Johannes Brahms
Ein Deutsches Requiem op. 45
Ruth Ziesak, Sopran · Konrad Jarnot, Bariton
Friedemann Winklhofer, Orgel
Münchener Bach-Chor · Münchner Rundfunkorchester
Hansjörg Albrecht, Dirigent
Besondere Intensität gewinnt dieser Live-Mitschnitt
des „Deutschen Requiems“ von Johannes Brahms
durch den Anlass der Aufführung: Am 25. September
2010 veranstaltete die Dominik-Brunner-Stiftung ein
Gedenkkonzert für den ein Jahr zuvor ums Leben
gekommenen Dominik Brunner, den Münchner
„S-Bahn-Helden“ der sein couragiertes Eingreifen
zum Schutz von vier Jugendlichen mit dem Leben
bezahlte.
Das Münchner Rundfunkorchester, der Münchener
Bach-Chor sowie eine hochklassige Solistenbesetzung
unter Leitung von Hansjörg Albrecht führte in der
Münchner Philharmonie im Gasteig Brahms’ berühmtes
„Requiem“ nach Texten aus der Luther’schen
Bibelübersetzung auf.
Brahms’ Werk zeichnet sich dadurch aus, dass es
im Gegensatz zum liturgisch festgelegten „Requiem“
nicht den Verstorbenen sondern die Hinterbliebenen
bzw. die Menschen im Allgemeinen zum Mittelpunkt
macht. Trost, aber auch ein Bewusstmachen der
Unausweichlichkeit des Todes für jeden Menschen
sprechen aus den von Brahms gewählten Bibelversen.
Das Werk spiegelt sehr klar Brahms’ eigene Haltung
zum Glauben, seine Ängste und Erfahrungen wieder
und ist damit ein zutiefst menschliches und persönliches
Bekenntnis in Wort und Klang.
Johannes Brahms (1833–1897)
ein Deutsches requiem
nach Worten der Heiligen Schrift.
Für Soli, chor und orchester op. 45
mit achtundzwanzig Jahren notierte Johannes
Brahms auf der Rückseite seiner
vierten Magelonen-Romanze op. 33 Texte
zu einer Trauerkantate, die er selbst aus dem
Alten Testament, dem Neuen Testament und
den Apokryphen zusammengestellt hatte.
Deutsche Texte, ausschließlich. Die Idee zu
einer Trauermusik war vermutlich schon fünf
Jahre vorher in ihm aufgestiegen, als nach
einem Selbstmordversuch und zunehmender
Verdunkelung der Seele wie des Geistes
Robert Schumann gestorben war, der größte
Freund und Förderer von Brahms. Im Februar
1865 verlor Brahms seine Mutter. Im April
dieses Jahres schickte er an Schumanns Witwe
Clara einige Notenblätter; darunter befand
sich auch das Chorstück des vierten Satzes
aus einer Art deutschem Requiem, wie Brahms
schrieb, mit dem ich derzeit liebäugle. Clara
hatte ihn bald bestärkt in diesem Vorhaben.
Ihr seien auch die schönen deutschen Worte
lieber als die lateinischen. Den Anstoß, dieses
Projekt zu vollenden, gab eine Ausgrabung:
Anfang Januar fand Brahms beim Umzug seines
Vaters das Notenblatt wieder, auf dem er
die Texte notiert hatte. Bis zum Sommer 1866
hatte er sechs von sieben Sätzen fertiggestellt.
Was am 1. Dezember des darauffolgenden
Jahres im Großen Redoutensaal in Wien uraufgeführt
wurde, waren aber nur drei von
den sechs Teilen. Mehr wollten die Veranstalter
dem Publikum nicht zumuten, denn hier,
an seinem neuen Wohnsitz, kannte man den
Hamburger bisher nur als Dirigenten von Barockmusik-
Arrangements. Da das Werk Franz
Schubert gewidmet war, ergänzten nach der
Pause acht Stücke aus Schuberts Rosamunde
das Programm immerhin sinnfällig.
Erst am 28. April 1868 wurden die Sätze I
bis IV, VI und VII im Bremer Dom zusammen
uraufgeführt, dirigiert vom Komponis ten. Im
Mai beendete Brahms den fehlenden V. Satz;
die dritte Urauff ührung am 18. Februar 1869
im ausverkauften Leipziger Gewandhaus bescherte
Brahms einen sensationellen Erfolg
und den Durchbruch als Komponist. Philipp
Spitta schrieb an Brahms, es sei unmöglich, ein
solches Werk in einer Rezension abzuhandeln.
