Johann Sebastian Bach
Kantate „Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu Dir“ BWV 131
Kantate „Himmelskönig, sei willkommen“ BWV 182 (Erste
Weimarer Fassung)
Arcis-Vocalisten München
Regine Jurda, Alt · Maximilian Kiener, Tenor · Franz Schlecht, Bass
Barockorchester L’Arpa Festante · Thomas Gropper, Dirigent
Die Arcis-Vocalisten München sind ein ca. 50 Mitglieder
umfassender Chor, der sich aus professionell ausgebildeten
Sängerinnen und Sängern, ergänzt um
Studierende der Musikhochschule München, mit
umfangreicher Erfahrung in renommierten Ensembles
der Münchner und bayerischen Konzertszene zusammensetzt.
Die Leitung des Ensembles hat Prof.
Thomas Gropper inne, der nicht nur durch seine sängerische
und pädagogische Tätigkeit, sondern auch als
Moderator und Sprecher beim Bayerischen Rundfunk
einem breiten Publikum bekannt ist.
Die nun veröffentlichte CD umfasst zwei frühe
Kantatenwerke von J.S. Bach. Bei BWV 131 „Aus der
Tiefen“ handelt es sich um die wahrscheinlich früheste
erhaltene Bach-Kantate. Sie entstand 1707/1708 in
seiner Dienstzeit als Organist in Mühlhausen.
Die Kantate BWV 182 „Himmelskönig, sei willkommen“
war Bachs erste Auftragsarbeit am Hof zu
Weimar, wo er jeden Monat eine Kantate zu komponieren
hatte. Sie wurde an Palmsonntag 1714 erstmals
aufgeführt.
J.S. BACH (1685–1750)
Kantaten bwv 131 und 182
FRÜHE MEISTERSCHAFT
Bei den für diese Aufnahme ausgewählten
Kantaten handelt es sich um zwei frühe
Werke Bachs: die Kantate bwv 131 „Aus der
Tiefen“, möglicherweise die früheste erhaltene
Bach-Kantate, dürfte 1707 oder 1708, also in
seiner Zeit als Organist in Mühlhausen entstanden
sein; die Kantate bwv 182 „Himmelskönig,
sei willkommen“ entstand für den Palmsonntag
(= 25.3.) 1714 als erste diesbezügliche
Arbeit für den Weimarer Hof. Entsprechend
fi nden wir Charakteristika des jungen Bach:
So erklingen in bwv 131 nicht selbständige, je
für dich abgeschlossene Einzelsätze, sondern
ineinander übergehende Teile, die eine Nähe
zu anderen Gattungen wie Geistlichem Konzert
und Choralbearbeitung zeigen. Typisch
für die Kantatenform des 17. Jahrhunderts
hören wir gleichsam das Reihenprinzip der
Motette auf die Kantatenform übersetzt. Kleine
Räume (wie die Weimarer Schlosskapelle)
und ein überschaubares Ensemble dürften
eher zu geringer besetzter Musik hingeführt
haben, dennoch fügt Bach zur chörigen (= die
Chorstimmen verstärkende) Orchestrierung
noch solistisch besetzte Instrumente hinzu,
die der einzelnen Kantate einen individuellen
Klangcharakter verleihen: in bwv 182 ist es die
Blockfl öte, in bwv 131 die Oboe. Gerade in
bwv 182 zeigen sich erste Früchte der Beschäftigung
Bachs mit den damals modernen Formen
der italienischen Musik, auch der Oper:
So fi nden sich neben Anklängen an die konzertierende
Praxis speziell im Stil von Vivaldi
auch schon Da-capo-Arien.
„MEINE SEELE WARTET
AUF DEN HERRN“
Die defi nitive Satzfolge der wohl für einen
Bußgottesdienst geschriebenen Kantate „Aus
der Tiefen“ (bwv 131) lässt sich nicht mehr
eruieren, die heutige Auff ührungsversion ist
nur eine Annäherung. Welches der Anlass für
die Komposition war, ist nicht mehr sicher
feststellbar. Alfred Dürr denkt an ein großes
Feuer, das kurz zuvor in Mühlhausen gewütet
und Teile der Innenstadt zerstört hatte. Interessanterweise
hat nicht Bachs Vorgesetzter
an seiner Kirche Divi Blasii, Superintendent
Frohne, diese Kantate in Auftrag gegeben,
sondern Georg Christ, der Pastor der Marienkirche.
Man weiß, dass Frohne als eher orthodox
eingestellter Lutheraner prunkvollerer
Kirchenmusik gegenüber skeptisch eingestellt
war. Die Textgrundlage von bwv 131 besteht
zur
Gänze aus Bibelwort und Choral, es gibt
keine zusätzliche freie geistliche Dichtung.
Nicht nur deshalb, sondern auch wegen der
klaren und konzisen symmetrischen Formanlage
ergeben sich Parallelen zur gleichfalls
in Mühlhausen entstandenen Trauerkantate
„Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“ (bwv 106),
dem Actus tragicus. Der Text ist also aus dem
Psalm 130 (vollständig) und den Strophen 2
und 5 des Liedes „Herr Jesu Christ, du höchstes
Gut“ von Bartholomäus Ringwaldt aus
dem Jahr 1588 zusammengestellt.
