Frédéric Chopin
Klaviersonate Nr. 2 b-Moll op. 35 · 24 Préludes op. 28
Hélène Tysman, Klavier
Der lesenswerte Booklettext zu dieser CD versucht, den
eigenen Reiz, den die Chopin-Interpretationen der
französischen Pianistin Hélène Tysman ausmachen,
in Worte zu fassen. Noch empfehlenswerter ist es
jedoch, diese CD einfach anzuhören, und schon nach
kurzer Zeit wird der Hörer von einer besonderen
Faszination ergriffen, eine eigentümlich innere Kraft
ist dem Spiel dieser 27jährigen Pianistin eigen. Sie
studierte bei Bruno Rigutto am Conservatoire National
de Paris, sowie bei Pierre-Laurent Aimard (Köln),
Oleg Maisenberg (Wien) und Grigory Gruzman
(Hamburg und Weimar). Obwohl die hier aufgenommenen
Werke zum vielgespielten pianistischen
Standardrepertoire gehören, gewinnen sie doch bei
Hélène Tysman eine persönliche Aussage, eine subtile
Energie, die das Programm besonders hörenswert
machen.
Seit jenem denkwürdigen Samstag im Oktober
2005, als wir das Glück hatten, in
Warschau zum ersten Mal Hélène Tysman
Chopin spielen zu hören, bis Anfang 2008,
als wir gemeinsam beschlossen, diese CD aufzunehmen,
schien dieses Projekt nicht rationalisierbar.
Wie kommt es, dass eine Künstlerin,
eine Interpretation, ein Gefühl sich
einem so aufdrängen, dass man den Alltag
beiseite schiebt und seine Energie für diese
junge Pianistin einsetzt, der es daran gewiss
nicht mangelt?

Vielleicht erlauben es die der Aufnahme
begeistert gewidmeten Stunden, das Geheimnis
ein wenig zu lüften: Warum Hélène Tysman?
Warum Chopin?
Auch wenn Chopins Zeit nicht arm war
an Virtuosen (denken wir nur an Czerny,
Moscheles, Kalkbrenner, Thalberg, Liszt
und natürlich Heller, Alkan und auch Gottschalk),
so ist der polnische Komponist dennoch
der einzige, dem es gelungen ist, eine
bleibende Spur zu hinterlassen, die 50 Jahre
später Debussy ermöglichte
1. Worin besteht
Chopins Leistung? Da ist einmal das in seiner
Weite und Modulationsvielfalt einzigartige
Tongewebe (Cortot sprach von Moiré, einer
wellenförmig schimmernden Seide), aber
auch eine Freiheit der Phrasierung (es ist, als
bemächtigte sich der Atem der Zeit – rubato:
gestohlene Zeit! –, damit man sie umso
mehr schätzt), die allerdings mehrere Generationen
von Interpreten zu den berüchtigten
Übertreibungen veranlasste. Dann ein musikalisches
Genie, das sich bei Veranstaltungen
im Freundeskreis besser zu entfalten weiß als
bei den artistischen Konzerten, wie sie Liszt
bevorzugte. Dann ein für seine Zeit (ich wollte
„Jahrhundert“ schreiben) ungewöhnlicher
Mut: Hiervon zeugt das im wörtlichen Sinne
„unerhörte“ Finale der b-Moll-Sonate. Und
schließlich und in erster Linie eine absolute
Strenge, wie sie in ausgezeichneter Weise die
24 Préludes kennzeichnet, deren Rückgriff
auf Bach schon oft nachgewiesen wurde. Ihr
Aufbau, der dem Quintenzirkel der

Harmonielehre folgt, spricht für eine große Neigung
zur Komplexität.
