Pascal Rogé, der preisgekrönte französische Pianist, (Grand Prix du Disque, Edison

Award, Gramophone Award) präsentiert hier auf einer SACD-Einspielung mit
dem RSO Wien unter Bertrand de Billy Konzerte von Gershwin und Ravel.
Vienna Radio Symphony Orchestra
Bertrand de Billy conductor
Pascal Rogé piano
Gershwin und Ravel
„Ich hatte viele Wohnungen, aber zu Hause
war ich am Klavier“, bekannte George Gershwin
einmal. – Seine Anfänge lagen in der
amerikanischen Schlager- und Jazzmusik, die
er schon als Schüler auf den Straßen New
Yorks hörte und die ihn vom ersten Augenblick
an faszinierte. Er erhielt Klavierstunden, mit
14 auch schon Unterricht in Harmonielehre,
Kontrapunkt und Instrumentation. Mit seinem
Lehrer Charles Hambitzer, der sein Genie sofort
erkennt, begeistert er sich an der Musik
Debussys und Ravels, den neuen Göttern des
Impressionismus. Schon früh beginnt der junge
Gershwin Songs zu schreiben, die sogar in
Druck erscheinen. Für einen Verlag arbeitete
er mit 16 als „plugger“, also als Pianist, der
den Kunden tagein tagaus die neuesten Schlager
vorspielen muss, um sie an den Mann zu
bringen. Bald entdeckt er, dass er selbst viel
bessere Songs schreiben kann. Doch vorerst
ist niemand interessiert. Er wechselt als
Korrepetitor zur Jerome Kern-Victor Herbert
Show, macht sich mit musikalischen Tipps
und Ratschlägen langsam unentbehrlich und
gewinnt die Diva der Revue für seine Lieder.
Zwei davon werden tatsächlich in die Show
aufgenommen und haben Erfolg.
Gershwins Name wird bekannt am Broadway.
Er wird von einem Verlag für 35 Dollar die
Woche engagiert – diesmal aber als Komponist.
Es folgen Erfolge, Rückschläge, Erfolge
– bis er schließlich mit seiner ersten selbst
komponierten Revue La la Lucille 1919 einen
Triumph landet mit 100 Aufführungen und den
Welthits Nobody but you und Swanee. Letzteren
übernimmt der beliebte Sänger Al Jolson
in seine Revue – und der Song wird zum Schlager
des Jahres, beschert Gershwin ein erstes
kleines Vermögen, das ihn unabhängig macht.
Sein Lehrer Hambitzer war gerade gestorben.
Doch er hatte Gershwin vorsorglich mit dem
ungarischen Komponisten Edward Kilenyi
bekannt gemacht, einem Schüler Mascagnis.
Bei ihm nimmt Gershwin jetzt Unterricht – er
weiß instinktiv, dass ihm zum echten Erfolgskomponisten
noch vieles fehlt…
Den nächsten großen Triumph seines Lebens
feiert er im Alter von 26 Jahren als Pianist
und Komponist seiner Rhapsody in Blue,
die er als Auftragswerk für den „König des
Jazz“ Paul Whiteman und sein Jazzorchester
schrieb: Bei der Uraufführung in der New
Yorker Aeolian Hall am 12. Februar 1924 saßen
Heifetz, Kreisler, Godowski, Mengelberg,
Rachmaninow, Stokowski, Strawinsky, Damrosch
und Jerome Kern im Saal. Das Publikum
schien wie elektrisiert, der Erfolg war unbeschreiblich,
auch bei der Presse. Die Rhapsody
setzte sich schlagartig durch – nicht nur in
Amerika, sondern auch in Europa. Gershwin,
der Sohn russischer Einwanderer, wurde mit
diesem Stück ein reicher Mann: Platten und
Noten allein brachten ihm in 10 Jahren Tantiemen
in der Höhe einer Viertelmillion Dollar
ein – und als Paul Whiteman die Rhapsody in
seinem Film „The King of Jazz“ spielte, zahlte
er Gershwin den enormen Betrag von 50.000
Dollar.
