Sehnsuchtswalzer
Schumann: Sehnsuchtswalzervariationen,
Papillons, Intermezzi op. 4, Carnaval
Czerny: Variationen op. 12
Schubert: Walzer und Ländler
Weber: Aufforderung zum Tanz
Herbert Schuch, Klavier
Herbert Schuchs neue CD beleuchtet den Einfluss der
Schubert’schen Walzer, Ländler und Deutschen Tänze
auf die romantische und virtuose Klavierkomposition
im 19. Jahrhundert. Sowohl Schumann als auch
Czerny verarbeiteten beispielsweise Schuberts Sehnsuchtswalzer
in Variationenwerken. Czernys op. 12
trägt den Titel „Variationen über den beliebten Wiener
Trauer-Walzer von Franz Schubert“. Schumanns
Sehnsuchtswalzervariationen erklingen hier in der
von Andreas Boyde nach dem Manuskript ergänzten
Fassung. Weitere Schwerpunkte des Programms sind
Schumanns berühmte Zyklen Carnaval und Papillons.
Die Sehnsucht im Walzer
Herbert Schuch und Marco Frei
sprechen
über das Konzept der CD
Herr Schuch, ist der Sehnsuchtswalzer von
Schubert ein „Trauer-Walzer“ ?
Die Bezeichnung Trauer-Walzer war der Originaltitel,
unter dem er 1821 erschienen ist.
Schubert hat sich nach einem Bericht Joseph
Spauns jedenfalls über diesen Zusatz geärgert.
Schon zu Schumanns Zeiten wurde aber der
Begriff Sehnsuchtswalzer gleichberechtigt gebraucht.
Hierzu schreibt Schumann 1836 in
einer Kritik in der Neuen Zeitschrift für Musik:
„Erste Walzer von Franz Schubert. Kleine Genien,
die ihr nicht höher über der Erde schwebt als
etwa die Höhe einer Blume ist, – zwar mag ich
den Sehnsuchtswalzer, in dem sich schon hundert
Mädchengefühle abgebadet, und auch die
drei letzten nicht, die ich als ästhetischen Fehler
im Ganzen ihrem Schöpfer nicht verzeihe; – aber
wie sich die übrigen um jenen herumdrehen, ihn
mit duftigen Fäden mehr oder weniger einspinnen
und wie sich durch alle eine so schwärmerische
Gedankenlosigkeit zieht, daß man es selbst
wird, und beim letzten noch im ersten zu spielen
glaubt – ist gar gut.“
Warum mochte Schumann den Sehnsuchtswalzer
nicht? Immerhin hatte er doch erst
1833 etliche Variationen darüber komponiert.
Vermutlich war er mit diesen Variationen
nicht wirklich zufrieden, weshalb sie Fragment
geblieben sind. Auf meiner CD bediene
ich mich der Edition meines Kollegen Andreas
Boyde, der vor zehn Jahren eine spielbare
Version des Fragments herausgegeben hat.
Ich habe mir erlaubt, die eine oder andere
Wiederholung einzufügen, weil ich den Eindruck
hatte, dass diese Stücke – übrigens in
einer der drei Niederschriften als „scènes mignonnes“
betitelt – sonst allzu kurz geraten.
Was faszinierte Sie an Schumanns Variationen,
dass Sie sie eingespielt haben?
Dass Schumann Charakterstudien geschaffen
hat. Ich finde es verblüffend, wie viele
und verschiedene Charaktere er darzustellen
in der Lage ist. Man gewinnt einen Blick in
Schumanns Studierstube. Es ist außerdem
spannend zu sehen, wie aus diesem abgebrochenen
Variationenversuch etwas komplett
Neues wird, indem dessen Einleitung nun
plötzlich den Carnaval eröffnet. Und da auch

Carl Czerny den Sehnsuchtswalzer variiert,
wollte ich beide Reflexionen koppeln.
Wie sind Sie auf den Sehnsuchtswalzer gekommen?
