Symphonien Nr. 7 & 8
Radio-Symphonieorchester Wien
Bertrand de Billy, Dirigent
Der Beethoven-Zyklus des RSO Wien unter Bertrand
de Billy entwickelt sich stetig weiter. Die sorgfältig
ausgeleuchteten Einspielungen setzen nicht auf
äußere Knalleffekte sondern auf Texttreue, sorgfältige
Disposition der Formteile und hochpräzises
Zusammenspiel, also Kammerorchester-Kultur im
großen Sinfonieorchester. Und wie so oft wirkt auch
hier die Musik am unmittelbarsten, wo man sie selbst
sprechen lässt, und sie nicht in Bahnen subjektiver
oder gar exzentrischer „Interpretation“ zwängt.
Dass gleichwohl unter Bertrand de Billys Dirigat
ein charakteristischer Beethoven entsteht, beweisen
die beiden Vorgänger-CDs mit der 3. der 5. und 6.
Sinfonie.
„Reif fürs Irrenhaus"?
Anmerkungen und Gedanken zu
Beethovens VII. Symphonie in A-Dur
Drei Jahre ließ Beethoven zwischen der
Vollendung seiner als „Pastorale“ berühmt
gewordenen VI. Symphonie und den ersten
Ideen zur VII. Symphonie in A-Dur vergehen,
ehe wir in den Skizzenbüchern erste Versuche
im Herbst 1812 festmachen können. Die vier
Symphonien davor entstanden mehr oder
minder ineinander übergreifend zwischen
1805 und 1808, danach wandte sich Beethoven
anderen Formen zu, um dann mit der
VII. seine heute vielleicht meistaufgeführte
Symphonie zu schaffen. Der Erfolg blieb dem
Werk seit seiner Uraufführung treu. Es blieb
von den bekannten Klischees, wie sie der III.,
V. oder VI. anhaften, weitgehend verschont.
Das nachhaltigste Etikett, das ihr umgehängt
wurde, ist Richard Wagners Diktum von
der „Apotheose des Tanzes“, das, wie wir in
der Folge sehen werden, möglicherweise einen
Aspekt zu stark beleuchtet, keineswegs
aber die Charakteristik so verfälscht, wie das
Bonaparte-Klischee das Bild der Dritten, das
Wort von der „Schicksals-Symphonie“ die
Fünfte, oder das Missverständnis einer simplen
Naturmalerei im Sinn späterer Programmusik
die Nummer sechs.
Rhythmus, Schwung und vor allem in
den Ecksätzen geradezu ungebärdiges Temperament
sind tatsächlich Charakteristika
der Siebenten. Sie treten umso stärker hervor,
je mehr sich die Interpreten bemühen,
den Tempo- und Vortragsbezeichnungen des
Komponisten Rechnung zu tragen. In diesem
Zusammenhang ist auch die Notwendigkeit
hervorzuheben, die Wiederholungs-
Vorschriften Beethovens zu befolgen. Diese
sind unzweifelhaft ein integraler Teil der
Gesamtarchitektur des Werkes. Sie teilweise
oder ganz zu ignorieren, bedeutet immer einen
schwerwiegenden Eingriff und eine Veränderung
der Werkstruktur.
Dass gerade in der VII. Symphonie in
der Vergangenheit die Wiederholungen so
unterschiedlich beachtet wurden, hängt
wiederum mit der besonders bei Beethoven
vehement geführten Diskussion um dessen
Metronombezeichnungen zusammen. Besonders
in der Interpretationssicht, die aus
der Romantik des 19. Jahrhunderts entstand,
ist eine deutliche Verlangsamung der vorgeschriebenen
Tempi eingetreten. Beethovens
Metronomzahlen wurden entweder als falsch
oder als falsch interpretiert hingestellt. Damit
im Zusammenhang zu sehen ist auch die
Tradition, die Wiederholungen insbesondere
der Expositions-Abschnitte der Ecksätze
zu eliminieren. Die ohnehin umfangreiche
Symphonie erfährt mit Wiederholungen bei
diesen reduzierten Tempi natürlich eine noch
größere Ausdehnung!
