Trilogies
Marcel Dupré: Trois Préludes et Fugues op. 7 (1912), Trois
Esquisses op. 41 (1946)
Jehan Alain: Trois Danses JA 120 (1940)
Gunther Rost, Schuke-Orgel der Neubaukirche der Julius-
Maximilians-Universität Würzburg
Marcel Dupré und Jehan Alain gehören zu den bedeutendsten
französischen Orgelkomponisten des 20.
Jahrhunderts. Sie stehen am Ende der großen symphonischen
Orgelromantik, die sich in Frankreich in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entfaltete.
Zu den frühesten Werken Duprés zählen die Trois
Préludes et Fugues op. 7, die auch als seine berühmtesten
Werken gelten. Bei seinen Trois Esquisses
hingegen hatte er bereits sein Vermächtnis im
Blick. Widmungsträgerin ist seine Schülerin Jeanne
Demessieux, die er als seine Meisterschülerin betrachtete
und die sein künstlerisches Erbe weiterführen
sollte. Allerdings kam es schon 1945 zum Zerwürfnis
zwischen Dupré und Demessieux.
Jehan Alain zeigte früh ein unorthodoxes, äußerst
vielseitiges Talent, das sich neben Musik auch auf
Dichtung und bildende Kunst erstreckte. Den
Höhepunkt seines kompositorischen Schaffens bilden
die Trois Danses. Er vollendete das Werk während seines
Fronteinsatzes im zweiten Weltkrieg, den er nicht
überleben sollte.
Zwischen dem Interpreten Gunther Rost und den
Komponisten der auf dieser CD zu hörenden Werke
gibt es mehrfache Verknüpfungen: Gunther Rost
war langjähriger Schüler von Marie-Claire Alain,
der Schwester von Jehan Alain. Sie wiederum war
Schülerin von Marcel Dupré.
Noch während seines Studiums in Paris erhielt
Gunther Rost einen Lehrauftrag an der Würzburger
Musikhochschule, bevor er 27-jährig einem Ruf der
Universität für Musik und darstellende Kunst Graz
folgte, wo er 2008 die Leitung des Instituts für Orgel
übernahm.
Marcel Dupré (1886?– 1971) und Jehan
Alain (1911 – 1940) gehören zu den
bedeutendsten
französischen Orgelkomponisten
des 20. Jahrhunderts. Sie
stehen am Ende der großen symphonischen
Orgelromantik, die sich in
Frankreich in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts entfaltete. Die Instrumente
des genialen Orgelbauers
Aristide
Cavaillé-Coll (1811 – 1899), der
auch durch technische Neuerungen die
Möglichkeiten der Orgel erweiterte,
waren für die Komponisten Inspiration
für eine großartige Blüte der Orgelmusik.
Zu Cavaillé-Colls bedeutendsten
Orgeln zählen jene in der Kathedrale
Nôtre-Dame sowie in Saint-Sulpice in
Paris.
Dupré lernte den Orgelbauer als
Kind noch selbst kennen. Er stammte
aus einem musikalischen Elternhaus
und zeigte schon früh seine außergewöhnliche
Begabung. Seine Lehrer
am Pariser Conservatoire waren die
berühmtesten
Organisten der Zeit:
Alexandre
Guilmant, Charles-Marie
Widor
und Louis Vierne. Dupré verfügte
über eine enorme technische Virtuosität
an der Orgel. Er war zudem ein
begnadeter Improvisator und Pädagoge.
Über Jahrzehnte zählte er zu den
bekanntesten und besten Organisten
der Welt und unternahm ausgedehnte
Tourneen, vor allem in die USA. Ab
1926 war er als Orgelprofessor am Pariser
Conservatoire tätig. Unter seinen
zahlreichen Schülern waren u. a. Jehan
Alain und Olivier Messiaen. Sein Einfluss
als Lehrer und Komponist auf die
Orgelmusik des 20. Jahrhunderts kann
nicht hoch genug eingeschätzt werden.
Dupré hinterließ ein umfangreiches
OEuvre für die Orgel, darunter zählen
die Trois Préludes et Fugues op. 7 zu
den frühesten Werken. Sie entstanden
bereits 1912. Zu dieser Zeit bereitete
sich Dupré auf den Kompositionswettbewerb
um den Prix de Rome vor,
den er nach zwei erfolglosen Versuchen
1914 schließlich auch gewann.

Die Trois Préludes et Fugues sind nicht
nur das herausragende Werk der frühen
Schaffensperiode, sondern eine
der berühmtesten Kompositionen
Duprés
insgesamt. Als er sie erstmals
Organistenkollegen vorspielte, hielten
diese den Schwierigkeitsgrad für so
extrem,
dass eine Publikation undenkbar
schien. 1920 machte Dupré durch
eine Gesamtaufführung des Bachschen
Orgelwerkes in Paris auf sich aufmerksam.