Eben durch den Carnaval. Ich empfand dieses
Stück immer als rätselhaft, also habe ich
seine Entstehungsgeschichte nachverfolgt.
Der Carnaval ist für mich eine Art postmodernes
Stück, weil Schumann Dinge zusammenfügt
und klar benennt, die überhaupt
nicht zusammenpassen. Einerseits werden
real existierende Personen der damaligen Zeit
porträtiert (Chopin etwa), andererseits Figuren
aus der Commedia dell’arte (Harlekin
beispielsweise); es gibt imaginäre Ballszenen.
Der Werktitel versucht, dies zu rechtfertigen:
Im Karneval ist alles erlaubt. Das ist ein kluger
Schachzug.
Wo sehen Sie Parallelen zu den anderen
Werken?
Auch in den Papillons hat sich Schumann
mehr oder weniger im Nachhinein oder
durch Assoziationen eine Konstruktion ausgedacht,
die Unzusammenhängendes in
einem Zusammenhang sieht – diesmal ein
Kapitel aus Jean Pauls Flegeljahren. Zudem
sind die Papillons und die Intermezzi aus den
gleichen Skizzenbüchern entstanden, aus ein
und derselben Ideen- und Stoffsammlung.
Es gibt auch staunenswerte Parallelen zwischen
den Papillons und dem Carnaval zu
Webers Aufforderung zum Tanze, die Schumann
als Teenager selbst gespielt hatte: Bei
Weber wird die Einleitung überraschenderweise
wie ein Fazit am Schluss des Werkes
noch einmal zitiert, in den Papillons taucht
auf einmal der erste Walzer am Schluss des
Werkes wieder auf. Im Carnaval gibt es einen
doppelten Rückgriff: Hier werden ebenfalls
Teile aus der Einleitung im Finale eingeschoben,
es gibt aber auch Reminiszenzen
an die Papillons. Ich denke, dass durch diese
Rückgriffe über die Stückgrenzen hinaus
versucht wird, eine Art von geheimnisvollem
Zusammenhang zu schaffen, ähnlich wie sein
vergöttertes Idol Jean Paul, der an einer Stelle
schrieb, er wolle aus all seinen Romanen
einen Roman machen. Zurück zu Weber: Es
ist erstaunlich, wie Weber hier den Typus des
Chopinschen Konzertwalzers vorwegnimmt.
Dieses Werk ist für mich ein Wunder! Zugleich
gibt es Walzer von Schubert, in denen
ich bereits Schumann zu hören meine. Mich
hat also auch interessiert, woher Schumann
und seine Idee des Tanzes kommen. In diesem
Sinne ist die zweite CD als eine Art Anhang
zu verstehen.
Zumal mit den Deutschen Tänzen von Schubert
mindestens indirekt die Brücke zum
Ursprung des Walzers geschlagen wird, zählt
doch der Deutsche Tanz zu seinen Vorläufern.
In Schuberts Autograph des Sehnsuchtswalzers
ist dieser ein Ländler, in der eigenhändigen
Kopie ein Deutscher und in der
gedruckten Ausgabe ein Walzer. Ich glaube,
dass man diese unterschiedlichen Begriffe
zwar verordnen kann, aber sie überlagern
sich auch. Schubert hielt von solchen strikten
Trennungen nicht viel – zumal die Frage
kaum zu beantworten ist, wann und wo der
erste Walzer auftauchte.
Welche Funktion hat der Walzer bei Schumann?
Ich glaube, dass der Walzer Schumann eine
Form an die Hand gegeben hat – einen Vorder-
und Nachsatz, Wiederholungen, die eine
Struktur schaffen. Schumann hatte ein besonders
glückliches Händchen dafür, obwohl
er wohl kein leidenschaftlicher Tänzer war.
Für ihn hatte der Tanz nicht unbedingt diese
Funktion, sondern er war für ihn ein gutes
Mittel, sich selbst zu erlauben, in knapper Zeit
etwas zu sagen.
