Bertrand de Billy und das Radio Sinfonie Orchester Wien wurden nach der Aufführung von Schuberts C-Dur
Sinfonie von der Kritik gefeiert: „de Billy führte sein Orchester im Musikverein Wien zu einem triumphalen
Erfolg!“
(W. Sinkovicz, „Die Presse“ am 17. November 2002)
„Künstler und Kunstfreunde
vereinigen sich zu ihrem Preise“
Einige Gedanken zu Schuberts
großer C-Dur Symphonie
Es gibt Werke im Kanon der klassischen Symphonik,
die so bekannt sind, dass sie kaum ein
Musikfreund wirklich kennt: Mozarts große
g-moll Symphonie gehört ebenso dazu wie Beethovens
c-moll Symphonie oder eben Schuberts große
C-Dur Symphonie, mit der wir uns hier beschäftigen.
Das soll nicht heißen, man wäre mit den Klängen
nicht vertraut. Im Gegenteil! Irgendwie hat man
das Gefühl, die Rhythmen und Melodien immer
schon gehört zu haben. Trotzdem findet eine Auseinandersetzung
mit dem musikalischen Material
und eine wirkliche Befragung der Intentionen des
Komponisten recht selten statt, und diesen Vorwurf
kann man auch vielen der zahllosen Interpreten
nicht ganz ersparen, die diese berühmtesten aller
Orchesterwerke gedankenlos aufs Programm setzen
und sich – wahrscheinlich auch zu Recht – auf ihre
äußerliche Wirkung verlassen.
Nun ist es wohl sinnlos zu betonen, dass gerade
in diesen Gipfelwerken der Symphonik alle Emphase
und Verzweiflung, Utopie und Hoffnungslosigkeit
gleichermaßen drinnen stecken, die die Komponisten
zur Schöpfung getrieben haben.
Die Entwicklung der klassischen Symphonik von
Haydn bis hinauf zu Gustav Mahler erscheint uns
heute als eine logische Linie, die so und nicht
anders verlaufen musste. Auf die Kontinuitäten wird
in jedem Programmheft zur Genüge hingewiesen,
und die Komponisten selbst sahen sich wohl auch in
einer Nachfolge ihrer großen Vorgänger. Über den
Zusammenhang zwischen Beethoven und Schubert
muss hier nicht gesprochen werden. Zum Einfluss
von Schubert auf Bruckner oder Mahler haben diese
Komponisten selbst sich eindeutig geäußert.
Und trotzdem – so klar sind die Verbindungen
nicht, so selbstverständlich verlaufen auch die
Linien nicht. Und vor allem, wenn man die Musik
wirklich liest, wenn auf das zurückgegangen wird,
was der Komponist wirklich hinterlassen hat. Und
wenn man in der Partitur nicht nur das heraus liest,
was ohnehin offenkundig da steht, sondern sich
auch bemüht, das zu lesen und umzusetzen, was
nicht aufgeschrieben werden kann, aber trotzdem
unabdingbar dazu gehört, sehen die Werke doch
vielmals völlig anders aus als ihr Jahrzehnte- oder
gar Jahrhunderte lang tradiertes Klischee.
Bei den Symphonien von Schubert war der
Anstoß zu solch einer Auseinandersetzung wohl
die Herausgabe der Urtextausgaben, die gerade
bei diesem Komponisten erstaunlich spät geschah.
Der Grund mag wohl darin gelegen haben, dass die
von Johannes Brahms herausgegebenen Hauptwerke,
darunter eben auch unsere hier vorliegende
C-Dur Symphonie, als absolut authentische und
bestimmende Grundlage galten. Der Verdienst der
Brahmsschen Edition ist bekannt, die Gründe, die
zu den Eingriffen zur damaligen Zeit führten, waren
höchst ehrenwert und sollten alleine der Verbreitung
des Schubertschen Œuvres dienen. Mendelssohn,
der Dirigent der vermutlichen Uraufführung dieses
Werkes (1839 in Leipzig), Robert Schumann, dessen
Kritik mit dem in unserer Überschrift verwendeten
Zitat abschließt und eben Johannes Brahms als
Herausgeber vereinigten sich in einer einmaligen
Verbindung großer Komponisten zur posthumen
Förderung ihres so jung verstorbenen genialen Kollegen.
Sie und spätere Dirigenten meinten, den
Zeitgeschmack besser bedienen zu müssen, indem
sie vermeintliche Ungeschicklichkeiten stillschweigend
korrigierten und dynamische Extreme im nicht
korrigierten Manuskript milderten.
Dank der modernen Forschung wissen wir heute,
dass Schuberts Eigenarten sowohl harmonischer
als auch dynamischer Natur waren, besonders aber
gewisse Härten und Farben in der Instrumentation
durchaus in seiner Intention lagen, und es demnach
an der Zeit schien, die Werke in ihrer ursprünglichen
Gestalt vorzulegen und aufzuführen. Erinnern wir
uns noch einiger empörter Protestrufe unmittelbar
nach der ersten Aufführung der 4. Symphonie durch
Nikolaus Harnoncourt im Rahmen eines philharmonischen
Abonnementkonzertes in Wien. Einige alteingesessene
Abonnenten, aber auch jugendliche
Hitzköpfe meinten, Harnoncourt der Schändung des
Schubertschen Erbes bezichtigen zu müssen. Auch
einige Kritiker konnten sich damals noch nicht mit
der Tatsache abfinden, dass zwischen dem, wie man
ein Werk zu kennen glaubt und dem, wie es in seiner
tatsächlichen Gestalt vom Komponisten vorgelegt
wurde, ein gravierender Unterschied bestehen kann.