Die Sache hatte allerdings einen kleinen
Haken: Der junge George Gershwin entwarf
alle seine Werke am Klavier. Die Orchestrierung
besorgten – wie bis heute am Broadway
üblich – andere. Im Falle der Rhapsody
in Blue war es Ferde Grofé, der hochbegabte
Pianist und Arrangeur in Paul Whitemans Jazzorchester.
Als nun wenig später der angesehene
Dirigent Walter Damrosch ein Klavierkonzert
bei Gershwin bestellt und ihm sieben
Aufführungen garantiert, zieht sich dieser erst
einmal in ein Hotel zurück und vertieft sich
in das Studium klassischer Konzerte. Ihm ist
augenblicklich klar, dass er dieses Konzert
nicht nur komponieren, sondern diesmal auch
selbst instrumentieren muss, um als ernsthafter
Komponist Anerkennung zu .nden. Allein
an der Orchestrierung sitzt er vier Wochen.
Anfang 1925 ist das Klavierkonzert beendet
– er nennt es Concerto in F. Voller Nervosität
engagiert sich Gershwin 60 Musiker und einen
Dirigenten, mietet das Globe Theatre für einen
Nachmittag und probiert heimlich sein Werk
aus. Etliche Passagen lässt er mehrmals wiederholen,
mitunter korrigiert und verbessert
er Details. Doch im großen und ganzen ist er
zufrieden.
Am 3. Dezember 1925 folgt die Uraufführung
in der Carnegie Hall unter Walter Damrosch,
der das Stück ans Ende(!) seines Programms
stellt – nach der 5. Symphonie von
Glasunow und der Suite Anglaise von Henry
Rabaud. Gershwin, wie immer entsetzlich nervös,
spielt selbst den Solopart. Wieder hat sein
Name eine Anzahl bekannter Musiker, Anhänger
und Gegner, sowie die wichtigsten Kritiker
angelockt. Am Ende tobt das Publikum – die
Kritik ist nun zwiespältig. Die einen bejubeln
das neue „Standardwerk des Jahrhunderts“,
andere kritisieren Satz und Form und bemängeln
den Unterhaltungscharakter der Musik.
„Gershwin er.ndet die Melodien unserer Zeit
mit all ihren frechen Hemmungslosigkeiten,
mit all ihrem .ebrigen Vorwärtsdrängen, aber
auch mit der ganzen tiefen Melancholie, der
wir so oft ausgeliefert sind“, schrieb der
Kritiker Chozinoff. Und Walter Damrosch meinte:
„Allein der 2. Satz mit seiner träumerischen
Stimmung, der an eine Sommernacht in unseren
Südstaaten denken lässt, ist ein Beweis
für Gershwins großes Talent“. Der namhafte
englische Dirigent Albert Coates hielt das
Concerto in F immerhin für das bedeutendste
musikalische Werk Amerikas.
Das Concerto basiert natürlich auf Jazzrhythmen,
vor allem auf dem Blues, und verarbeitet
Modetänze der Zeit – ein Charleston steht
an der Spitze. Aber es enthält vor allem eigene
Themen und Melodien Gershwins, und die sind
voller Frische, Natürlichkeit und Emp.ndung.
Er spielt mit seinem Material ebenso naiv wie
raf.niert, seine Instrumentation ist scharf, er
verwendet grelle, extreme Tonlagen (gestopfte
Trompete in hoher Lage am Beginn des 2. Satzes),
das Klavier wirkt gelegentlich blockhaft
vereinfacht und erhält so auch Schlagfunktion,
mutiert aber dann wieder zum lyrischen
Song-Interpreten. Ein gewisses Hetzen des
Musizierens, unaufgelöste „erstarrte“ Vorhalte,
schräge Posaunenglissandi, verminderte Melodie-
Intervalle nach oben und übermäßige nach
unten sind Charakteristika des Jazz.