Sämtliche Kompositionen spielte
er auswendig in zehn Konzerten in
wöchentlichem
Abstand – als erster
Organist überhaupt. Im selben Jahr
unternahm
er eine Konzertreise nach
London. Hier und in Konzerten an anderen
Orten wurden seine Trois Préludes
et Fugues vom Publikum begeistert
aufgenommen, sodass sich der
Verleger Leduc zu einer Veröffentlichung
entschloss. Während seiner
weiteren
Konzertkarriere spielte Dupré
die Werke immer wieder und bot insbesondere
das dritte Stück gerne als
Zugabe dar.
Prélude et Fugue H-Dur eröffnet die
Trilogie mit einer fulminanten Toccata
im Carillonstil, das Hauptthema wird
zuerst im Pedal vorgestellt. In einem
leiseren Mittelteil erklingen Durchführungen
des Themas, bevor es nach
einem großen Crescendo im Kanon
zwischen Oberstimme und Pedal als
Reprise aufstrahlt. Eine kurze Coda mit
Pedalsoli leitet zur Fugue über, die im
Thema, das fast ausschließlich aus
durchlaufenden Sechzehnteln besteht,
Motive aus dem Prélude übernimmt.
Das Wiederaufgreifen der Carillonmotivik
am Ende der Fugue verdeutlicht,
dass beide Sätze als untrennbare
Einheit zu verstehen sind.
Die zweite Komposition, Prélude et
Fugue f-Moll, stellt nicht nur tonartlich
einen absoluten Kontrast zum ersten
Stück dar: Eine ruhig dahinfließende,
elegische Melodie wird von hingetupften
Sechzehnteln in aparter Registrierung
(Gambe mit Octavin) begleitet.
Das Fugenthema wird aus dieser Melodie
abgeleitet. Die ernste, in
zurückhaltenden 8´-Klängen registrierte,
scheinbar
endlose Fuge verklingt
schließlich gleichsam im Nichts.
Schnell wirbeln die Sechzehntel des
dritten Prélude in g-Moll dahin. Die
ausgedehnte, wehmütige Melodie, die
vom Pedal in die Oberstimme wandert,
wird im Laufe des Prélude zu einem bis
zu achtstimmigen Satz erweitert, wobei
das Pedal davon vier Stimmen zu
übernehmen hat! Eine grandiose Fuge
schließt die Trilogie ab. Im 6/8-Takt
stürmt die Musik dahin, voller Energie
und mit prächtigem Klang. Hier wird
auch das Thema des Prélude wieder
verarbeitet. Am Ende erklingt es nochmals
in mächtigen Akkorden im Manual,
während das Pedal das Fugenthema
spielt.
In den Jahren 1941 bis 1943 schrieb
Dupré insgesamt zwölf technisch äußerst
anspruchsvolle Studien für seine
Schülerin Jeanne Demessieux. Er hatte
sie erstmals als 15-jähriges Mädchen
spielen hören und war beeindruckt
von ihrem Talent. Zunächst erhielt sie
privaten Unterricht bei ihm, absolvierte
dann ein Studium am Conservatoire
in seiner Orgelklasse und erhielt 1941
einen »Premier Prix«. Dupré arbeitete
fünf weitere Jahre mit ihr und sah in
ihr seine Meisterschülerin, die sein
Werk in seinem Sinne weiterführen
könne. Besonders ihr Pedalspiel lobte
er: Keine andere Frau habe er je so gut
spielen hören! Doch schon 1945 kam
es zum Zerwürfnis zwischen Dupré und
Demessieux.

Die zwölf Studien gruppierte Dupré
nach 1943 zu mehreren Werken um,
darunter die 1945 abgeschlossenen
Esquisses (Skizzen) op. 41. Wenngleich
ein Autograph erhalten ist, das alle
drei Stücke unter dem Titel Trois
Esquisses enthält, führte Dupré 1946
nur zwei davon erstmals auf und veröffentlichte
sie im selben Jahr im
Druck. Die dritte Esquisse in C-Dur (in
dieser Aufnahme an erster Stelle)
erschien
erst 1975, vier Jahre nach
Duprés
Tod. Warum Dupré dieses Werk
zurückhielt, ist unklar.
