“, 1321
fertiggestellt, bezieht sich auf die Ankunft
Christi, symbolisiert durch die aufgehende
Sonne, die alle Sterne – die Seelen der Seligen
– im achten Kreis des Himmels erleuchtet.
Unter dem Einfluss dieser göttlichen Strahlen
erblühen die Sterne zu einem herrlichen Garten,
und Beatrice lenkt den Blick des Pilgers
auf die „Rose, in der das göttliche Wort Fleisch
ward“ – die Jungfrau Maria, die mystische
Rose der Liturgie. Die Stimme des Dichters
preist den „Namen der schönen Blume“, und
es ist dieser Name, Maria, um den Il nome del
bel fior kreist, wie Dantes eigener „kreisender,
aufsteigender Gesang“.
Il nome del bel fior besteht aus drei Hauptabschnitten,
in denen der Dichter seine Vision
der Jungfrau als schöne Rose, als hellster der
Sterne (vgl. die bekannte Metapher von Maria
als stella maris, Stern des Meeres) und als
Juwel des Himmels beschreibt. Diese Textabschnitte
sind umgeben von melismatischen
Ausarbeitungen des Namens der Jungfrau, die
zu einer ausgedehnten musikalischen Meditation
zusammenfließen. Diese beginnt einfach
und schlicht mit einem engelhaften Kontratenor-
Solo und endet mit dem ganzen, zehnstimmigen
himmlischen Chor. Dantes mystische,
sinnliche Worte sind gleichermaßen roh und
elegant: eine lebhafte, geradezu primitive Art
des Chorals, von alten georgischen Gesängen
inspiriert, wird sorgfältig mit dem fließenden
Stoff der Polyphonie verwoben. Zunehmend
raffinierte und ungewöhnliche rhythmische
Beziehungen entwickeln sich über die sieben
Abschnitte des Werkes hinweg – ein rhythmisches
Blühen parallel zur symbolischen Blüte
der Jungfrau und der anderen Seligen unter
der göttlichen Sonne.
Il nome del bel fior wurde mit Hilfe eines
Stipendiums vom North Carolina (U. S. A.) Arts
Council für das Hilliard Ensemble und Singer
Pur komponiert.
Joanne Metcalf