Fragile
A Requiem for Male Voices
Pierre de la Rue (1460?–1518): Missa pro fi delibus defunctis
Ludwig Thomas · Sting · Kurt Weill · Einojuhani Rautavaara
Hans Schanderl · Knut Nystedt · Eric Clapton
Die Singphoniker
Fragile – der berühmte Song von Stings Album
„Nothing Like the Sun“ ist titelgebend für die
neue CD des Vokalsextetts „Die Singphoniker“.
Der Renaissance-Komponist Pierre de la Rue steht
mit seiner Totenmesse „Missa pro fidelibus defunctis“
im Zentrum eines Programms, das sich mit der
Endlichkeit menschlichen Daseins auseinandersetzt.
Die Gruppe schafft einen Raum der Kontemplation
zu einem der grundlegenden Themen aller Zeiten,
wobei sie der um 1500 entstandenen Messe Musik
unserer Zeit gegenüber stellt. Stings „Fragile“ zählt
dazu ebenso wie Musik des finnischen Komponisten
Einojuhani Rautavaara und von Kurt Weill, aber auch
ein Gospelsong wie „Deep River“ und Eric Claptons
„Tears in Heaven“.
Die Singphoniker wurden erst kürzlich in mehreren
Positionen neu besetzt und pflegen nun mit
verjüngten Kräften alte Tugenden. Charakteristisch
ist die schier entwaffnende Leichtigkeit der mit einem
Countertenor besetzten Oberstimme auf dem kraftvollen,
ungeheuer farbenreichen Fundament vom
Bass bis zu den Tenören. Bei den Singphonikern
verliert die sogenannte „Leichte Musik“ alles oberflächliche,
und das „ernste“ Repertoire wird mit einer
Selbstverständlichkeit präsentiert, die alle Schwellen
vergessen macht.
fragile
Begegnung
Für ein Konzert sollten wir de la Rues Missa
pro fidelibus defunctis einstudieren – ein Requiem
der Renaissance. Vorher hatten wir
kaum etwas über Komposition und Komponisten
gehört. Immer neugierig auf Unbekanntes
gingen wir die Sache an. Nachdem
die Noten auszugraben schon nicht ganz einfach
war, warf eine erste Leseprobe eine ganze
Reihe aufführungspraktischer Fragen auf.
Der Notentext lag „nur“ in der für musikwissenschaftliche
Gesamtausgaben üblichen
Form vor und machte eine Einrichtung für
die „singphonische Singpraxis“ unbedingt
nötig. Noch nie hatte man vorher ein so tief
liegendes Werk gesehen. Die tiefste Bassstimme
reicht hinunter bis zum Kontra-B.
Die „nächsthöhere“ Bassstimme soll immer
noch hinunter zum großen C. Auch wechselt
die Komposition zwischen verschiedenen
Besetzungskombinationen von zwei bis fünf
Stimmen. Die Herausgeber weisen darauf
hin, dass diese tiefe Lage in jener Zeit regional
verbreitet war, und vermuten außerdem,
dass die einzelnen Sätze in unterschiedlichen
Besetzungen gesungen wurden. Sie ordnen
die Stimmen von Introitus und Agnus Dei bis
zu vier Bässen und einem Tenor zu. Andere
Messteile weisen eine Einteilung in Countertenor,
zwei Tenöre und Bass auf. Und rhythmisch
finden sich Stellen, die für das Gros
heutiger Musiker ungewohnt erscheinen, erst
in der neuen Musik wieder üblich sind. Etwa
das gleichzeitige Übereinander verschiedener
Taktarten – damals durchaus Usus. Interessant
auch die Satzfolge, weicht die Textvorlage
nach Introitus und Kyrie mit dem
als Tractus eingefügten Psalm „Sicut cervus
desiderat“ doch vom allseits bekannten Requiemvertonungen
ab, die an dieser Stelle

das Dies irae enthalten, auch von der heute
üblichen liturgischen Folge mit dem Tractus
Absolve Domine. Setzt man die Lebensdaten
de la Rues (1460?–1518) in Bezug zur kirchlichen
Zeitgeschichte (Tridentinisches Konzil
1545–1563), könnte diese Abweichung darauf
zurückzuführen sein, dass die erst dort festgeschriebene
Form des Requiem Grund dafür
ist, warum der franko-flämische Komponist
sich für diese Zusammenstellung
entschieden hat. Abseits dieser vielen Fragen übte
das, was sich dieser Totenmesse – vom ersten
Singen an – an Musik entlocken ließ, sofort
eine besondere Faszination aus. Wir fanden
uns in eine längst vergangene Epoche versetzt,
in einen seltsam fremden Klangraum,
der in vielen Details verschwommen oder im
Dunkel zu liegen schien. Rätselhaft zwar, das
schon, doch von einer unsere Seelen sofort
vereinnahmenden und bezwingenden spirituellen
Kraft, die Verlangen weckte auf ein
Verweilen in dieser Musik. Ein mit allen Sinnen
Erkunden dessen, was ein bedeutender
Musiker jener Zeit (das hatten wir schnell
in Erfahrung bringen können) zum Thema
„Vergänglichkeit“ ausdrückt. In diesem thematischen
Aspekt fühlten wir uns de la Rue
sofort zeitlos nahe. Eine von Anfang an wesentliche
Verbindung sozusagen, die gepaart
mit künstlerischem Willen und einer gehörigen
Portion Neugier unseren Ehrgeiz herausforderte,
die noch unerkannten Bereiche
auch „zu knacken“.