Auch zur semantischen Brechung zwischen
dem Ich und Ihr, von Mit- und Gegenwelt,
Außen- und Innenwelt, Integration und
Desintegration – die Tonio Krögersche
Sehnsucht,
dazuzugehören?
Schumann hat sicher unter einer fehlenden
Akzeptanz gelitten. Er zählte zu den ersten
Komponisten, die sich bewusst waren, dass
der Musiker, der mit der Welt im Einklang
ist, der Vergangenheit angehört. In den Intermezzi
z.B. ist der Tanzrhythmus doch schon
völlig explodiert! Aber das Verzweifeln an der
Welt äußert sich ja auch in seinen anderen
Werken und nicht nur explizit im Dreivierteltakt.
Und auch Schuberts Doppelbödigkeit
beschränkt sich nicht nur auf den Walzer,
das drückt sich in jeder Note aus. Das
Gefühl, nicht mehr auf normalem Grund zu
stehen – das zieht sich wie ein roter Faden
durch sein Schaffen.
Dennoch prägt dieses Spannungsfeld generell
die Walzer-Rezeption, man denke nur an
Hector Berlioz, Peter Tschaikowsky, Gustav
Mahler oder Dmitri Schostakowitsch. Inwieweit
äußert sich dies auch auf der CD?
In dem Sinne, dass einerseits Werke zu hören
sind, in denen der Zeitgeschmack bedient,
und andererseits solche, in denen dagegen
angespielt, auch aufbegehrt wurde. Generell
überlasse ich das gerne der Fantasie des Hörers,
zumal sich all diese Ebenen auch überlagern
und es mitunter Schnittpunkte gibt.
Aber sicher: In Mozarts Don Giovanni ist es
offenkundig so, dass die gesellschaftlichen
Stände durch Tänze charakterisiert werden.
Und Czernys Variationen über Schuberts
Sehnsuchtswalzer sind natürlich purer Biedermeier.
Womit also Czerny mitten in der Gesellschaft
steht?
Ich höre jedenfalls in seinen Variationen keine
einzige Stelle, in denen sich Dinge ereignen,
die Schuberts harmonische Gebrochenheit
vertiefen. Die Harmonik wird lediglich virtuos
aufgepeppt. So gesehen möchte ich nicht
widersprechen: Das Stück stand tatsächlich
in der Mitte der damaligen Gesellschaft und
des damaligen Geschmacks. Deswegen haben
diese Variationen für mich heute keine große
Aktualität. Ich habe sie eingespielt, weil ich
die Gegensätze zwischen Schumanns und
Czernys Schubert-Variationen so „verrückt“
fand. Außerdem schimmert durch den Flor
der Czernyschen Ordnung immer noch das
Chaos des Schubert-Themas.
Was macht Czerny mit Schuberts Sehnsuchtswalzer,
was Schumann nicht macht?
Schumann macht genau das Gegenteil von
Czerny. Einerseits taucht in den Skizzen zu
seinen Variationen an keiner Stelle der Hinweis
auf, dass irgendwo der Schubert-Walzer
gespielt werden soll. Zum anderen aber verzichtet
Schumann auf jegliche Virtuosität
und lotet tief harmonische Fragestellungen
aus. Dagegen folgen die Czerny-Variationen
dem damals gängigen und beliebten Schema
F, also virtuose Einleitung, Thema und
rasche Steigerung mit einem großen Finale.
Das ist eine Aneinanderreihung von virtuosen
und effektvollen Gesten, und dass da ein
toller Pianist am Werk ist, merkt man den
Stücken natürlich an. Ob sich wohl Schumann ärgert, dass er auf meiner CD mit
einem seiner musikalischen Lieblingsfeinde
zusammengetan wird? 1836 schreibt er recht
gehässig über ein anderes Werk von Czerny:
„Herrn Czerny kann man nicht einholen mit
aller kritischen Schnelligkeit. Hätte ich Feinde,
nichts als solche Musik gäbe ich ihnen zu hören,
sie zu vernichten. Die Fadheit dieser Variationen
ist wahrhaft remarkabel.“