Die Uraufführung der Ersten Sinfonie bescherte Brahms nicht nur das
höchste denkbare Lob, sondern auch den musikalischen Ritterschlag!
Ergänzt wird die Aufnahme durch das „Schicksalslied“ für Chor und
Orchester nach der Textvorlage von Friedrich Hölderlin.
Münchner Philharmoniker
Orchester der Landeshauptstadt München
James Levine, Dirigent/conductor
Philharmonischer Chor München (Einstudierung: Andreas Herrmann)
Konservativer wider Willen
„Ich dachte,… es würde und müsse … einmal
plötzlich Einer erscheinen, der den höchsten
Ausdruck seiner Zeit in idealer Weise auszusprechen
berufen wäre, einer, der uns die
Meisterschaft nicht in stufenweiser Entfaltung
brächte, sondern, wie Minerva, gleich
vollkommen gepanzert aus dem Haupt des
Kronion entspränge. Und er ist gekommen,
ein junges Blut, an dessen Wiege Grazien
und Helden Wache hielten. Er heißt Johannes
Brahms, kam von Hamburg, dort in dunkler
Stille schaffend, aber von einem trefflichen
Lehrer (Eduard Marxsen) gebildet in den
schwierigsten Satzungen der Kunst … Am
Clavier sitzend, fing er an, wunderbare Regionen
zu enthüllen. Wir wurden in immer zauberischere
Kreise hineingezogen … Es waren
Sonaten, mehr verschleierte Symphonien …
Wenn er seinen Zauberstab dahin senken
wird, wo ihm die Mächte der Massen, im Chor
und Orchester, ihre Kräfte leihen, so stehen
uns noch wunderbarere Blicke in die Geheimnisse
der Geisterwelt bevor … Es waltet in
jeder Zeit ein geheimes Bündnis verwandter
Geister. Schließt, die Ihr zusammengehört,
den Kreis fester, dass die Wahrheit der Kunst
immer klarer leuchte, überall Freude und Segen
verbreitend.“ („Neue Bahnen“ in Neue
Zeitschrift für Musik 1853)
Schumanns rühmende Worte über den
Gast und späteren Freund Brahms – geschrieben,
kurz nachdem dieser in Düsseldorf zu
Besuch weilte – haben sich bewahrheitet,
wenngleich sie für den jungen, aufstrebenden
Komponisten auch eine Belastung darstellten.
Das Zusammentreffen mit Clara und Robert
Schumann war jedenfalls von entscheidender
Bedeutung für Karriere und persönlichen Lebensweg
des gerade 20-Jährigen.
Johannes Brahms stammte aus beengten
sozialen Verhältnissen: Der Vater, ein Hamburger
Stadtmusikant, spielte später als Kontrabassist
im städtischen Orchester. Den ersten
Musikunterricht erhielt der Sohn von ihm.
Aussschlaggebend für seinen weiteren Werdegang
wurde dann das Klavier und Theoriestudium
bei Eduard Marxsen, einem damals in
Hamburg prominenten Musiker und Pädagogen.
In seiner frühen Jugend musste Brahms
als Klavierspieler in Gaststätten zum Unterhalt
der Familie beitragen. Zu Beginn der fünfziger
Jahre nahm er ein Engagement als Klavierbegleiter
des ungarischen Violinvirtuosen
Eduard Remény an, der konzertierend durch
Europa zog. Durch ihn lernte er Joseph Joachim,
den berühmten Geiger, kennen, mit dem
er lebenslang befreundet blieb.
Nachdem sich Brahms in der Musikwelt einen
Namen gemacht hatte und trotzdem 1863
bei der Neuwahl des Chorleiters der Singakademie
seiner Heimatstadt übergangen worden
war, ließ er sich dauerhaft in Wien nieder. Von
einer kurzen Tätigkeit als Dirigent der Wiener
Singakademie und der Gesellschaft der Musikfreunde
abgesehen, nahm er keine feste
Position mehr an, da steigende Honorare es
ihm erlaubten, als freier Komponist auskömmlich
zu leben.
Auf Eduard Hanslick, den Wiener „Kritikerpapst“,
ist es zurückzuführen, dass Brahms
– durchaus gegen seinen Willen – zum Haupt
einer konservativen Musik-Partei wurde, die
sich gegen Wagner und später auch gegen
Bruckner richtete. Dass der auch literarisch
hochgebildete Künstler kein Konservativer im
reaktionären Sinne war, hat spätestens Arnold
Schönberg konstatiert, der in der – für Brahms
typischen – Technik des „durchbrochenen Satzes“
und der entwickelnden Variation eigene
Kompositionsprinzipien vorweggenommen sah.
Zu Recht erblickte der Begründer der Zwölftonmusik
in ihm einen „Fortschrittlichen“.