Annäherung
Die Problematik der tiefen Lage besprachen
wir mit Kennern der alten Musik und hörten
in die wenigen Aufnahmen hinein. Unser
Fazit danach: Es soll an jenen „abgrundtiefen“
Stellen auch möglichst „abgrundtief“
klingen. Der Stimmton damals war relativ,
einen Kammerton A mit 440 Hz wie heute
gab es noch nicht. Auf eine Verwendung
von Instrumenten, die den Umfang nach
unten verstärken können – auch das bisweilen
historische Aufführungspraxis – wollten
wir verzichten. Es galt nun die Grenzen nach
unten maximal auszuloten. Dabei war klar,
dass Stimmklang zur Tiefe hin an klanglicher
Intensität und dynamischer Bandbreite verliert,
eine Einschränkung, die es gut abzuwägen
galt. Schließlich ließ sich ein Transpositionsschema
finden, mit dem ein möglichst
„dunkles zum Klingen bringen“ der tiefen
Stellen des Requiems mit den spezifischen
singphonischen Möglichkeiten zu realisieren
war. Immer wieder betraten wir in der
Folge diesen Klangraum mit dem Ziel, darin
heimisch zu werden. Darin wohlgefühlt hatten
wir uns ja eigentlich von Anfang an. Wir
stellten fest, dass nach längerer Abwesenheit
erneuter Zugang immer wieder erarbeitet
werden musste. Manche Stellen wollen bis
heute jedes Mal von neuem entdeckt und
beReleuchtet
werden. de la Rue zu singen bedeutet
für uns, das gewohnte singphonische Terrain,
das immerhin von Gesängen der Gregorianik
bis zur zeitgenössischen Musik reicht und so
gar keine Grenzen ziehen mag, zu verlassen.
Waren wir gut dort angekommen, schienen
wir in der Musik gleichsam zu schweben. Gar
nichts war mehr schwer. Ein Fluss von Tönen,
in der Wirkung transzendent und zeitlos.
Wie ein perfekt konstruiertes Bauwerk,
formvollendet, wohlproportioniert, auf das
Wesentliche reduziert, in seiner Aussage dadurch
absolut gültig, damals, heut’ und alle
Tage.
Gibt es trotzdem Unterschiede in der Art
und Weise, wie Menschen diese Musik – als
Interpreten und Hörer – damals erlebt haben
und heute erleben? Wenn ja, welche? Soll
historische Umsetzung (das, was wir heute
gerade darunter verstehen) für uns relevanter
Interpretationsansatz sein? Sollen wir, um einer
solchen Komposition gerecht zu werden,
versuchen, hunderte von Jahren Musikgeschichte
ungehört zu machen, auszublenden?
All das war ein Teil des Annäherungsprozesses.
Erweiterung
In einem Raum ankommen, ihn annehmen
und beziehen heißt auch, sich ihn einrichten.
Atmosphäre und Klangcharakteristik dieses
Werkes brachten uns auf die verwegene Idee,
ihm mit Musik unserer Tage zu begegnen.
Das Thema hatten wir ja: Tod, Vergänglichkeit,
Zerbrechlichkeit allen Seins. Dabei
könnte de la Rues Werk wie der mächtige
steinerne Bau einer alten Kathedrale erscheinen,
äußere klare und bestimmende Form,
in die hinein zeitgenössische Akzente mit
inhaltlichen Bezug wie neu entworfene Glasfenster
gesetzt sind. Was würde passieren,
wenn wir die Musik unserer Tage in diesen
Klangraum mit hineinnähmen? Dazu mussten
wir den Mut aufbringen, dieses Werk
aufzubrechen, in Teile zu zerlegen. Die Frage,
wo die Kontaktstellen zur Musik unserer Zeit
sein könnten, war die leichtere. Doch welche
Musik passt dort? Wichtigstes Prinzip bei der
Suche, noch vor dem thematischen Bezug,
war der Respekt für die Komposition de la
Rues. Dessen bewusst begaben wir uns auf
die Suche nach möglichen „Fenstern“. „Tod
und Vergänglichkeit“ ist eines der zentralen
Themen der Menschheit, auch in der Musik.