Aber da gibt es noch etwas anderes: 1996
erwähnt André Boucourechliev in seinem faszinierenden
Buch „Regard sur Chopin“, das
er kurz vor seinem Tod verfasst hat, die blue
notes, die der Komponist in seine Préludes
eingestreut hat. Jean-Jacques Eigeldinger hat
diesem „blauen Ton“ im Prélude Opus 45 ein
ganzes Kapitel seines Buches über das „Univers
musical de Chopin“ gewidmet. Er zitiert
den (hier als Motto vorangestellten) Text von
George Sand, in dem die Schriftstellerin, die
auch die Rolle der Geliebten und Mutter
spielte, den synästhetischen Vergleich wagt,
der schon ein wenig impressionistische DNA
enthält – Jazzliebhaber haben bestimmt das
ikonische Label Blue Note bemerkt… Aber
was hat das alles mit Hélène Tysman zu tun?
Ihr ist es gelungen, unseren Ohren die
Stimmung dieser seltenen Alchimie zugänglich
zu machen: Es gibt nur wenige Interpreten,
die in der Treue zur Partitur unbestechlich
geblieben sind und die es dennoch
geschafft haben, ihr Leben einzuhauchen,
den absolut notwendigen Atem, der, so
scheint es zumindest, den Vortrag des Komponisten
selbst ausmachte. Hélène Tysman
besitzt die seltene Gabe, uns zu Beginn eines
jeden Préludes, eines jeden Sonatensatzes bei
der Hand zu nehmen, so dass wir den Atem
anhalten angesichts der unglaublichen Farbund
Tonpalette, die sie bis zum letzten Takt
hervorzuzaubern vermag… Und gleichzeitig
hält sie in uns das Bedürfnis wach, sie bis ans
Ende der Geschichte zu begleiten, bis zur
nächsten Seite. Dieser Lebensatem opfert
nichts der schäbigen Mode der „D-Zug-Interpretation“,
deren furchteinflößende Mechanik
jede Musikalität zerstört.

Aus diesen Gründen möchten wir, jenseits
von Interpretationsrichtungen und
-schulen, Hélène Tysmans Darbietung mit
all jenen genießen, die diese Musik lieben,
und Chopins Musik in ihrer strengen Freiheit
wiederfinden, in ihrer Bestimmtheit,
den weit gefächerten Nuancen, die von subtil
bis wild reichen. Dies ist die Daseinsberechtigung
dieser ersten Aufnahme, die schon jetzt
Lust auf mehr gibt…
(Übrigens: Haben Sie schon gehört, wie
sie Bach spielt?…)
Zwischen 1837 und 1839 entwirft und vollendet
Frédéric Chopin die 24 Préludes Opus 28
und die b-Moll-Sonate Opus 35. Damit beginnt
das letzte der drei „schöpferischen“
Jahrzehnte des Komponisten (beginnend
mit den ersten Polonaisen in g-Moll und BDur
von 1817 bis hin zu den beiden letzten
Mazurken Opus 67 in g-Moll und Opus 68 in
f-Moll von 1849).
Chopin, der seit 1831 in Paris wohnt,
erlebt in dieser Zeit eine neue Reife. Er hat
Ende 1836 bei Liszt und Marie d’Agoult
2
George Sand kennen gelernt, die sich Baronin
Dudevant nennt und die Geliebte von
Michel de Bourges ist. Seine platonische
Beziehung zu Maria Wodzinska und die
gemeinsamen Heiratspläne zerschlagen sich
1837 nach einem kurzen Brief, in dem er mit

ihr bricht
2. Nach reiflichem Überlegen
4 geht
George Sand
5 im Mai 1838 „zur Attacke“ über
und sendet ihm diese persönliche Botschaft:
„Man verehrt Sie“, unter die ihre Freundin,
die Schauspielerin Marie Dorval (deren Ruf
das wahrscheinlich übertriebene Gerücht einer
„zarten“ Freundschaft zu Sand in Umlauf
gesetzt hatte), die Worte „ich auch, ich auch,
ich auch!“ setzte…
In den folgenden neun Jahren ihrer Beziehung
(beinahe ein Rekord für George!) lässt
Chopin seiner Kreativität freien Lauf in einer
Atmosphäre, die seinen Gefühlen zuträglich
ist: einerseits ist da die Spannung der Liebesbeziehung
(dazu gehören die drei Monate
„Abenteuer“ auf Mallorca), andererseits aber
auch der mütterliche Kokon, zu dem George
Sand Nohant umfunktioniert, wo Chopin
die Sonate fertigstellt, und all das inmitten
des wunderbaren künstlerischen Pariser und
Europäischen Mahlstroms, in dem sich Chopins
Genialität frei entwickelt.
Aber die beiden Werke sind nicht nur
chronologisch miteinander verbunden. Jedes
schöpft aus den klassischen Quellen (der
Sonatenform, dem barocken Präludium), so
dass die transzendierende Modernität nur
umso deutlicher hervortritt. Was die Préludes
betrifft, das längste der Chopinschen Werke,
so vereinigen sie bereits verschiedene Mikrokosmen,
die in den späteren Werken wieder
auftreten.
Die b-Moll-Sonate Opus 35
Diese Modernität tritt besonders deutlich bei
der Sonate Opus 35 in Erscheinung, die der Sonate
von Liszt vorausgeht, die dieser vierzehn
Jahre später komponieren wird. Schumann
hebt hervor: „Er hat sie ,Sonate‘ genannt, man
könnte dies als eine Laune, ja eine Anmaßung
bezeichnen, denn er hat vier seiner extravaganten
Kinder zu einer Bande zusammengestellt,
um sie so durchzuschmuggeln…“
Zum Trauermarsch des dritten Satzes
und, in geringerem Ausmaß, auch zum
Scherzo, das den zweiten Satz bildet (und
folglich das fünfte der vier Scherzi Chopins),
ist wahrscheinlich schon alles gesagt worden.
Die Komplexität und der Reichtum dieser
Seiten lässt sich auf dem bescheidenen Raum,
der uns in diesem Begleitheft zur Verfügung
steht, gar nicht angemessen behandeln. Beschränken
wir uns daher darauf, die beiden
anderen Sätze zu kommentieren.
Im ersten Satz wiederholt Hélène Tysman
die gesamte Exposition inklusive der Einleitungstakte,
so wie es vorgeschrieben ist. Es ist
erstaunlich, wie viele (als Referenz geltende!)
Ausgaben das Wiederholungszeichen erst vor
dem fünften Takt anzeigen. Überlassen wir
die Erklärung Charles Rosen: „Gleich nach
dem Doppelstrich des fünften Taktes, der einer
Verdoppelung des Tempos entspricht, sind die
beiden Notenlinien mit einem Doppelpunkt
versehen, was normalerweise bedeutet, dass von
hier an die Stelle zu wiederholen ist. Resultat:
was ein entscheidender Moment sein sollte,
wird ein ungeschickter Unsinn […] Ein Blick
auf eine Photographie der Handschrift, die sich

in Warschau befindet, genügt, um festzustellen,
dass der Doppelpunkt eine Idee des Druckers
ist. Ein Faksimile der ersten Seite findet sich in
der berühmten Paderewski-Edition. Was diesen
spezifischen Punkt anbelangt, sind die Pariser
und Londoner Ausgaben zu berücksichtigen, da
die deutsche Edition fehlerhaft ist.“
Verweilen wir auch kurz beim letzten
Satz dieser Sonate, der noch heute, 170 Jahre
später, wirklich außerordentlich ist, und den
Hélène Tysman aus unserer Sicht verständlich
und authentisch wiedergibt. Chopin
sagte diesbezüglich: „Ich komponiere gerade
eine Sonate in b-Moll, in der sich der Marsch
befindet, den du kennst. Diese Sonate besteht
aus einem Allegro, einem Scherzo in es-Moll,
dem Marsch und einem kurzen Finale: nicht
mehr als drei Seiten in meiner Handschrift.