Aus- und Umdeutung:
Johannes Brahms´ Schicksalslied für Chor
und Orchester op. 54
Lebendaten des Komponisten:
geboren am 7. Mai 1833 in Hamburg
gestorben am 3. April 1897 in Wien
Entstehung:
Komposition von 1868–1871; Beendigung der
Partiturreinschrift im Mai 1871 in Baden-Baden;
Erstdruck im Dezember 1871 bei Simrock
in Berlin
Textvorlage:
Das Schicksalslied basiert auf einem Gedichttext
Friedrich Hölderlins (1770-1843), den der
Autor in seinen antikisierenden Briefroman
Hyperion oder der Eremit in Griechenland (erschienen
1797-99 in zwei Bänden) integrierte.
Uraufführung:
am 18. Oktober 1871 in Karlsruhe (Chor und
Orchester des „Philharmonischen Vereins“
unter Leitung des Komponisten)
Die Uraufführung von Ein deutsches Requiem
op. 45 in Bremen bedeutete den
Durchbruch für den 33-jährigen Komponisten.
Nach diesem großen Erfolg lag es nahe, weitere
Werke des gleichen Genres nachfolgen zu
lassen, um das Erreichte zu festigen und auszubauen.

Anlässlich eines Besuchs bei den
Freunden Dietrich und Reinthaler entdeckte
Brahms das Hölderlin‘sche Schicksalslied
und war so beeindruckt, dass er sogleich mit
Skizzen begann und sogar den Aufenthalt abbrach,
um in Hamburg daran weiterarbeiten
zu können. Trotzdem kam es nicht zur schnellen
Fertigstellung, andere Werke wurden
eingeschoben, und erst im Mai 1871 war die
Komposition abgeschlossen.
In seinem Gedicht – eingestellt in den
Briefroman Hyperion, der vom Freiheitskampf
der Griechen nach jahrhundertelanger Unterdrückung
durch die Türken handelt – akzentuiert
Friedrich Hölderlin den Gegensatz
zwischen der strahlenden Götterwelt des
alten Hellas und den stets vom Schicksal
bedrohten Menschen. Von diesem Kontrast
ist das gesamte Schicksalslied geprägt: „Ihr
wandelt droben im Licht“, heißt es in der ersten
Strophe von den antiken Göttern, woran
sich eine nähere Beschreibung der geruhsamen
göttlichen Gefilde anschließt. Die zweite
Strophe charakterisiert gleich mit dem ersten
Wort den beneidenswerten Zustand, frei von
jeder Bedrohung zu sein: „Schicksallos“. Die
dritte Strophe schließlich zieht den Vergleich
zur Situation der Menschen während der Befreiungskämpfe,
weist jedoch zugleich über
sie hinaus auf ihre allgemeinere Situation,
der stetigen Bedrohung durch das Schicksal:
„Doch uns ist gegeben, auf keiner Stätte zu
ruhn; es schwinden, es fallen die leidenden
Menschen, blindlings von einer Stunde zur
andern, wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen,
jahrlang ins Ungewisse hinab.“
In Brahms’ Hölderlin-Vertonung begegnet
uns der seltene Fall, dass ein Komponist einen
vorgegebenen Text durch die Musik nicht nur
eigenwillig inerpretiert, sondern erklärtermaßen
in Opposition zur Aussage des Dichters
tritt. Was zunächst nur als Bemühen um formale
Abrundung erscheint, die Wiederholung
der Orchestereinleitung am Schluss des Werkes,
erweist sich als ein auf den Inhalt des Gedichts
bezogener Einspruch des Komponisten.
In einem Brief schrieb Brahms 1871 darüber:
„Ich sage ja eben etwas, was der Dichter
nicht sagt, und freilich wäre es besser, wenn
ihm das Fehlende die Hauptsache gewesen
wäre.“ Und etwas später fügt er bescheiden
hinzu: „Wenn man auch vielleicht
auseinandersetzen kann, dass der Dichter die Hauptsache
nicht sagt, so weiß ich doch nicht, ob
sie denn jetzt zu verstehen ist.“
Es lässt sich unschwer ermitteln, was
Brahms als die im Gedicht fehlende „Hauptsache“
angesehen hat. Indem er der abschließenden
„Menschenstrophe“, deren
letzter Vers „Jahrlang ins Ungewisse hinab“
Hölderlins Gedicht schroff beendet, das auf
die ersten beiden „Götterstrophen“ vorbereitende
Orchestervorspiel als Wiederholung
nachschickt, rückt er das fatalistische Bild
der Menschenexistenz zurecht: Durch diesen
Ausdruck des Glaubens gewinnt der Mensch
eine Teilhabe am göttlichen Frieden.
Premiere in der Königsdisziplin:
Johannes Brahms‘ 1. Symphonie
c-moll op. 68
Entstehung:
Nach zwei früheren Symphonieplänen, die jeweils
in Werke anderer Gattungen mündeten,
stellt die c-moll-Symphonie op. 68 den dritten
Versuch von Brahms dar, sich der symphonischen
Großform zu nähern; seit 1855 geplant,
wurde die Komposition spätestens im 1. Halbjahr
1862 begonnen, wobei Brahms eine frühe
Fassung des 1. Satzes zu Papier brachte;
erst 1874 jedoch setzte er die Arbeit fort und
schloss die Partitur im Herbst 1876 in Lichtenthal
bei Baden-Baden ab.