Das muss nicht immer ein Requiem, nicht
einmal geistlich sein. Die Singphoniker wären
nicht die Singphoniker, wenn bei diesem
grenzüberschreitenden Unterfangen nicht
wirklich alle denkbaren Grenzen durchlässig
gemacht werden dürften. Beim Suchen
nach Verbindungen oder Kontrasten haben
wir auch den Titel für dieses Programm gefunden.
„fragile“ sollte es heißen. Ein Wort,
das aus dem Lateinischen (fragilis) stammt
und in den Sprachen Englisch, Französisch,
Italienisch und Deutsch gleichermaßen existiert.
Gleichzeitig ein wunderbarer Song von
Sting. Schließlich war eine Zusammenstellung
gefunden, die uns gleichzeitig kontrastreich
erschien, und in der, wer will, bisweilen
gleich mehrfachen Bezug finden kann (wo
möglich, haben wir bei den Anschlüssen sogar
auf verwandte Tonarten geachtet, mancher
Übergang gerät so noch fließender).
Den Einstieg bildet ein Werk von Ludwig
Thomas: „Mein junges Leben hat ein End’“.
Der Melodie liegt Sweelinks bekanntes, oft
auf der Orgel gespieltes Werk zugrunde. Drei
Strophen kontrapunktischer Vokalsatz, ganz
im Stil des Originals. Danach, noch bevor
die Missa startet, „fragile“ von Sting. Einer
seiner populärsten Titel, auch erster Song auf
seinem am 11. September 2001 eingespielten
Livealbum. Das für die Singphoniker geschriebene
Arrangement von Patrick Ehrich
eröffnet dem Original einige neue Aspekte.
Dann endlich de la Rue: Introitus. Nach den
ersten beiden gegensätzlichen Eindrücken
Eintritt in den Gerüst gebenden Klangraum
und erste konzentrierte Betrachtung desselben.
Anschließend der vielleicht härteste
Kontrast: Kurt Weills „Zu Potsdam unter
den Eichen“ aus seinem Berliner Requiem.
Begleitmusik zu einem Totenzug für einen im
Krieg gefallenen Soldaten: Seltsame Marschanklänge,
mühsam gebändigte Aggression,
lodernde Anklage sinnlosen Sterbens. Ein
weltliches „Herr erbarme dich“? Das folgt
geistlich im Kyrie der Missa, das Weills
heftige Emotion moderiert. Rautavaaras
Baudelaire-Vertonung „La mort des pauvres“
zeigt uns in geheimnisvoll hymnischen Klängen
den Tod als Erlösung aus dem irdischen
Jammertal. Unbeschreiblich der Moment
in dieser Komposition, wo sich nach heftig
aufwärts strebenden Klängen strahlend hell
das Tor zur Ewigkeit, zum Paradies zu öffnen
scheint. Der anschließende Tractus des
Requiems „Sicut cervus desiderat“ ist vielleicht
klanggewordenes Sehnen nach Gott: Wann
endlich werden wir alles Irdische hinter
uns lassend Gott gegenüberstehen? Auch in
„Deep river“ ist diese Sehnsucht zu spüren,
nach dem gelobten Land, in dem alles Frieden
ist. Dabei vermischt diese sich mit der
Hoffnung auf Erlösung im Paradies. Es folgt
das Offertorium, der Gesang zur Gabenbereitung.
In diesem abwechslungsreichen Teil
folgen auf einstimmige gregorianische Intonationen
zweistimmige, vierstimmige oder
fünfstimmige Teile in unterschiedlichen Takten
und Tempi. Hans Schanderls Komposition
„Whispers of Heavenly Death“ fügt sich
auf ganz besondere Weise in das Gesamtkonzept
der CD. Schon der geflüsterte Anfang
lässt aufhorchen und zieht von Anfang an in
Bann. Das polyphone Liniengeflecht erinnert
immer wieder an weit zurückliegende Epochen
und schafft meditative Momente großer
Ruhe. Gleichzeitig setzen expressive stimmliche
Sforzati spannende Akzente, kombiniert
mit sich immer wieder aufschwingenden
bezwingenden Klangballungen. Die Rede
ist von Tränenflüssen, dahinter ein Flüstern.
Durch Wolkenballungen leuchtet bisweilen
ein ferner Stern. Eine unüberwindbare Grenze
wird sichtbar, die nur die Seele allein zu
überschreiten vermag. Die letzten Klänge
münden fast direkt in das Sanctus der Missa.