Nach dem Marsch spielt [einige übersetzen:
„schwatzt“] die linke Hand einstimmig mit der
rechten“ (Brief an Julien Fontana, Nohant,
10. August 1839).
Lassen wir die üblichen pseudoliterarischen
Interpretationen beiseite (das Rauschen
des Windes zwischen den Gräbern…)
und konzentrieren uns, zusammen mit André
Boucourechliev, auf das einzigartige Wesen
dieses Satzes: „Das Presto am Schluss ist
der helle Wahnsinn. Ein Lauf in den Abgrund,
sotto voce. Zwei, drei unverzüglich zurückgenommene
Crescendi stehen oder stehen eben
nicht in den unzähligen Ausgaben. Von ihnen
einmal abgesehen, wird keine Nuance, keine
Tempovariation gespielt […]. Die Partition
verlangt, dass man direkt drauflos geht – auf
das Beil des Henkers.“ Beiläufig bemerken wir,
dass Chopin nur eine einzige Anweisung fürs
Pedal gibt, und das in Takt 75 – dem letzten
Takt. Davor nur sotto voce und legato. Sonst
nichts.
24 Préludes Opus 28
24 Préludes in 24 Tonarten: Bachs gütiger
Schatten ist da nicht weit. Wir wissen, dass
nur die Partitur des Wohltemperierten Klaviers
Chopin auf seiner Reise durch Mallorca begleitete
(um sie zu korrigieren, denn der besessene
Perfektionist hielt die Ausgabe seiner
Zeit für fehlerhaft!). Wir wissen auch, dass
Chopin der chromatischen Folge den Quintenzirkel
der Harmonielehre vorzog. Marie-
Paule Rambaud erwähnt diesbezüglich
einen
anderen Einfluss, wenn sie Couperins
Definition aus „L’art de toucher le clavecin“
aufgreift: „Prélude heißt eine freie Komposition,
in der sich die Einbildungskraft all dem
zuwendet, was ihr vor die Augen kommt.“
Liegt es vielleicht an dieser Definition, dass
Wanda Landowska in Chopin „einen romantisch
gefärbten Couperin“ sah? Zumindest haben
wir nun einen Grund, uns nicht über das
Fehlen der Fugen auszulassen…
Es wäre vergeblich, in diesem „Kaleidoskop
der Gefühle und der lebhaften, kontrastreichen
Klimavielfalt“ (T.A. Zielinski) eine Einheit,
welcher Art auch immer, suchen zu wollen.
Genießen wir also diese wunderbare Vielfalt,
ohne sie gleich zu katalogisieren (Chopin
wehrte sich übrigens gegen Sands Analyse
einer imitierenden Harmonie; und Gott sei
Dank sind die Namen, die sie jedem einzelnen
Prélude zuordnete, verloren gegangen!).
Übrigens hat Chopin den von Pleyel gewährten
Vorschuss von 500 Francs (auf die
2000 Francs, also ungefähr 3000 Euro, des
Gesamthonorars) dazu genutzt, seine Reise
auf die Balearen zu finanzieren – schließlich
werden damit die spanischen Zollkosten bezahlt,
um am 17. Januar 1839 das von Pleyel
versandte Klavier freizukaufen – also fünf
Tage, nachdem die Préludes wie vereinbart
am 12. Januar an Fontana nach Paris geschickt
wurden
6. Um sein Werk fertigzustellen,
stand Chopin also nur ein Mietklavier
zur Verfügung, dessen mittelmäßiger Zustand
ihn sehr störte (seine Briefe erwähnen
das Instrument während den drei in der Villa
Son Vent und danach in Valldemosa verbrachten
Wochen
7).
Die Préludes lassen sich in vier Gruppen
einteilen. Die ersten sechs bilden eine Art
Einleitungskapitel, in dem den drei fröhlich
mitreißenden Stücken in Dur drei melancholische
in Moll gegenüberstehen. Die ersten
beiden Préludes haben keine Versetzungszeichen.
Nr. 1 beginnt agitato in C-Dur, der
Grundtonart, während Nr. 2 (Lento), das das
Thema eine polnischen Volksliedes aufgreift
(„der Hopfen“), zwischen verschiedenen
Tonarten schwebt, um sich dann, wie vorgesehen,
für a-Moll zu entscheiden.
Die folgenden vier Préludes halten sich
an den Tonartenwechsel. In Takt 22 des
3. Préludes in G-Dur (Vivace) taucht beinahe
magisch ein lydisches fis auf, das den
zeitgenössischen Komponisten wohlbekannt
ist und eine für seine Zeit ungewöhnliche
Tonart vorwegnimmt. Danach kommen das
4. Prélude in e-Moll (Largo), das um eine unaufhaltsame
chromatische Abwärtsbewegung
angeordnet ist, das 5. in D-Dur (Allegro
molto), lebhaft und bewegt, und schließlich
das 6. in h-Moll (Lento assai) im Wiegen der
Barkarole.