Die Anlage: Je ein Chor zu Beginn, in der
Mitte und zum Abschluss, dazwischen (zweiter
und vierter Satz) je ein Solosatz mit Choralstrophe.
Die Chorsätze folgen dem auf die
Vokalmusik übertragenen Prinzip Präludium
und Fuge mit einer mehr oder minder ausgeführten
Einleitung und einem Fugenteil, die
Arien verzichten noch auf die Da-capo-Form.
Das Orchestervorspiel exponiert das Motiv
des ersten Choreinsatzes „Aus der Tiefen“ mit
schwermütig-seufzendem Gestus, akzentuiert
setzt der Chor seinen Anruf Gottes („ruf ich,
Herr“) dazu. Es schließt sich eine spielerische
Chorfuge an (Vivace, „lass deine Ohren merken“),
die immer wieder durch den gemeinsamen
Ausruf „Herr, höre meine Stimme“ strukturiert
wird. Wenn am Ende des Satzes die
„Stimme meines Flehens“ aufklingt, wird dies
durch unmittelbar abbildende Seufzerfiguren
in Chor und Orchester gestaltet.
Im zweiten Satz kombiniert Bach die
Stimme des Solo-Bassisten mit dem Choral
„Erbarm dich mein in solcher Last“ als Cantus
firmus in der Sopranstimme, dazu tritt
noch die Oboe mit Figurationen und motivischen
Korrespondenzen. Im vierten Satz hören
wir den Solo-Tenor mit einem Choral in
Altlage, wo ein Ostinato-Motiv im Continuo
Zusammenhalt stiftet.
Die Einleitung des Mittelchores ist nur
fünf Takte lang breit und blockhaft, von
kurzen Einwürfen von Alt und Tenor unterbrochen,
ruft der Chor aus: „Ich harre des
Herren!“ Dies geht in die gleichfalls ruhige
Chorfuge „meine Seele harret“ über mit ihren
unmittelbar anrührenden Motiven, der lang
ausgesponnenen und synkopierten Linie auf
„harret“ und dem zuversichtlich seufzenden
„und ich hoffe“; darüber figurieren zunächst
Violine und Oboe, später auch die Violen.
Das Präludium des Schlusssatzes zeigt
deutlich das motettische Denken des frühen
Bach: Jeder Textabschnitt wird in Tempo,
Motivik und Satztechnik neu verarbeitet. Der
Anruf Israels langsam und in blockhaften Akkorden;
„hoffe auf den Herrn“ bewegter mit
lebhafter Bewegung in Oboe und Violine, frei
polyphon; „denn bei dem Herrn in die Gnade“
wieder beruhigt und homophon mit charakteristischer
Oboe; „und viel Erlösung bei ihm“
in rascher Bewegung, wieder polyphon und
reichlich umspielt. Die Schlussfuge „und er
wird Israel erlösen“ beginnt continuobegleitet,
allmählich treten die Instrumente hinzu, verdichten
das Geschehen gemeinsam mit dem
Chor und bringen dieses frühe Meisterwerk
Bachs zu prachtvollem Schluss.
Problematisch für die heutige Aufführungspraxis
ist die Divergenz von „Chorton“
und „Kammerton“. Der aus Frankreich eingeführte
Kammerton war auf älteren Orgeln
nicht durchweg realisierbar, da sie aufgrund
ihrer Pfeifenlänge nicht in den Kammerton
umgestimmt werden konnten. Bis 1723 gab
Bach deswegen in der Regel den Holzblasinstrumenten
eine höher notiert Stimme, in
Leipzig dann ab 1723 der Orgel eine tiefer
notierte. Diese Doppelnotierungen führen
mitunter zu Unklarheiten über Bachs wirkliche
Intentionen. Unsere Kantate bwv 131 gibt
es heute in einer g-Moll-Fassung und nach a-
Moll transponiert. Nach längerer Überlegung
haben wir uns für a-Moll entschieden; einmal,
weil es in der Oboe sonst Probleme gibt, dadurch
dass gewisse tiefe Töne nicht gegriffen
werden können; zum anderen, weil der Part
des Chores sonst arg tief und dumpf klingt,
was trotz des Charakters der Kantate unvorteilhaft
erschien.
„So lasset uns gehen
in Salem der Freuden “
Als Bach im März 1714 zum Konzertmeister
des Weimarer Hofes bestellt wurde, gehörte
es auch zu seiner Dienstpflicht, eine Kantate
im Monat zu komponieren. Der Erstling war
am Palmsonntag drei Wochen später „Himmelskönig,
sei willkommen“, bwv 182. Dichter
der Vorlage war Salomon Franck, der als
Herzoglicher Bibliothekar und Aufseher des
Münzkabinetts im Range eines Oberkonsistorialsekretärs
in Weimar wirkte. Dies ließ
ihm genug Zeit, sich dem Dichterorden der
Fruchtbringenden Gesellschaft anzuschließen
und von 1694 bis zu seinem Tod 1725 zahlreiche
geistliche und weltliche Kantatendichtungen
zu verfassen. Alfred Dürr sieht in Franck
vielleicht das begabteste und originellste
Dichtertalent, mit dem Bach zusammengearbeitet
hat, und stellt insbesondere seine reiche
Fantasie und seine Empfindungstiefe heraus.
Anknüpfend an das Evangelium zum
Palmsonntag, Jesu Einzug in Jerusalem
(Mat 21,1–9), begrüßt die einleitende
Sinfonia den Heiland, Bach wählt (wie in der ersten
Vertonung von „Nun komm, der Heiden
Heiland“ bwv 61 zum 1. Advent, an dem dasselbe
Evangelium gelesen wird!) Rhythmus
und Gestus der Französischen Ouvertüre, mit
der im Pariser Opernwesen der König einzuziehen
und seine Loge einzunehmen pflegte.
Was dort dem irdischen Herrscher gilt,
wird nun auf den Himmelskönig übertragen.
Eine Intensivierung erreicht Bach, indem er
die Streicher zunächst pizzicato und erst am
Ende breite Töne spielen lässt. Im folgenden
Da-capo-Chorsatz (Satz 2) beginnt der Chor
mit einer sogenannten Permutationsfuge, die
auf freie Zwischenspiele verzichtet (wie in
Instrumentalfugen sonst üblich) und stets
gleichbleibende Kontrapunkte aneinanderreiht.
Nach einer kanonisch-imitatorischen
Stelle („lass auch uns dein Zion sein“) geht
der A-Teil homophon zu Ende. Zwei kanonisch
geführte Chorstellen („du hast uns das
Herz genommen“) bilden den B-Teil.
Wie in einer guten Predigt beziehen
Franck und Bach den Einzug Jesu in Jerusalem
auf den einzelnen Christen und sein Herz;
Jesus soll auch dort Einzug halten. In den auf
den Eingangschor folgenden Solosätzen Nr.
3 – 6 wird dies nun zuerst aus der Warte Jesu
beschrieben, dann aus der des Gläubigen.
Das Bibelwort „Siehe, ich komme“ (dritter
Satz) beginnt als Rezitativ, geht jedoch nach
wenigen Takten in ein Arioso über, eine Gestaltung,
die Bach in frühen Jahren gern wählte.
Als stimmliche Lage dieser Vox Christi
wählt er hier wie stets an vergleichbarer Stelle
den Bass. Die kraftvolle, nur von Streichern
begleitete Bass-Arie „Starkes Lieben“ (4. Satz)
preist Jesus, der vom göttlichen Thron stieg,
um sich zu opfern. Die ausgedehnte Alt-Arie
„Leget euch dem Heiland unter“, die mit der
Flöte korrespondiert (5. Satz), appelliert an
die Christen, ihr Herz als ein beflecktes Kleid
dem Heiland zu Füßen zu legen, wie das Volk
beim Einzug nach Jerusalem die Kleider vor
ihm ausbreitete. Gerade hier zeigt sich die
stark mystisch-schwärmerische Seite dieser
Dichtung, die sie in der Geistesrichtung des
Pietismus ansiedelt. Die Continuoarie des
Tenors „Jesu, lass durch Wohl und Wehe“ (6.
Satz) ist in ihrer Gestaltung und ihrem scharfen
Ausdruck sicher ein in damaligen Ohren
sehr modernes, unerhörtes Element: auch in
Zeiten der Bedrängnis musste der Gläubige
an Jesu Seite bleiben.
In einigen Aufführungsstimmen des Original-
Materials findet sich nach dieser Arie
die Anweisung, den Eingangschor als Schluss
nochmals zu singen. Dennoch ist unbestritten,
dass dieser Plan schon bei der Erstaufführung
verworfen wurde und Bach noch zwei neue
Chöre anschloss: Zunächst die Choralbearbeitung
„Jesu, deine Passion“ (7. Satz), gestaltet
im Pachelbelschen Typus, d.h. in den
Unterstimmen wird jede neue Choralzeile
imitatorisch vorbereitet, ehe sie in langen Noten
im Sopran erklingt. Auch hier geht Bach
in der Erfüllung eines Vorbildes zugleich neue
Wege, indem er die Vorausnahme der Choralzeilen
je nach Affekt ausarbeitet, durch Koloraturen
bei Freude, durch innige Synkopen
bei „Meine Seel auf Rosen geht“. Im letzten
Chorsatz „Nun lasset uns gehen in Salem der
Freuden“ (8. Satz) wird der himmlische Lohn
aufgezeigt, den der Christ durch Jesu Passion
erlangt: der Weg in die Gottesstadt. Von der
Anlage her bindet sich dieser Chor an den
Eingangschor zurück. Leicht und beschwingt
im tänzerischen Dreiertakt begleitet die Flöte
den Chor; nur beim Leiden, das auch auf diesem
Weg zu finden ist, trübt sich die Harmonie
kurz ein.
Thomas Gropper