Dies beeinflusst natürlich in letzter Konsequenz auch
jede Interpretation, die ja immer nur eine subjektive
sein kann. Trotzdem ist die Frage entscheidend, von
welcher Grundlage man ausgeht.
Die vorliegende Aufnahme basiert auf der Bärenreiter
Urtext-Edition; das Vorwort verweist allein
schon auf die Probleme der Datierung der Symphonie,
die man nun endlich anhand von Papieranalysen
auf das Jahr 1825 festlegen kann; die von Schubert
handschriftlich vorhandene Datierung mit 1828 auf
dem Original, das sich seit seinen Lebzeiten bis
zum heutigen Tag im Besitz der Gesellschaft der
Musikfreunde in Wien befindet und deren Mitglied
Schubert zum Zeitpunkt der Übereignung 1826 war,
lässt sich hingegen nicht mit letzter Klarheit deuten.
Fest steht lediglich, dass Schuberts Symphonie, wie
es so oft bis in die jüngste Vergangenheit hieß, nicht
„abgelehnt“ wurde, sondern sie wurde lediglich
zurückgestellt, da sie für eine Probeaufführung mit
dem Orchester des an die Gesellschaft der Musikfreunde
angeschlossenen Konservatoriums als zu
schwierig erachtet wurde.
Auch die Legenden um Schuberts letzte Zeit sind
heute vielfach widerlegt; er begann als Komponist
durchaus breiteren Erfolg zu haben, es begann ihm
finanziell besser zu gehen, und er hatte durchaus
das Selbstbewusstsein eines Komponisten, der sich
in einer großen Tradition sah. Die niederschmetternde
Wirkung, die die angebliche Ablehnung der
Symphonie auf ihn gehabt haben soll, gehört eher in
den Bereich der Dreimäderlhaus-Biographien.
Noch hartnäckiger als die Ablehnung der Symphonie
durch die Gesellschaft der Musikfreunde
klebt ihr das Etikett der „göttlichen Längen“ an. Will
sagen: sehr schön, aber zu lang.
Schon die Zeitgenossen der wahrscheinlichen
Uraufführung durch Mendelssohn vermerkten die
Länge des Werkes respektvoll kritisch und verglichen
natürlich mit Beethovens finaler symphonischer
Äußerung. Nahe liegend, aber auch etwas
oberflächlich.
Tatsächlich jedoch birgt bei genauerer Analyse
die große C-Dur Symphonie Schuberts Probleme
in sich, die die Zukunft der klassischen Symphonie
entscheidend beeinflussen sollten und, wenn man
will, von denen sie sich auch nicht mehr wirklich
erholte.
Merkwürdiger Weise betraf dies kaum den Kreis
der “unterstützenden“ Kollegen, die Zeitgenossen
Schuberts waren, sondern die nächsten Generationen.
Bruckner und Mahler – ohne Schubert schwer
denkbar – knüpften formal beim Opus summum an
– und das bedeutete auf weitere Sicht die Auflösung
der Form der klassischen Symphonie (obwohl
gerade Bruckner sein Leben lang gerade um diese
rang).
Auch Schuberts Bemühungen um die Form sind
evident. Bekannt sind sein erneuter Kompositionsunterricht
gegen Lebensende bei Simon Sechter
(der dann auch noch Bruckner unterweisen sollte),
aber die Analyse der Symphonie zeigt auch, dass
die Gedanken der Romantik wohl bei niemandem so
klar im Widerspruch zur tradierten Form standen wie
gerade bei Schuberts letzter Symphonie.
Tatsächlich sind die Formen der Sätze außergewöhlich.
Nur dass die Länge sich eigentlich klar
aus dem “inhaltlichen”, ja man könnte eigentlich
richtiger sagen „poetischen“ Konzept entwickelt.
Dass dies für die Zeitgenossen völlig ungewöhnlich
erscheinen musste, versteht man. Dass es unreflektiert
noch nach über 175 Jahren nachgebetet wird,
erstaunt eher.
In Marie-Agnes Dittrichs bemerkenswerter Analyse
(F. Schuberts Symphonien, München 2000) wird
zu recht besonders darauf hingewiesen, dass z. B.
der gewaltige, fast 700 Takte lange erste Satz keine
einzige Pause enthält, in der alle Stimmen gleichzeitig
schweigen, aber auch dass die Reprise nach
damaligem Formverständnis über Gebühr erweitert
und ausgedehnt wurde. Die Form wurde zu Gunsten
der inneren Motorik und des überbordenden Ausdruckswillens
bewusst aufgegeben. Damit ist das
Programm für den weiteren Verlauf dieser Symphonie,
aber auch für den Verlauf der klassischen Symphonie
bis hinein ins 20. Jahrhundert vorgezeichnet.
Die Form wird dem Ausdruckswillen unterliegen.
Nicht nur in der vorliegenden Aufnahme, auch
bereits in den vorangegangenen Konzertaufführungen
hat der Dirigent sich entschlossen, sämtliche
von Schubert vorgeschriebenen Wiederholungen
spielen zu lassen. Hat man diese in der Vergangenheit
meist aus Angst vor der ungewohnten Länge
gemeint, streichen zu müssen, so stellt sich nun
heraus, dass gerade die vollständige Architektur
erst das wirkliche Bild der Schubertschen Gedanken
zu transportieren vermag.
Michael Lewin