Die nächsten fünf Préludes bilden die
zweite Gruppe des Werks. Sie stellen die Bearbeitungsart
der ersten Gruppe um: diesmal
enthalten die beiden Moll-Stücke eine dynamische
Aufwärtsbewegung. Das 7. Prélude in
A-Dur (Andantino) gehört zu den kürzesten
(16 Takte). A. Delapierre erzählt, dass Chopin
es nach einem Abendessen, zu dem er
eingeladen war, vorgetragen hatte, als er sich
der Aufforderung, doch „etwas zu spielen“
nicht entziehen konnte. Als sich die Gastgeberin
über die Kürze wunderte, soll er geantwortet
haben: „Ich mache Sie darauf aufmerksam,
dass ich sehr wenig gegessen habe…“
Das Prélude Nr. 8 in fis-Moll (Molto agitato)
erweist sich so technisch wie eine Tonübung.
Die Folge von chromatischen Akkorden und
die Tonartenwechsel im 9. Prélude (Largo)
führen zum 10. in cis-Moll (Allegro molto),
dessen kontrastreicher Aufbau (Bildhaftigkeit
/ Akkorde) an das Impromptu in as-Dur
Opus 90 von Schubert erinnert, wie Zielinski
bemerkte. Was Nr. 11 in B-Dur betrifft, so
schrieb Cortot, Chopin habe vielleicht Vivace
gewählt, um auf keinen Fall in die Manieriertheit
abzugleiten.
Die Préludes 12 bis 18 bilden das Herzstück.
Die drei längsten (Nr. 13, 15 und 17)
befinden sich in dieser Gruppe, und ihre Gegensätze
verstärken sich (bis zum Presto con
fuoco von Nr. 16). Ein fantastischer Ritt führt
von Nr. 12 in gis-Moll (Presto) zum ruhigen
und beinahe statischen Nr. 13 in fis-Dur (Lento),
gefolgt von Nr. 14 in es-Moll (Allegro pesante),
das ans verwirrende Finale der Sonate
Opus 35 erinnert mit den Unisono-Oktaven in
beiden Händen. Wir werden wohl nie erfahren,
ob die berüchtigten „Regentropfen“ von
Valldemosa Chopin zu seinem Prélude Nr.
15 in Des-Dur (Sostenuto) inspiriert haben,
wie es George Sand erzählt und wie man seit
über 150 Jahren nicht aufhört zu berichten…!
Diese außerordentliche Popularität verringert
keineswegs die Schönheit dieses Stücks, das
das längste der Gruppe ist.
Im Prélude Nr. 16 in b-Moll (Presto con
fuoco) findet man den virtuosen Lauf der
rechten Hand wieder, der den ersten Satz
der Sonate Opus 35 beschließt und der Cortot
dazu verleitete, darin eine Anspielung
auf Goethes „Faust“ zu sehen. „Nr. 17 in As-
Dur (Allegretto) beginnt lächelnd und endet
dramatisch“ (Boucourechliev). Chopin hatte
seiner Schülerin Camille Dubois O’Meara
8
anvertraut, dass die letzten Takte vom „Klang
eines alten Glöckleins im Landhaus, das 11 Uhr
schlägt“, eingegeben worden seien. Nr. 8 in
f-Moll (Allegro molto), ein kurzes aber
eindringliches Stück, beschließt diese dritte,
wichtige Gruppe.
Die sechs letzten Préludes nehmen den
Gegensatz der Moll-Dur-Tonarten noch stärker
wieder auf als die ersten sechs. Nr. 19 in
Es-Dur (Vivace) erinnert in seiner scheinbar
leichten Sorglosigkeit an Schumann. Wir wissen,
dass dieser Bewunderer Chopins, nachdem
er die Variationen über Mozarts La ci darem
la mano für Klavier und Orchester Opus 2
in B-Dur zum ersten Mal hörte, gesagt haben
soll: Hut ab, meine Herren, ein Genie!