In beiden Werken, der Rhapsody in Blue und
dem Concerto in F, verwendete Gershwin „seine“
Elemente des Jazz und der amerikanischen
Unterhaltungsmusik wie selbstverständlich und
integrierte sie in die Konzertmusik. Doch er war
nicht der Erste. Der Siegeszug des Jazz hatte
bereits während des ersten Weltkriegs begonnen
– und Gershwin war nur einer von vielen,
die dieses neue Idiom in den Konzertsaal transferierten.
Debussy hatte schon 1908 mit Golliwalks
Cakewalk einen Ragtime komponiert,
Strawinsky folgte 1918 mit seinem Ragtime für
elf Instrumente und seiner Piano Rag-Music,
auch der 3. Tanz der Prinzessin in der Geschichte
vom Soldaten ist ein Ragtime. Hindemith
schreibt 1922 in seiner Suite einen Ragtime und
einen Shimmy, Milhaud lässt 1923 in seinem Ballett
La creation du monde starke Jazz-Anklänge
hören, Aaron Coplands Jazz Piano Concerto
folgt 1926, Ravel komponiert in seiner Violinsonate
1927 einen Blues als 2. Satz und lässt den
Jazz auch in seinen beiden Klavierkonzerten
ein.ießen, ebenfalls 1927 macht Krenek mit
seiner Jazz-Oper Jonny spielt auf Furore, 1928
kommt Kurt Weills Dreigroschenoper in Berlin
heraus, ein Jahr später sein Mahagonny – Martinu,
Honegger, Schostakowitsch und viele
andere begeistern sich für die „amerikanische
Negermusik“, der schließlich 1933 die Politik in
Europa den Lebensnerv abschneidet…
Doch zurück zu Gershwin. In New York
feiert man im März 1928 einen illustren Gast,
der für einige Konzerte aus Europa herübergekommen
ist: Maurice Ravel. Auf einer Party
wird er gefragt, was er sich zum Geburtstag
wünsche. „Ich möchte Gershwin kennen
lernen und spielen hören“, antwortet Ravel.
Gershwin kommt und spielt dem Kollegen
fast sein gesamtes Repertoire vor. Ravel ist
entzückt. Schließlich fasst George Gershwin
seinen ganzen Mut zusammen und fragt Ravel,
ob er ihn als Schüler annehmen und ihn in
Harmonielehre und Instrumentation unterweisen
würde. Ravel lächelt und sagt: „Sie sind
ein erstklassiger Gershwin. Warum wollen Sie
ein zweitklassiger Ravel werden?“
Doch Gershwin ließ nicht locker. Als nächsten
fasste er Igor Strawinsky ins Auge. Er telegra
.erte dem Kollegen nach Paris, ob er ihn als
Schüler annehmen wolle. Strawinsky kabelte
zurück und fragte bei Gershwin an, wieviel er
jährlich verdiene. Gershwin gab eine nach unten
abgerundete, aber immer noch recht hohe
Summe an, worauf er von Strawinsky prompt
Antwort erhielt: „Möchte Unterricht bei Ihnen
nehmen“.
Wenig später reist Gershwin zum letzten
Mal nach Europa, besucht Paris und Wien und
hat immer noch die idée .xe, bei einem berühmten
Komponisten Unterricht zu nehmen.
In Paris, der Hochburg der modernen Musik,
besucht er Auric, Milhaud, Proko.eff und Strawinsky.
Besonders Proko.eff interessiert sich
für Gershwin, lässt sich viel von ihm vorspielen
und meint, dass er noch aufsehenerregende
Konzertmusik schreiben könnte, wenn er sich
weniger für Dinners und Dollars interessieren
würde. Doch Gershwin genießt all die Parties,
die ihm zu Ehren in Paris gegeben werden. In
Wien trifft er wenig später nicht nur mit Léhar
und Kálmán, sondern auch mit Alban Berg zusammen.
