Robert Schumann:
Kreisleriana op. 16 · Arabeske op. 18 · Carnaval op. 9
Michael Korstick, Klavier
Während Michael Korsticks maßstabsetzender Beethoven-
Zyklus langsam aber stetig seiner Vollendung
entgegenschreitet (Vol. 7 erschien im November 2009,
Vol. 8 ist für diesen Herbst in Vorbereitung), zeigt er
auf diesem Album einen anderen Schwerpunkt seines
musikalischen Spektrums. „Florestan und Eusebius“
könnte programmatisch über dem Schumann-Programm
stehen, und das bezieht sich nicht nur auf die
Dualität der beiden fiktiven Charaktere in „Carnaval“,
sondern auch auf das Spannungsfeld in dem sich die
„Kreisleriana“ bewegt.
Die Quadratur des Kreises
Michael Korstick und Marco Frei sprechen
über das Konzept der Schumann-CD
Herr Korstick, in seinem Buch Von Beethoven
bis Mahler schreibt Martin Geck über Schumann,
dass dieser ein romantischer Tonpoet
sei, der formal nicht an Gattungen rüttele,
sondern die Musik als Seelensprache prüfe.
Stimmen Sie dem zu?
Ich denke, die Schlussfolgerung ist richtig. Es
geht tatsächlich bei Schumann um persönlichen
Ausdruck und Seelenzustände. Zuerst
war stets der Inhalt da, und dann ging es
ihm darum, eine eigene und richtige Form zu
finden oder zu erfinden, um die jeweiligen Inhalte
zu transportieren. Bei ihm durchdringen
sich Form und Gehalt gegenseitig.
Geck meint auch, dass der Carnaval ebenso
Schumanns Rolle in der Gesellschaft widerspiegele.
Diese Hypothese scheint mir sehr gewollt,
dem würde ich nicht folgen wollen.
Die Polarität des extrovertierten, leidenschaftlichen
Florestan einerseits und des
elegischen, kontemplativen Eusebius andererseits
ist aber evident, was letztlich auch
unterschiedliche soziale Konsequenzen hat.
Ist das ein Widerspruch, oder bedingen sie
sich gegenseitig?
Oh ja, letzteres ist bei diesem CD-Programm
das entscheidende Element. Das Wichtige ist:
Schumann wäre nicht Schumann, wenn es in
ihm nicht diese beiden gegensätzlichen Charaktere
gäbe – das sind zwei Seiten derselben
Münze, untrennbar miteinander verbunden. Sie
bedingen sich gegenseitig, und wenn sich eine
Seite der Persönlichkeit verändert hätte, hätte
das auch Konsequenzen für die andere gehabt.
Sie hängen unteilbar zusammen. Genau das ist
bei Schumann die interpretatorische Herausforderung.
Warum?
Weil man die Quadratur des Kreises erreichen
muss. Es müssen ganz unterschiedliche
Charaktere mit völlig verschiedenen pianistischen
Mitteln dargestellt werden – als wären
mehrere Interpreten am Werk. Wenn man in

den jeweiligen Einzelstücken der Werkzyklen
immer ein und denselben Pianisten zu hören
vermeint, stimmt etwas nicht; und doch muss
die Handschrift des Interpreten in jedem Takt
wahrnehmbar sein. Andererseits müssen
Schumanns Seelenzustände stets sehr genau
erkannt werden, sie äußern sich aber durch
die Persönlichkeit des Spielers. Es geht also
um eine umfassende Synthese.
Bei Schumann scheint mir auch die Frage des
Pedaleinsatzes von großer Bedeutung. Wie
halten Sie es damit?
Im Gegensatz zu manchen anderen Komponisten
hat Schumann an den entscheidenden
Stellen Pedalmarkierungen gesetzt, und zwar
dort, wo Ungewöhnliches geschehen soll –
wenn beispielsweise Harmonien ineinander
klingen. An anderen Stellen ist nichts markiert,
weshalb man grundsätzliche Entscheidungen
treffen muss. Und das sieht sehr viel anders
aus als sonst: Es gibt bei Schumann tatsächlich
eine eigene Pedalbehandlung.