Erst die Erfahrungen der letzten Jahre
und Jahrzehnte im Zusammenhang mit der
Originalklangbewegung, die genauere Kenntnis
der Möglichkeiten der damaligen Instrumente
und nicht zuletzt die Gewissheit, dass
Beethovens Metronomangaben durchaus so
und nicht anders gemeint waren, als sie dastehen,
führten zu einem breiten Umdenken.
Nach zwei Symphonien, die sozusage
in „in medias res“ gingen (und zum letzten
Mal in seinem symphonischen Werk), verwendet
Beethoven hier wieder eine langsame
Einleitung für den Kopfsatz. Diese lässt sich
allerdings kaum mit der noch in der IV. Symphonie
gebräuchlichen Form vergleichen,
wobei die Verwendung dieses Kunstgriffs in
der Vergangenheit durchaus unterschiedlich
gewertet wurde. Die Sicht der Interpreten
spannt sich von der Behauptung, dass die
langsame Einleitung des ersten Satzes der
VII. Symphonie gleichsam ein eigener Satzteil
sei – wie zum Beispiel das Gewitter als
vierter Satz der Pastorale – bis hin zur Analyse,
dass dies eigentlich nur die verlangsamte
rhythmische Vorbereitung für den nachfolgenden
Satz sei.
Nun: Beethoven arbeitet gleich zu Beginn
mit zwei Themen, wie in einer echten Exposition.
Die Ideen bilden in sich durchaus
einen großen Reichtum. Sie werden, zuerst
von Holzbläsern vorgetragen, in verschiedensten
dynamischen Varianten exponiert
und dabei von Beginn an in ein festes rhythmisches
Korsett von heftigen Orchesterschlägen
eingefasst. Allerdings hat man in diesem
„poco sostenuto“ den Eindruck, dass sich die
Melodie immer wieder gegen den Versuch
der rhythmischen Übermacht durchsetzen
kann; fast könnte man dann im weiteren Verlauf
auch einen Seitensatz festmachen, doch
plötzlich beendet Beethoven die Diskussion:
Die betont melodische Einleitung findet auf
der Dominante ihr Ende, verbeißt sich mehr
und mehr in den Ton E und wird innerhalb
weniger Takte zum puren Rhythmus, der
dann im folgenden Vivace fast fanatisch vom
ganzen Orchester übernommen wird.
Dem Hörer vermittelt dieses Geschehen
den Eindruck einer Gegenüberstellung der
These dieser Symphonie, „Rhythmus“, mit
der Antithese, die vorangestellt ist. Oder aber
man dechiffriert die Musik – wie so oft bei
Beethoven – mit dem Prinzip „per apera ad
adstra“ – hier jedoch auf geringstem Raum,
wobei das Licht hier durch die Herrschaft des
Rhythmus’ verkörpert wird.
Rhythmus bleibt denn auch mehr als in
jeder vorangegangenen Symphonie Beethovens
das entscheidende Thema des Werkes.
Darum kommt auch Richard Wagners Etikett
von der „Apotheose des Tanzes“ durchaus
dem Bestreben der Symphonie nahe.
Wahrscheinlich rührt daher auch die ungebrochene
Faszination durch alle Epochen
und Zeiten. Denn dieser Radikalität, mit der
sich Beethoven in der Folge dem Rhythmus
verschreibt, begegnen wir erst wieder in großen
Meisterwerken des 20. Jahrhunderts.
Unmittelbar nachdem sich der Rhythmus
des Vivace aus dem Übergang des Poco
sostenuto etabliert hat, führt Beethoven mit
den Flöten das erste Thema ein: tänzerisch,
leicht, beschwingt. Bevor es in den einleitenden
Rhythmus übergeführt werden kann,
wird es an einer Fermate zum Halten gebracht
und kehrt plötzlich mit einer herrisch
auffahrenden Geste, wie sie nur von Beethoven
gestaltet werden konnte, im ganzen Orchester
wieder, diesmal fast stampfend und
triumphal.