Doch da hat er schon sein nächstes
Stück im Kopf – An American in Paris – und
wieder wird nichts aus dem erhofften Unterricht…
Während dieser Zeit absolviert Maurice
Ravel seine große Amerika- und Kanada-Tournee,
die ihn von New York nach Chicago, San
Francisco, Seattle, Vancouver, Minneapolis,
Houston, Colorado, Buffalo und Montreal führt
und auf der er auch eigene Werke dirigiert.
Seine Lieder und Klavierwerke, aber auch seine
großen Orchesterkompositionen – Scheherazade,
Rhapsodie espagnole, die Ballettsuiten
aus Daphnis und Chloe, seine Orchestrierung
von Mussorgskys Bilder einer Ausstellung, die
Valses nobles et sentimentales, die Suite Le
tombeau de Couperin, vor allem aber La Valse
und Tzigane hatten ihn weltberühmt gemacht.
Zurück in Paris erlebt er am 20. November 1928
die Uraufführung seines Balletts Boléro in der
Pariser Großen Oper.
Im Jahr darauf unterwirft er sich einem
einmaligen Experiment: zur selben Zeit an
zwei Klavierkonzerten zu arbeiten und ihnen
doch gänzlich verschiedene Stile zu verleihen.
Auf beiden Seiten seines Klaviers lag ein
Stoß von Notenblättern – auf einem notiert er
das Konzert in G-Dur, auf dem anderen das
Konzert für die linke Hand, das der einarmige
österreichische Pianist Paul Wittgenstein bei
ihm bestellt hatte. Er selbst bezeichnet den
Stil des ersteren „Mozart und Saint-Saëns
ähnlich“, den des anderen „nicht so einfach“.
Das Konzert für die linke Hand wird als erstes
vollendet und am 27. November 1931 in Wien
von Paul Wittgenstein uraufgeführt – das Konzert
in G-Dur erlebt am 14. Januar 1932 unter
Ravels eigener Leitung seine Premiere mit der
Solistin Marguerite Long, der es auch gewidmet
ist. Gleich danach unternehmen Ravel und
Long eine überaus erfolgreiche Tournee durch
Mitteleuropa.
Im G-Dur-Konzert verwendet Ravel musikalisches
Material aus einer viel früher geplanten
Baskischen Rhapsodie. Der erste Satz (Allegramente)
beginnt mit einem fröhlichen, von
der Piccolo.öte intonierten Thema, das einige
Musikforscher auf einen navarresischen Tanz
zurückführen. Doch erinnert der überschäumende,
bitonale Beginn auch an Strawinskys
Petruschka. Anklänge an den Jazz sind unüberhörbar
und von Ravel selbst auch bestätigt
(„Dieses Konzert ist meiner Violinsonate
verwandt, in der ich ebenfalls Jazzelemente,
wenn auch mit Maß, verwendet habe“). Klingen
hier Erinnerungen an Gershwins Musik,
an amerikanische Höreindrücke aus dem Jahr
1928 an? Parallelen zu Gershwin sind nicht zu
überhören – auch im 2. Satz, der zu den poetischsten
Kompositionen Ravels überhaupt
gehört und auf einem langen Klaviermonolog
aufbaut, der bei Ravel allerdings durch seltsame
rhythmische Begleitkombinationen der
linken Hand überhöht und verfeinert wird:
Neoklassizismus aus dem Geiste Haydns und
Mozarts! Das kurze Presto-Finale in Rondoform
versetzt uns in die Zeit Scarlattis, das
Klavier fegt atemlos dahin, durchbrochen von
frechen Jazzbläser-Einwürfen (Posaunenglissandi!),
die Musik ist rhythmisch elektrisierend,
als wolle Ravel am Ende seines Lebens
auch noch die Music-Halls erobern.
Andrea Seebohm