Uraufführung:
am 4. November 1876 in Karlsruhe (Großherzoglich-
Badisches Hoforchester unter Leitung
von Otto Dessoff)
„Ich werde nie eine Symphonie komponieren!
Du hast keine Ahnung, wie es unsereinem zu
Mute ist, wenn er immer so einen Riesen hinter
sich marschieren hört.“ So äußerte sich
Brahms zu Beginn der siebziger Jahre dem
Dirigenten Hermann Levi gegenüber. Nach
Beethoven in der kompositorischen Königsdisziplin
zu reüssieren, bedeutete für den herangereiften
Künstler eine Herausforderung,
die strengster und gewissenhaftester Vorbereitung
bedurfte. Seiner 1. Symphonie gingen
mehrere Versuche voraus – unter anderem jener
d-moll-Satz, der schließlich die Keimzelle
für das 1. Klavierkonzert bildete.
Obwohl Brahms lange zögerte, war es für
ihn doch selbstverständlich, dass nur der
von Beethoven vorgegebene formale und
instrumentale Rahmen in Frage kam. Eine
„Programmsymphonie“ im Sinne von Hector
Berlioz‘ Symphonie fantastique, deren Formkonzept
durch ein romantisches literarisches
Programm bestimmt war, lehnte er für sich
ebenso ab wie die „Symphonischen Dichtungen“
Franz Liszts, die für sich in Anspruch
nahmen, literarische oder bildliche Vorlagen
musikalisch umzusetzen. „Absolut“ sollte seine
Musik nicht nur im Sinne einer Loslösung
von Anlässen und Funktionen sein, sondern
auch in ihrer strengen Abstinenz gegenüber
poetischen Entwürfen. Nichtsdestoweniger
war sich Brahms bewusst, dass man als Symphoniker
in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
nicht völlig an Beethoven anknüpfen
konnte, sondern bei Wahrung des klassischen
Formkanons auch neue Wege gehen musste.
Der pathetisch-monumentale Gestus von
Brahms Erster mag durchaus vom mittleren
Beethoven inspiriert sein, die Binnenstrukturen
des Werks sind aber gänzlich anders. Unverkennbar
greift das Werk auf die Ausdruckskonstellation
von Beethovens 5. Symphonie
zurück, jedoch wird die vom tragischen cmoll-
Ton gefärbte Konfliktsituation zwar durch
die Aufhellung nach Dur, nicht aber – wie bei
Beethoven – durch eine Marschintonation
gelöst, sondern durch Einblendung eines wie
von außen kommenden „Alphornthemas“, das
als Natursurrogat die warme Cellokantilene
und schließlich den – wie zitiert wirkenden
– Schlusschoral provoziert. Die Widersprüche
des Ganzen scheinen durch das Naturerlebnis
im erhabenen Schauder religiöser Empfindung
gelöst.
Als der Komponist schließlich 1876 – immerhin
schon 43 Jahre alt – mit seiner 1. Symphonie
an die Öffentlichkeit trat, bedeutete dies
zunächst den Schlussstrich unter ein mehr als
eineinhalb Jahrzehnte langes Ringen. Der erste
Satz war bereits 1862 entstanden, erschien
Brahms allerdings nicht als ausgereift. Er ließ
das Werk mehr als zehn Jahre liegen und
nahm die Arbeit daran 1874 wieder auf. Erst
1877 – ein Jahr nach der Uraufführung! – lag
die Symphonie in endgültiger Fassung vor. Der
Dirigent Hans von Bülow, der sich anfänglich
mit höchster Begeisterung der Musik Richard
Wagners verschrieben und nach schweren
Enttäuschungen – seine Frau Cosima verließ
ihn um Wagners willen – den Weg zum Wahlwiener
Brahms gefunden hatte, würdigte sie
als „Beethovens Zehnte“. Das bedeutete für
Brahms, der das Symphonie-Repertoire in
den folgenden Jahren noch um drei weitere
Meisterwerke bereichern sollte, nicht nur das
höchste denkbare Lob, sondern auch den musikalischen
Ritterschlag.
Richard Eckstein
Johannes Brahms: „Schicksalslied“ (Song of Destiny)
Ihr wandelt droben im Licht
Auf weichem Boden, selige Genien!
Glänzende Götterlüfte
Rühren Euch leicht,
Wie die Finger der Künstlerin
Heilige Saiten.
Schicksallos, wie der schlafende
Säugling, atmen die Himmlischen;
Keusch bewahrt
In bescheidener Knospe
Blühet ewig
Ihnen der Geist,
Und die seligen Augen
Blicken in stiller,
Ewiger Klarheit.
Doch uns ist gegeben,
Auf keiner Stätte zu ruhn;
Es schwinden, es fallen
Die leidenden Menschen
Blindlings von einer
Stunde zur andern,
Wie Wasser von Klippe
Zu Klippe geworfen,
Jahrlang ins Ungewisse hinab.
Fotos: Stefan Rakus