Es ist hier nicht Ort und Anlass, zu den
zahlreichen vorliegenden Analysen dieser
Symphonie eine weitere hinzuzufügen, sondern
eher auf einige interessante Aspekte
der Entwicklung der Beethovenschen Symphonik
hinzuweisen. So wie Beethoven mit
der langsamen Einleitung nicht, wie wir
zuerst leicht vermuten könnten, in ein älteres
Formschema zurückfällt, sondern die
von Haydn geformte Struktur nur äußerlich
übernimmt und sie sukzessive umwandelt,
beginnt er nun, die einzelnen Teile des typischen
Sonatensatzes bis an seine Grenzen zu
prüfen und auch zu verändern. Für unsere
Generationen, die wir mit dieser Musik so
selbstverständlich aufwachsen, ist es schier
unmöglich nachzuvollziehen, was es für die
ersten Hörer der Uraufführungszeit bedeutet
haben muss, wie Beethoven mit einem einzigen
Thema und dem absoluten Diktat des
Rhythmus nicht nur die gesamte Exposition
gestaltet, sondern gleichzeitig damit auch
jede herkömmliche Form der Durchführung
über den Haufen wirft, und es ist wohl dadurch
zu erklären, dass die Coda hier nicht
mehr zur gefälligen Rekapitulation und einem
gesitteten Schlusspunkt wird, sondern
als eigenständiger Formteil den ganzen Satz
noch unterstreicht, verstärkt und radikal beschließt.
Der zweite Satz musste bei den beiden
ersten Aufführungen der Symphonie unter
Beethovens Leitung wiederholt werden. Man
fragt also zuerst, was war für das damalige
offensichtlich sehr kenntnisreiche Publikum
so neu und begeisternd? Der zweite Satz der
A-Dur-Symphonie wird sehr gerne mit dem
zweiten Satz der Eroica verglichen. Nun ist
aber der zweite Satz in der III. Symphonie mit
„Marcia funebre“ überschrieben, und zudem
lautet die Tempobezeichnung entsprechend
Adagio assai. Hier in der VII. steht schlicht
Allegretto, was an sich schon einen sehr deutlichen
Unterschied markiert zudem gibt auch
Beethovens Metronomangabe eine drastische
Differenz vor. Beide Sätze sind jeweils im
Zwei-Viertel-Takt notiert, aber in der Eroica
gibt Beethoven als Metronom das Achtel mit
achtzig an (antizipiert also schon eine notwendige
Unterteilung in Vier). In der VII. Symphonie
steht dagegen als Tempobezeichnung
„Viertel gleich sechsundsiebzig“. Beethoven
zeigt also klar an, dass das Grundtempo
durchaus in einem Zweierschlag anzuführen
ist, und dieser doch deutlich schneller als man
es gemeinhin gewohnt ist. Gerade die Missachtung
dieser Tempoangabe hat aber in der
Vergangenheit dem Satz einen völlig anderen
Charakter gegeben und den oft zitierten Vergleich
mit der Eroica erst möglich gemacht.
Ein weiteres Element, das den Charakter
dieses zweiten Satzes bestimmt, ist die Verwendung
des Wallfahrerliedes Sancta Maria,
ora pro nobis, das die rhythmische Grundstruktur
des Satzes prägt. Dass nun eine Veränderung
des Tempos den Charakter eines
Musikstückes drastisch verändern kann, ist
eine Binsenweisheit. Die Dirigenten der romantischen
Beethoventradition berufen sich
mit ihrem langsamen Tempo wiederum auf
die Grundlage dieses Wallfahrerliedes, wie
zum Beispiel Otto Klemperer, der ja nun
bis zum heutigen Tage zu Recht als großer
Beethoven-Exeget angesehen wird. In seiner
Kritik an den für sein Gefühl zu schnellen
Tempi beruft er sich auf eben jenes Marienlied
und kritisiert seinen damals viel jüngeren,
aber nicht minder berühmten Kollegen
Herbert von Karajan, der seinerseits nicht
berüchtigt für allzu extreme Tempi war. An
diesem Beispiel kann man sehr gut erkennen,
wie Interpretation und damit auch das Verständnis
vom Charakter eines Musikstücks
sehr von der Zeit und der Mode abhängig
ist – und, das muss wohl auch hinzugefügt
werden, vom jeweiligen Erkenntnisstand
der Musikforschung. Heute tendiert man
keineswegs mehr dazu, Beethovens Tempoangabe
im Widerspruch zur Marienmelodie
zu sehen, vor allem wenn man bedenkt,
dass dadurch der Satz im Zusammenhang
der ganzen Symphonie bleibt und nicht den
Charakter einer elegischen Insel bekommt.
Der Dirigent der vorliegenden Aufnahme,
Bertrand de Billy, lässt auch in Aufführungen
– genauso wie hier auf der Aufnahme – kaum
Raum zwischen dem ersten und zweiten Satz,
und später auch zwischen dem dritten und
vierten. Werden die Sätze zumindest in dem
von Beethoven vorgeschriebenen Tempo genommen,
kommen wir wieder zum Gedanken
von These und Antithese: Nicht nur im
vordergründigen Sinne, dass der zweite Satz
der Tradition folgend nicht in A-Dur, sondern
in a-Moll steht, sondern auch insofern,
als das rhythmische Element der melodischen
Linie hier bloß unterlegt ist. In seinem beinahe
bedrohlichen Pochen gibt es allerdings
keineswegs auf und gemahnt in einigen wenigen
Ausbrüchen fast drohend daran, wer den
Charakter dieser Symphonie beherrscht.
Zwar hält sich Beethoven scheinbar an
das herkömmliche Schema, dass der Mittelteil
nach A-Dur zurückschlägt. Allerdings
mag in der Stimmung nicht wirklich ein Dur-
Charakter vorherrschen. Vielmehr bleibt der
Grundcharakter des Satzes auch im Mittelteil
beherrschend. Beethoven benutzt in diesem
Satz hauptsächlich die Variationsform, im
späteren Verlauf auch ein Fugato; das Formprinzip
ist vordergründig gesehen fünfteilig
(A-B-A-B-A), der Maggiore-Teil erscheint
also zweimal, allerdings abgewandelt, und
wie schon im ersten Satz spielt die Dynamik
in der Dramaturgie eine herausragende
Rolle.
Schon frühe Analysen betonen, dass
das langsam anschwellende und dann wieder
abschwellende Crescendo bzw. Decrescendo
die Illusion einer sich nähernden und wieder
entfernenden Prozession vermittelt. Ein
besonderes Merkmal dieses Satzes ist auch,
dass er jeweils von einem Quartsextakkord
eingerahmt wird. Dieser Akkord vermittelt
am Anfang des Satzes fast so etwas wie wenn
der Komponist sagen würde: „Folgendes:“
Am Ende des Satzes jedoch vermittelt dieser
Akkord – er wird nicht aufgelöst – ein Ende
des bis dahin unausgesetzten Fortschreitens.
Gerade diese Unaufgelöstheit, oder, wenn
man so will, Ungelöstheit des zweiten Satzes
verstärkt noch den polternden Beginn des
nachfolgenden Presto. Obwohl Beethoven
tendenziell seine Scherzi in die Grundtonart
stellt, weicht er hier „offiziell“ nach F-Dur
aus, da er bereits im zweiten Satz mit a-Moll
und A-Dur sehr nahe der Grundtonart blieb.
Wie man aber in der Folge sieht, hält es ihn in
der neuen Tonalität nicht lang. So wie diese
Symphonie durch den Rhythmus beherrscht
wird, bleibt auch die Grundtonart A-Dur
fast durchwegs insistent, und der Anfang des
dritten Satzes bildet auch eine Verklammerung
mit der langsamen Einleitung, nämlich
dem Oboenthema, dessen Abwandlung wir
hier begegnen (siehe die Untersuchungen von
J.K. Knowles). Wie die meisten dritten Sätze
in dieser Schaffensphase Beethovens ist auch
dieser fünfteilig angelegt, und das Thema des
Trios in D-Dur fußt (laut Abbé Stadler) auf
einem niederösterreichischen Wallfahrerlied,
das von Holzbläsern und Hörnern über dem
liegenden Grundton A vorgetragen wird, der
sich schon aus dem Scherzo herleitet. Eine
besondere Kostprobe von Beethovens grimmigem
Humor bildet das Ende des Satzes,
wo er scheinbar noch ein drittes Mal ins
Trio zurückkehren will, aber dann mit fünf
schnellen Orchesterschlägen den Satz abrupt
beendet.
Praktisch jede Symphonie Beethovens
seit der Eroica ist auf den Finalsatz hin konzentriert.
Ebenso erschließt sich der Gehalt
meist in diesem vierten Satz, und so stößt
man auch beim Finale der VII. wieder auf ein
Motiv, das nicht nur nachdenklich stimmt,
sondern sich auch schon davor bei Beethoven
immer wieder findet. Bereits in der Vergangenheit
ist mehrfach darauf hingewiesen
worden, dass sich zur Zeit der Komposition
der Niedergang Napoleons abzeichnete. Bei
der Uraufführung war der Franzosen-Kaiser
bereits geschlagen; entsprechend war das
zweite Stück des Abends Beethovens Komposition
„Wellingtons Sieg oder die Schlacht
bei Vittoria“. Von allen Vermutungen, welche
Grundlage dem Hauptthema des vierten
Satzes mit seinen charakteristischen Sforzati
auf dem zweiten Taktteil zugrunde liegt,
scheint doch die, dass es sich um den Revolutionsmarsch
Le triomphe de la République
von F.J. Gossec handelt, die naheliegendste.
Es wäre nicht das erste Mal, dass Beethoven
Musik aus der französischen Musikperiode
verwendet (Finale V. Symphonie), und man
weiß, wie intensiv Beethoven Aufstieg und
Fall Napoleons verfolgte. Der ganze Satz ist
von einer ungestümen Wildheit wie kaum
ein anderer in Beethovens symphonischem
Werk, aber ob dieses Furors darf man nicht
übersehen, wie kunstvoll Beethoven die Vernetzung
mit den vorhergehenden Sätzen
betreibt, wie er die Form des Sonatensatzes
erweitert, indem er auch in diesem Satz der
Coda breiten Raum einräumt und sie weit
über ihre bisherige Funktion erhebt. Auch
gewinnt man ob der Dominanz des Hauptthemas
über das wesentlich schwächere Seitenthema
den Eindruck einer Monothematik.
Auch hier gibt es eine Brücke zurück zur
langsamen Einleitung des ersten Satzes: In
der ausführlichen Coda dominiert wiederum
der Grundton E, also die Dominante.
Die Wucht dieses Allegro con brio muss
die Zeitgenossen geradezu verschreckt haben.
So ist Carl Maria von Webers Ausspruch
überliefert, Beethoven sei nun „reif
fürs Irrenhaus“. Wenig schmeichelhaft auch
die Vermutung von Robert Schumanns
Schwiegervater Friedrich Wieck, der sinngemäß
meinte, Beethoven könne diesen Satz
wohl nur in betrunkenem Zustand komponiert
haben. So viel zur Wirkung auf Zeitgenossen,
selbst wenn diese zum gebildeten
Musikestablishment gehörten. Tatsache ist
allerdings, dass die Symphonie beim Publikum
von der Uraufführung an bis in unsere
Tage für jubelnde Säle sorgt; ihre Wirkung
und Sprache hat sich als wahrhaft universell
und zeitlos behauptet.
„Weil sie viel besser ist"
Anmerkungen zu Beethovens
VIII. Symphonie
Mit der VIII. Symphonie begegnen wir
dem Phänomen eines Werks aus Beethovens
fruchtbarster Schaffensperiode,
das auf den Programmen der internationalen
Konzertsäle dennoch verhältnismäßig selten
zu finden ist. Fast zeitgleich mit der – von
Anfang an – äußerst populären VII. entworfen
und zu einem Zeitpunkt, als die d-Moll-
Symphonie, also die IX., bereits angedacht
war, bildet sie eigentlich das Bindeglied zwischen
diesen beiden sinfonischen Monumenten
und läuft wohl so Gefahr, verkannt und
unterschätzt zu werden. Schon die Tonart FDur
lässt ihr hin und wieder den Beinamen
„Kleine F-Dur Symphonie“ zukommen, was
einerseits mit der ungleich berühmteren Pastorale
in gleicher Tonart zusammenhängt,
zum anderen aber auch mit der Tatsache,
dass sie – zusammen mit der I. – die kürzeste
Symphonie ist, die Beethoven je komponiert
hat. All das sind Äußerlichkeiten, aber
sie spielen in der Rezeption des Werkes von
der Uraufführung bis zum heutigen Tag eine
nicht zu unterschätzende Rolle.
Bereits der Rezension der Uraufführung
konnte man entnehmen, dass der Erfolg des
Werkes nicht dem entsprach, was man von
Beethovens Novitäten üblicherweise gewohnt
war. