Frédéric Chopin
21 Nocturnes
Amir Katz, Klavier
Erst nach vielen Konzertaufführungen und genauer
Quellenforschung entschloss sich der in Berlin lebende
Pianist Amir Katz zu einer Einspielung sämtlicher
Nocturnes von Frédéric Chopin. Dabei versucht er
Chopins Angaben bezüglich Tempo und Dynamik
präzise zu befolgen, berücksichtigt aber auch die
offensichtlichen Freiheiten in der Gestaltung, die für
Chopin und Interpreten seiner Zeit selbstverständlich ein Kaleidoskop der kleinen Form waren. So entsteht eine akribisch gearbeitete, aber
doch lebendige Interpretation, der die Energie des
Spontanen nicht abhanden gekommen ist.
Amir Katz wurde 1973 in Israel geboren und
erhielt dort ersten Klavierunterricht. Seine weitere
Ausbildung absolvierte er in Europa, Amir Katz lebt
in Berlin.
Amir Katz im Interview
Provokative Frage gleich zu Beginn: Brauchen
wir noch eine Einspielung der Nocturnes von
Frédéric Chopin?
Gegenfrage: Wieso nicht? Hätte ich jetzt fünf
ganz verschiedene Aufnahmen angespielt,
wer wüsste mit Sicherheit zu sagen, von wem
sie stammen, welche die beste ist, welche von
mir stammen könnte? Jede Generation von
Pianisten hat ihre eigene Stimme. Es gibt
immer wieder Entdeckungen im Detail, eine
neue Urtext-Ausgabe, neue Instrumente.
Dieses Spektrum unendlicher Möglichkeiten
macht große Kunst unsterblich.
Was macht für dich den Reichtum Chopins aus?
Eine intime Freundin von Chopin, seine
Schülerin und die Tochter von George
Sand, Solange Clésinger, hat das sehr farbig
beschrieben: „Unter den biegsamen und
empfänglichen Fingern von Chopins fahler
und zerbrechlicher Hand wurde das Klavier
zur Stimme eines Erzengels, eines Orchesters,
einer Armee, eines rauschenden Ozeans, einer
Schöpfung des Universums, zum Ende der Welt.
Welch göttliche Majestät! Welche Elementarkräfte,
welche Schreie der Verzweiflung! Welche
triumphale Hymnen! Welche süße Grazie,
welch engelsgleiche Zartheit, welch unendliches
Leid! Was für Trauermärsche und siegesgewisse
Prozessionen! Welch ein Schimmer des Sonnenlichts
auf Blumen in voller Blüte, auf einen
gleißenden Fluss, auf ein Tal duftender Zitronenbäume!
Welche Tränen aus der Tiefe eines
feuchten Klosters! Welch ungeduldiges Wiehern
eines Schlachtrosses, was für Ritter-Duelle, was
für bäurische oder höfische Tänze, unterbrochen
von Säbelgerassel oder dem Kanonendonner
der Zitadelle! Und welch melancholische
Regentropfen, die einer nach dem anderen auf
die Kacheln des Klostergartens fallen!“
Wie verbindlich ist für dich der Notentext mit
seinen Vortrags-, Dynamik- und Tempoanweisungen?
Den Begriff „Urtext“ muss man bei Chopin
leider – oder auch nicht! – relativieren. Zum
einen gibt es sehr viele Quellen, zum anderen
hat Chopin seine Stücke jedesmal ein bisschen
anders aufgeführt, in zahlreichen Varianten,
mit neuen dynamischen Angaben,
Phrasierungen und sogar mit anderen Noten.
Es kann also sein, dass mehrere Fassungen
gleichberechtigt sind, obwohl sie unterschiedlich
sind. Besonders bei den Unterrichtsausgaben
gab es Abweichungen, auch bei den
Verzierungen, die ich interessant fand und
bei dieser Aufnahme verwendet habe. In Jan
Ekiers Ausgabe, die als DIE Urtext-Ausgabe
gilt, steht: „Offensichtliche Druckfehler wurden
stillschweigend von uns korrigiert“. Ekier gibt
in seinen kritischen Anmerkungen sehr wertvolle
Informationen über die verschiedenen
Quellen und die Aufführungspraxis, die sich
aus den Unterrichtsexemplaren ergibt, aber
man muss das wie Jean Jacques Eigeldingers
Buch „Chopin – Pianist and Teacher“ mit
Vorsicht genießen. In beiden Fällen gibt es
Ungenauigkeiten und Subjektives.
Das Rubato und überhaupt die Agogik sind ein
Reizthema, was das Chopinspiel angeht!
Aber das Rubato ist eine ganz feine Sache.
Chopins Schüler Karol Mikuli betont, dass
während die eine Hand begleitet – immer
ganz streng im Tempo, singt die rechte Hand
die Melodie ganz frei, manchmal zögert sie,
manchmal artikuliert sie mit Vehemenz wie
in einer Rede. Nachdem ich Aufnahmen
von Mikulis Schülern Moritz Rosenthal und
Raoul
Koczalski gehört habe, denke ich ist
mit der strengen linken Hand wohl eher der
Puls gemeint, als eine absolut metronomische
Ausführung der linken Hand. Das klänge
störend und unnatürlich. Chopin selbst hat
sich rhythmische Freiheiten genommen, die
er nicht notiert hat. So schreibt er in einem
Brief am 14. November 1829 über eine Schülerin:
„Sie kann wirklich musikalisch fühlen,
man braucht ihr nicht zu sagen: ‚Ein Crescendo
hier, leise da; nun schneller, nun langsamer
usw.‘“ Es wäre unmöglich, solche Freiheiten
zu notieren. Chopins Rhythmen basieren fast
immer – wie italienische Musik – auf Bewegung,
auf einem sehr flexiblen Fließen.
Wie stehst du zu den präzisen Metronomangaben,
die Chopin für seine Stücke gemacht
hat?
Sie bergen bei Chopin ein gewisses Paradox.
Chopin unterscheidet sehr sorgfältig
zwischen Andante, Larghetto, Lento, Lento
sostenuto usw. Allesamt sind sie von einer
Vorstellung des „con moto“, also einer sehr
fließenden Bewegung bestimmt. Ist das ein
Paradox oder spielte man früher langsame
Tempi schneller? Dafür gibt es Anhaltspunkte.
Als ich angefangen habe, diese CD vorzubereiten
und die Nocturnes in verschiedenen
Städten spielte, wollte ich die Metronomangaben
Chopins genau befolgen. Aber ich
merkte schnell, dass man das Tempo nicht
im Voraus festlegen kann. Viele Faktoren bestimmen
das Tempo: die Akustik, der Saal als
solcher, das Instrument, das ja jeden Abend
ein anderes ist. Wichtiger ist es von innen –
mit dem Herzen – eine enge Verbindung zur
Musik herzustellen, als irgendwelche Tempovorgaben
erzwingen zu wollen.
Benenne bitte ein Detail!
Schon in den ersten drei Nocturnes ist der
Unterschied im Charakter enorm, je nach
dem, wie schnell man sie spielt. Sie bekommen
durch das schnellere Tempo eine gewisse
Unruhe. Die Nr. 3 aus op. 9 spielt man
meist recht langsam, dabei heißt die Tempobezeichnung
„Allegretto scherzando“. Diesen
Charakter kann man im Tempo der vorgeschriebenen
Metronomangabe sehr gut treffen,
sonst klingt diese Chromatik ganz nach
„Lento e mesto“, also langsam und traurig.
Hast du ein Lieblings-Nocturne?
Nicht wirklich, ich liebe sie alle sehr! Trotzdem
fällt mir ganz spontan die Nr. 16 in
Es-Dur ein, also op. 55/2. Was die Linke zu
spielen hat, gibt mir das Gefühl von einer
Hand, die zwei Menschen umarmt. Und daraus
entsteht für mich eines der sinnlichsten
Liebesduette in der Musik überhaupt.
Du warst gerade wieder in Polen – auf den
Spuren deiner jüdischen Vorfahren, die den Holocaust
nicht überlebt haben – und hast dort die
Nocturnes gespielt. Wie hat sich das auf dein
Spiel ausgewirkt?
Die Nocturnes zu spielen, bedeutet immer,
auf eine sehr emotionale Reise zu gehen und
ich habe auch in meiner Aufnahme versucht,
den Stücken einen psychologischen Zusammenhang
zu geben, sie als Zyklus zu spielen.
Im Gegensatz zu vielen Menschen, die in
Europa leben und wissen, dass ihre Wurzeln
hier seit hunderten von Jahren sind, sehe ich
mein Leben als eine Art Reise. Ich habe in so
vielen Ländern gelebt, weil ich immer auf der
Suche nach meiner Identität bin. Die Tatsache,
dass ich meine Wurzeln in Polen habe,
verbindet mich mit diesem Land – und mit
meiner Vergangenheit. Vieles kenne ich von
meiner Familie, denn die Juden, die Polen
verlassen haben, haben auch die Kultur und
ihre Gewohnheiten mitgenommen. Dorthin
zurückzukehren und die Gräber meinen Vorfahren
zu finden, ist sehr wichtig für mich.
Ich habe ein Konzert in Jaworzno zu Ehren
meiner Familie gespielt. Und damit hat sich
ein Kreis geschlossen.
Das Interview führte Klaus Kalchschmid