Inwieweit?
Die Frage ist hier: Welche Farben sind im Zusammenspiel
der Akkorde durch das Pedal
erreichbar, und wie kann man das Pedal dazu
benutzen, um polyphone Verläufe zu verdeutlichen.
Das erscheint wie ein Widerspruch, normalerweise
gilt ja: Je weniger Pedal, desto besser
werden polyphone Verläufe verdeutlicht.
Bei Schumann ist das genau andersherum.
Die Carnaval-Aufnahme ist 1997 entstanden.
Wie stehen Sie heute zu ihr?
Aus Sicht des Interpreten gibt es doch nur
zwei Möglichkeiten: Entweder man sagt, es
sei eine Neuaufnahme nötig – aus künstlerischen
Gründen, weil sich Kenntnis, Voraussetzungen
und die eigene Sicht verändert haben,
oder aber man macht eine Bestandsaufnahme
und sieht, ob alles noch seine Gültigkeit hat.
Beim Carnaval galt für mich Letzteres, was
vielleicht mit meiner generellen Arbeitsweise
zu tun hat.
Weshalb?
Ich mache mir grundsätzlich immer so viele
Gedanken über die Interpretation eines
Stücks, dass ich nicht nach fünf Jahren alles
falsch finde. Ich glaube zudem, dass es keine
Aktualität gibt, wenn man sich ernsthaft mit
Musik auseinandersetzt. Es geht ja um eine
tiefere Wahrheit, und man muss dieser so nah
wie möglich kommen. Das unterliegt keinen
Aktualitätsschwankungen.
Können Sie sich noch an die Umstände und
Atmosphäre bei der Carnaval-Aufnahme erinnern?
Das weiß ich noch genau, weil in der Salle de
Musique im Schweizerischen LaChaux-de-
Fonds alles so wunderbar war. Es war 1997 eines
meiner zwei Plattendebüts – eine CD waren
die letzten drei Beethoven-Sonaten, die
andere das Romantik-Album mit Liszt, Chopin
und Schumann. In LaChaux-de-Fonds hatte
ich einen herrlichen Steinway-Flügel und ein
tolles Aufnahmeteam. Die Romantik-CD mit
Schumanns Carnaval hatte damals hervorragende
Besprechungen, sie hatte mich schlagartig
berühmt gemacht. Auch deswegen hatte
ich den Wunsch, dass diese Aufnahme zugänglich
bleibt.
Warum haben Sie damals für Ihre Romantik-
CD Schumanns Carnaval ausgewählt?
Der Carnaval verkörperte für mich immer den
ganz genuinen und quintessenziellen Schumann
– noch extremer als seine anderen
Stücke.
Sehen Sie das auch heute noch so?
Ja, der Carnaval wirft ein Schlaglicht auf die
ganze Romantik – obwohl es ein relativ frühes
Werk ist und noch in den 1830er Jahren
geschaffen wurde. Der Schatten Beethovens
war immer noch überlebensgroß. Aber wenn
die 1830er Jahre gemeinhin als Dekade des
galanten Stils bezeichnet werden, so hat
Schumanns Carnaval damit nichts am Hut.
Schumann hat hier etwas Revolutionäres geleistet.
Trotzdem könnte man auch Kreisleriana als
Schumanns Schlüsselwerk bezeichnen, zumal
Kreislers Leben und Persönlichkeit – wie
von E.T.A. Hoffmann gezeichnet – bis zum
Wahnsinn frappierende Parallelen zu Schumanns
Leben und Persönlichkeit aufweisen.
Das kann man mit vollem Recht so sehen.