Das Prélude Nr. 20 in c-Moll (Largo),
das Jane Stirling, eine (schwer in Chopin
verliebte) schottische Schülerin „das Gebet“
nannte, klingt wie ein Choral; Chopin hatte
den ursprünglich neun Takten drei weitere
angefügt, um Pleyels Bitte zu entsprechen,
der dessen Kürze bedauerte. Nr. 21 in B-Dur
(Cantabile) entwickelt sich in einer zärtlichen
und entspannten Atmosphäre, auf die
das Gewitter von Nr. 22 in g-Moll (Molto
agitato) folgt. Chopin gibt klar an, dass das
Prélude Nr. 23 in F-Dur moderato zu spielen
sei, eine Vorgabe, die Hélène Tysman beherzigt,
da sie nicht der allzu oft beanstandeten
übertriebenen Schnelligkeit verfällt. Vergessen
wir nicht den Zauber des es, dieses
wahrlich blauen Tons, der hier und da in der
Partitur auftaucht und im vorletzten Takt
aufgegriffen wird, und der diesem Prélude
seine eigenartige Färbung und sein unendliches
Glücksgefühl verleiht.
Ein letzter Gipfel wird mit dem Prélude
Nr. 24 in d-Moll (Allegro appassionato) erreicht.
Chopin hat diese Tonart selten verwendet
(alles in allem vier Mal und in posthum
veröffentlichten, kleineren Werken),
aber ist es nicht auch die Tonart des Finales
aus Mozarts Don Giovanni…? Die Musik, so
schrieb Gide, „stürzt am Ende in eine schreckliche
Tiefe, sie erreicht den Grund der Hölle“
– nach einer Abwärtsbewegung über mehr
als sechs Oktaven bis zum tiefen D, dem der
wunderbare Steinway dieser Aufnahme eine
Resonanz von seltener Harmonie verleiht.
Hervé & Catherine Dumesny
Übersetzung: Alexandra Richter
1In die von ihm überarbeitete Fassung der Walzer-
Partitur schreibt Debussy: „Auch wenn die Freiheit Harmoder
Form einige Kritiker zu täuschen vermochte […]
so muss man dennoch den Wert der Anordnung und
der sicheren Einteilung verstehen.“ ( J.J. Eigeldinger:
Univers Musical de Chopin)
2 Noch am selben Abend sagt Chopin zu seinem
Freund Hiller: „Was ist die Sand doch für eine unsympathische
Frau! Ist sie überhaupt eine Frau? Ich
wage es zu bezweifeln.“ Aber da sie viele gemeinsame
Freunde haben, sehen sie sich regelmäßig…
3 Chopin hatte ein idealisiertes Bild des jungen
Mädchens, das vollkommen unter dem Einfluss
seiner Eltern, besonders der intelligenten und
energischen
Mutter stand.
4 Vgl. den Brief an Albert Grzymala (einen gemeinsamen
Freund von Sand und Chopin) Ende Mai
1838.
5Sie lebte zu der Zeit in wilder Ehe mit dem Schriftsteller
und Hauslehrer ihres Sohnes Félicien Mallefille.
6Vgl. „Correspondance de Chopin“. Anbei sei der
amüsante Umstand erwähnt, dass Chopin, wohl
aus Höflichkeit, am 22. Januar 1839 an Pleyel
schreibt, er habe seine Préludes auf dem Pianino
beendet…
7Brief von G. Sand an die Gräfin Marliani vom 15.
Januar 1839: „Endlich ist sein Klavier in Palma angekommen;
aber es steckt beim Zoll fest. […] Chopin
spielt auf einem armseligen mallorquinischen Piano,
das mich an jenes von Bouffé im ,Pauvre Jacques‘
[einem Vaudeville-Stück der Zeit] erinnert.“
8Eine außergewöhnliche Schülerin: Nichte des
irischen Arztes, der Napoleon auf Sankt Helena
pflegte, und Vorfahrin der frz. Schauspielerin
Clémentine Célarié!