Carmen Piazzini, in Buenos Aires geboren und aufgewachsen,
beendete ihr Studium in Deutschland bei
Hans Leygraf. Als Mittlerin zwischen den Welten
der klassischen Musik in Europa und Südamerika
spielt sie Werke von Astor Piazzolla bewusst vom
Standpunkt der klassisch ausgebildeten Pianistin.
Auf der vorliegenden CD stellt sie außerdem weitere
Komponisten ihrer Heimat vor, die zum Teil in
Europa fast unbekannt sind.
Piazzini plays Piazzolla
Die europäische Musik begleitete
mein Leben von frühester Kindheit
an. Ihre philosophische Haltung, ihr
Tiefsinn in Ernst und Freude, ihre
stilistische
und gestische Vielfalt, ihr
Hang zu künstlerischer Individualität,
ihre profunde Artistik und ihre selbstverständliche
Seriosität waren und
sind bis heute Leitbilder meiner
künstlerischen Ästhetik. Es musste
mithin einen besonderen Grund geben,
Astor Piazzolla (1921–1992)
auf CD einzuspielen, denn ich bin
schließlich keine »Tanguera«. lch
suchte daher Stücke aus, in denen ich
eine Affinität zu ihm fand. Astor
Piazzolla
war ausgebildeter klassischer
Pianist, und das Klavier war
lange »sein« Instrument, bevor er sich
für das Bandoneón entschied. Aus
diesem
Grund sah ich mich berechtigt,
Piazzolla mit meinen klassischen
Mozartfingern zu spielen, und ich
versuchte
in keinem Augenblick, dies
zu verstecken. Dabei fühlte ich mich
ihm, der lange im Ausland lebte
und tiefe Melancholie und ewige
Sehnsucht nach seinem Geburtsland
empfand, in schönster Weise verbunden.
Unsere argentinische Mentalität
kennt den europäischen Tiefsinn
nicht, wir haben einen anderen in unseren
Genen. Piazzollas Musik zeigt
diesen Tiefsinn der Emotionen, mit
denen er seine sozialpolitischen Tagträume
präsentiert. Wir glauben auch,
dass die Philosophie der Welterkenntnis
unserem Lebenskonzept ebenso
wenig nutzt wie unserer mühsam erworbenen
Zuverlässigkeit, denn wir
meinen – vielleicht fühlen wir es auch
nur – dass dies im negativen Fall der
Weg zur Statue ist. Wir erleben uns in
Bewegung, bewegt aber eher vom
Schicksal als von selbst auferlegten
Bewegungsmustern. Wir sind Tänzer,
disziplinierte zwar, aber dennoch frei!
Piazzollas Musik zeigt diesen Tiefsinn
der Emotionen, ebenso die anderen
auf dieser CD versammelten Komponisten. Alle hatten freundschaftliche
Beziehungen zu meiner argentinischen
Familie, mit Ausnahme von
Fontenla und Sáenz. Ihre Stücke spiele
ich seit meiner Kindheit, sie sind
mir deshalb sehr vertraut. So entschloss
ich mich, eine Auswahl von
Komponisten, die wie Piazzolla sich
nicht nur über ihren Nationaltanz definieren
lassen wollen, einzuspielen.
Ich denke, die Aufnahme gibt mir
recht. Denn diese Komponisten sind
im Gegensatz zu Piazzolla, der in seinen
letzten Lebensjahren auf der ganzen
Welt großen Ruhm erlangte, mit
Ausnahme von Ginastera außerhalb
Argentiniens kaum bekannt und verdienen
es, gehört zu werden. Argentinische
Musik mag insgesamt nicht
so geistreich sein wie die europäische,
insbesondere die deutsche, aber sie ist
dafür sinnlich und auf philosophische
Art körperlich.
Carlos Guastavino (geb. 1914)
schreibt folkloristisch. Man spürt, dass
er sich sehr mit der Liedkomposition
befasst hat. Seine Stücke rühren sozusagen
direkt ans Herz.
Atardecer en la sierra (Sonnenuntergang
im Mittelgebirge) von Jorge
Fontenla (geb. 1927) wurde 1948
komponiert. Die Einflüsse Debussys
sind unüberhörbar.
Alberto Ginastera (1916 –1983),
Lehrer von Piazzolla und Fontenla,
schrieb seine Milonga ursprünglich
für Gesang und Klavier mit dem Titel
Der Baum des Vergessens. Ein Liebender
legt sich unter diesen Baum, um
seine Geliebte zu vergessen. Er vergisst
logischerweise dabei sein Vorhaben.
Seine drei »Argentinischen
Tänze«, Tanz eines alten Viehtreibers,
Tanz eines anmutigen Mädchens und
Tanz eines verschmitzten Gauchos, sind
ein geschlossenes Werk, vergleichbar
den Sätzen einer Sonate.
Carlos López Buchardo (1881–
1948) ist neben Ginastera die bedeutendste
Persönlichkeit im klassischen
Musikleben Argentiniens. Er hat wenig
für Klavier geschrieben. Bailecito
(Tänzchen) ist sehr populär. Campera,
ein Werk für großes Orchester, wurde
von ihm für Klavier gesetzt.
Die Milonga ist neben dem Tango
die populärste Tanzform in Argentinien
und hat im Gegensatz zu diesem
einen lustigen Text. Die Milonga
von Ginastera macht da freilich eine
Ausnahme, die von Pedro Sáenz
(1915 –1995) erinnert stark an Darius
Milhaud.
Alberto Williams (1862–1952)
EI rancho abandonado (Verlassene
Hütte) ist Teil einer Suite für Klavier,
die er 1890 kurz nach seiner Rückkehr
von einem langen Aufenthalt in Paris
komponiert hat. Williams fühlt sich
sehr von der europäischen Musik inspiriert,
ist jedoch im Herzen der
Folklore
Argentiniens verbunden.
Julián Aguirre (1868–1924) war
eng befreundet mit Williams. Sowohl
Triste (traurig), der vierte von fünf
Tristes, als auch Gato (Tanz) sind wie
sein gesamtes Musikschaffen nicht
im typischen argentinischen Folklorestil
komponiert, obwohl er dies wollte.
Dieser Gato wurde übrigens von
Ernest
Ansermet für Orchester arrangiert.
Carmen Piazzini