Was ich aber unterschiedlich gewichten
würde, ist, dass der Hörer beim Carnaval
Hintergrundwissen
benötigt: Wer unvorbereitet
auf den Carnaval losgelassen wird, kann auf
Anhieb nicht alles verstehen. Bei Kreisleriana
hingegen sehe ich etwas gelungen, was bei
großer Kunst immer der Fall ist: Das steht und
geht ohne Erklärung. Der Hörer braucht nichts
über Schumann, E.T.A. Hoffmann oder Kreisler
zu wissen. Das Stück ist in sich so genial, dass
die Vorlage völlig hinter der musikalischen
Wirksamkeit zurücktritt.
Ist Kreisleriana Ihr Favorit?
Kreisleriana ist mein persönliches Schumann-
Lieblingsstück. In Carnaval haben wir noch
ganz dezidiert mit den beiden Charakteren
Florestan und Eusebius zu tun. Es ist sogar so,
dass Schumann zunächst – ähnlich wie in den
Davidsbündlertänzen – jedes einzelne Stück
Florestan oder Eusebius zugeordnet hatte. Bei
Kreisleriana haben wir hingegen eine größere
Sinntiefe: Schumann ist aus dieser Spaltung
schon ein großes Stück zu sich selbst gekommen.
Womit Sie auch sagen, warum Sie beide
Werke für diese CD gekoppelt haben.
Genau. Während der Carnaval von der Polarität
Florestan und Eusebius geprägt ist,
werden diese Widersprüche in Kreisleriana
in dem Sinn aufgehoben, als sie organisch
miteinander verbunden werden. Auch wenn
ein Erbsenzähler, der alles schematisch sehen
will, womöglich einzelne Stücke Florestan
oder Eusebius zuordnen würde.
Was möchte die kleine Arabeske op. 18 zwischen
den beiden großen Zyklen? Möchte sie
vermitteln, oder führt sie einen anderen Ton,
einen anderen Aspekt ein – eine Art Gegenwelt?
Sie sollte tatsächlich einen anderen Ton einführen.
Die emotionalen Gezeitenwechsel in
den beiden großen Zyklen sind gigantisch.
Zwar gibt es bei der Arabeske auch Kontraste
in den Zwischenteilen, aber sie will viel weniger.
Es gibt in ihr nicht diese unglaublichen
Stimmungsschwankungen – von himmelhoch
jauchzend bis zu Tode betrübt. Das ist insgesamt
ein relativ ausgeglichenes Stück, gewissermaßen
die Ruhe im Auge des Sturms.
Führt uns die Arabeske vor Ohren, wonach
sich Schumann zeitlebens sehnte?
Wenn man das Stück von seinem Schluss her
betrachtet, glaube ich das ganz sicher. Das
„Ver-rückte“ hier ist doch, dass die Coda –
trotz der relativen Kürze und der formal recht
einfachen Struktur des Stücks – unvermittelt
das Fenster zum Universum weit aufreißt. Hier
erreicht Schumann Momente eines absoluten,
abgeklärten Friedens wie sonst nirgendwo.
Das sind für mich die erstaunlichsten Einzeltakte,
die Schumann überhaupt geschrieben hat.
Schumann sehnte sich nach irdischem Frieden,
und in dieser Coda hat er ihn gefunden.
Hat die Polarität Florestan–Eusebius das
Konzept der CD maßgeblich geprägt?
Nicht vordergründig, zumindest aber hat der
Aspekt bei dieser spezifischen Werkauswahl
eine größere Berechtigung als bei einer anderen.
Auf dem CD-Cover sehen Sie mich
zwischen zwei Flügeln und zwischen zwei
Tastaturen. Das hat durchaus eine bestimmte
Aussage. Ich sitze zwischen zwei Klaviaturen,
und bei Schumann spielt man ebenso auf zwei
seelischen Klaviaturen.
Sitzt man auch zwischen zwei Stühlen?
(lacht) Eben nicht. Man sitzt wirklich zwischen
zwei Klaviaturen – auf einem Stuhl und mit
beiden Beinen auf der Erde.