Jahrhunderte musikalischer Entwicklung erscheinen
in diesem Moment verschwunden,
ohne jegliche Bedeutung. Für uns vielleicht
der faszinierendste Moment im Klangraum
der Zusammenstellung, vielleicht Augenblick
der Verschmelzung zu einem neuen
Ganzen. Das Sanctus ist feierlich, klanglich
opulent, dabei rhythmisch abwechslungsreich,
im Benedictus von großer Innigkeit.
Herrliche Musik eines großen Meisters. In
Nystedt’s „Peace, I leave with you“ sind Worte
des Johannes Vorlage für eine Musik, die
in sanft wechselnden Klangfarben von einem
Frieden erzählt, nicht wie die Welt ihn gibt,
sondern wie ihn nur Gott geben kann. Unser
Friedensgruß. Ein letztes Mal wenden wir
uns der Messe zu. Das fünfstimmige „Agnus
Dei“ erklingt in an den Anfang erinnernden
dunklen Farben. Ein vierstimmiges kurzes
„Lux aeterna“ beschließt die Totenmesse
in versöhnlich hellem Dur. Mit der daran
anschließenden Pop-Ballade „Tears in Heaven“
hat Eric Clapton 1993 einen Grammy

gewonnen. Das trotz Dur melancholische
Stück handelt von der Trauer derer, die zurückbleiben
nach dem Tod eines geliebten
Menschen – in Claptons Fall nach dem tragischen
Unfalltod seines vierjährigen Sohnes.
Zurückbleiben in dem Wissen, dass sie
noch nicht in den Himmel gehören, weiter
ihren Weg durch Tage und Nächte finden
müssen. Auch hier das archaische Motiv von
Sehnsucht auf Frieden im Jenseits und einen
Himmel ohne Tränen. Ganz am Ende steht
das Abendlied „Der Mond ist aufgegangen“.
Matthias Claudius’ Worte und Johann Abraham
Peter Schulz’ Melodie haben einen
festen Platz im deutschen Liedrepertoire.
Ludwig Thomas hat wunderbare Klänge
gefunden für den aufgehenden Mond, den
weitentfernten Sternenhimmel, die Bitte um
einen ruhigen Schlaf, um einen sanften Tod
und die Aufnahme in den Himmel.
Neues?
Was haben wir nun am Ende? Die Geschlossenheit
und den Zusammenhang einer einmaligen
Requiem-Komposition zerbrochen?
Eine überambitionierte Anordnung von musikalischen
Einzelstücken mit an den Haaren
herbeigezogenen Verknotungen? Holprige
Übergänge, wenn man überhaupt von solchen
sprechen mag? Ein seltsames Stilpuzzle,
ja vielleicht gar die Vergewaltigung von aus
ihrem „natürlichen Zusammenhang“ gerissener
Musik? Alle diese Fragen haben wir
uns immer wieder stellen müssen und unsere
Antworten darauf so gewissenhaft wie möglich
geprüft.
Neues!
Am Ende unserer Begegnung mit … Annäherung
an … und Erweiterung von Material
und Thema sind wir guter Dinge, dass es
eine gute Chance gibt für ein neues Ganzes.
In Konzerten mit dieser Programmzusammenstellung
konnten wir Gewissheit dafür
gewinnen, wie – abgesehen von der thematischen
Klammer – gerade im Gesang fließende
Verbindung über gefühlte Ewigkeiten
der Musikgeschichte, aber auch vermeintlich
Galaxien entfernte Stile gelingen kann. Wie
das seit Urzeiten dem Menschen von Natur
aus eigene und seitdem im Wesen gleiche
Instrument Stimme von sich aus mächtige
und zutiefst organische Verbindung schafft,
macht uns immer wieder sprachlos. Gibt
uns zumindest aus dieser Wurzel gewachsene
und tief in der sängerischen Seele empfundene
Gewissheit, dass das so passt. Bleibt uns
nur zu wünschen, dass es den Hörern dieser
Zusammenstellung ähnlich ergehen möge.
Wunderschön wäre, wenn der Klangraum
der CD einlädt, darin immer wieder betrachtend
zu verweilen, dabei neue Facetten und
verborgene Vielfalt zu entdecken. Und wir
erlauben uns zu hoffen, dass gerade die in der
Zeit so flüchtige und so materielos erscheinende
Musik eine Ahnung von Seele, Transzendenz,
Tod und Verklärung zu vermitteln
vermag. Und dass vielleicht das gelassene
Durchhören dieser Musik für einen kurzen
Moment – oder eine gefühlte Ewigkeit – gar
die Last der Zeit von unseren Schultern nehmen
kann und uns himmlischen Sphären ein
Stück näher bringt.
Christian M. Schmidt