Will man jemanden in das Verständnis
desselben einführen, so dünkt mich, müsste gleich ein
ganzes Buch geschrieben werden. Hier statt eines
Buches nur ein paar Gedanken dazu, was dieses
Werk bis heute zu einem Ausnahmewerk in
der abendländischen Musikgeschichte macht.
Das Requiem von Brahms ist nicht einzuordnen
in die üblichen Kategorien. Bereits
der Titel verwirrt. Warum ein deutsches
Requiem, obwohl es davor keines gab? Was
meint deutsch? In deutscher Sprache verfasst
oder deutsch empfunden, in deutschen Traditionen
stehend? Warum Requiem, wo der
Protestant aus Hamburg darin nicht das von
der römisch-katholischen Kirche für die Totenmesse
vorgegebene Textformular verwendet?
Um eine Kantate freilich handelt es sich,
was bereits der Aufbau zeigt, genauso wenig.
Auch die Instrumentierung des Werks, teils
kammermusikalisch zurückgenommen, teils
zum chorischen und orchestralen Großklang
anschwellend, verweigert eine Kategorisierung.
Im Gesamtwerk von Brahms nimmt
dieses Stück ebenfalls eine Sonderstellung
ein, nichts lässt sich ihm zur Seite stellen,
nichts ist ihm vergleichbar.
Vor allem aber ist es die Haltung des
Komponisten, die dieses Requiem einzigartig
macht. Er lässt nicht die Hinterbliebenen darum
flehen, Gott möge die Seele des Toten ins
Jenseits geleiten und ihr gnädig sein. In den
sechzehn, von Brahms mit großer Sachkunde
ausgewählten Bibelstellen geht es um Trauer,
aber auch um Hoffnung, um Erkenntnis der
eigenen Nichtigkeit, aber auch um Sehnsucht
und Zuversicht. Es ist keine Fürbitte für den
Verstorbenen, es ist Trostmusik für die Hinterbliebenen.
Zu trösten
ist das zentrale Anliegen
dieses Werkes, in Worten und Klängen. Das
macht bereits der Anfang deutlich, den Seligpreisungen
der Bergpredigt entnommen: Selig
sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet
werden. Das bestärken die Worte des Propheten
Jesaja am Ende des zuletzt komponierten
fünften Satzes: Ich will Euch trösten, wie einen
seine Mutter tröstet. Schon einer der ersten Rezensenten
rühmte die Wärme des Werkes. Das
Requiem von Brahms ergreift, weil es nicht
altbekannte Formeln wiederholt, die wie alles
Gewohnte an uns abgleiten. Er offenbart hier
sein ganz persönliches Glaubensdrama, und
das macht dieses Requiem glaubwürdig. Er
steht zu den Zweifeln, zu den Schwierigkeiten,
den Verheißungen der Kirche, der Konfession
blind zu vertrauen, und zu seiner Angst vor
dem Tod. Gerade deshalb ist das Werk uns
auch heute so nah. Das Wesentliche, sagt uns
Brahms, ist das Glaubenkönnenwollen, das
Sterbenkönnenwollen. Heilsgewissheiten sind
nicht notwendig, notwendig ist es, auf der Suche
zu sein und loslassen zu lernen.
Herr, lehre doch mich,
dass es ein Ende mit mir haben muss,
und mein Leben ein Ziel hat,
und ich davon muss.
Wer das einsieht, für den verliert die Vergänglichkeit
des Irdischen alles Schreckliche.
Denn alles Fleisch, es ist wie Gras.
Der tiefe Ernst, vereint mit all dem Zauber der
Poesie, schrieb Clara Schumann 1867 Brahms
zu seinem Requiem, wirkt ganz wunderbar,
erschütternd und besänftigend.
Brahms wollte nicht wie Wagner die
Menschheit von innen heraus erneuern. Er
wollte sie auch nicht von einem einzigen
Gott oder dem einzigen richten Weg überzeugen.
Nur trösten mit dem, woran er selbst
glaubte: Liebe als erlösende Macht.
Dr. Eva Gesine Baur