Alle drei Esquisses beinhalten extrem
schwere und schnelle Pedalstimmen:
Nr. 1 verlangt u. a. auf- und absteigende
Tonleitern, in Nr. 2 hat der
Spieler während der Voix-Céleste-Passagen
im Manual Sechzehntelfiguren
im Pedal zu bewältigen, kurz vor Ende
der Komposition gemeinsam mit Sechzehnteln
in der rechten Hand, in Nr. 3
spielen beide Füße in parallelen
Oktaven
Tonleiterfiguren, während im
Manual Oktavtriller ausgeführt werden
müssen. Doch damit nicht genug: Auch
die Manualparts stellen große Anforderungen
an den Ausführenden. In der
zweiten Esquisse sind die dahineilenden
Sechzehntel (mit aparter Bourdon
8´ + Tierce 1 3/5´-Registrierung) Verbindungen
von Doppelgriffen mit repetierten
Tönen, die dritte Esquisse ist
eine Tour de force mit Oktaven und
vollgriffigen Akkorden. Trotz aller Orientierung
in Richtung technischer Etüden
gelingt es Dupré doch, musikalisch
reizvolle Kompositionen zu schaffen,
die den Zuhörer unmittelbar ansprechen:
Dem Glitzern der Sechzehntelfiguren
in der zweiten Esquisse oder
den kraftvollen Akkordrhythmen im
dritten Stück kann man sich kaum entziehen.
Wie Dupré kam auch Jehan Alain
früh mit Musik in Berührung: Sein
Vater
Albert war Organist und hatte
bei Guilmant studiert. Auch Jehans
Geschwister
Marie-Odile (1914 – 1937),
Olivier (1918 – 1994) und Maire-Claire
(*1926) schlugen eine professionelle
Musikerlaufbahn ein. Obwohl Jehan
Alain erfolgreich am Pariser Conservatoire
studierte, hatte er selbst eine
große
Abneigung gegen alle akademische
Musikausbildung. Während
Duprés
Werke strengen Strukturen und
komplexer Kontrapunktik folgen, hatte
Alain das Bedürfnis, sein schöpferisches
Talent – das sich neben der Komposition
auch in Zeichnung und Poesie
äußerte – jenseits aller Regeln und Vorgaben
zu entfalten. Seine Werke sind
höchst originell und von ungeheurem
Einfallsreichtum.
Einen großen Einfluss auf die spezielle
Klanglichkeit von Alains Werken
hatte die Hausorgel der Familie, die
neben traditionellen, romantischen Registern
wie Salicional, Viole de gambe
oder Flûte harmonique auch zahlreiche
Obertonregister enthielt – erste
Anzeichen einer Ablösung der romantischen
durch die neobarocke Orgelästhetik.
Die Beschäftigung mit Gregorianik
und Alter Musik, aber auch mit
außereuropäischen Klängen, mit Impressionismus
und Jazz hinterließ in
Alains Werken deutlich ihre Spuren. In
den 1930er Jahren entwickelte Alain
neue Tonsysteme und Skalen, unterwarf
sich ihnen aber in seinen Kompositionen
weniger systematisch, als es
beispielsweise Olivier Messiaen tat.
Die Trois Danses JA 120 bilden den
Höhepunkt in Alains Orgelschaffen. Sie
entstanden in den letzten drei Jahren
vor seinem Tod und waren zunächst als
Orchesterwerke geplant. Zunächst skizzierte
er das Werk für Klavier; die Orgelfassung
konnte er während seines
Kriegseinsatzes an der Front noch vollenden
und schickte sie wenige Tage
vor seinem frühen Tod nach Paris. Die
Orchesterfassung, die er bei sich trug,
ging verloren.
Trois Danses thematisiert drei Grundaspekte
des menschlichen Lebens:
Freude, Trauer und Kampf. Die beiden
Gegensätze der ungetrübten Freude
der Kindheit (Joies) und der tragischen
Erlebnisse von Trauer und Schmerz des
reifen Menschen (Deuils) vereinen sich
nach langem Ringen zu einem alle
Facetten
und Emotionen umfassenden
Leben (Luttes). Diese Verbindung wird
auch in der thematischen Struktur
deutlich: In Joies werden zwei Themen
vorgestellt und variiert; das Fanfarenthema
eröffnet den Satz. Wenig später
erklingt in tiefer Lage das zweite
kraftvoll-tänzerische Thema. Deuils basiert
auf einem einzigen Thema, das
durch parallel geführte Akkordschichtungen
in der Art von Mixturklängen in
immer neue Klangfarben gehüllt wird.
Luttes hat keine eigenen Themen, die
drei bisherigen Themen werden wieder
aufgegriffen und am Ende des
Satzes
zusammengeführt. Deuils ist
überschrieben mit »Pour honorer une
mémoire héroïque« (»Zum ehrenden
Gedenken an eine Heldentat«). Alain
wies darauf hin, dass dieser Satz auch
einzeln gespielt werden könne unter
dem Titel Danse funèbre pour honorer
une mémoire héroïque. Er widmete
Deuils seiner 1937 bei einer Bergbesteigung
tödlich verunglückten
Schwester Marie-Odile, ein Ereignis,
das Jehan tief traf und in ihm Vorahnungen
von einem eigenen frühen
Tod weckte.
Dr. Katharina Larissa Paech,
Graz 2010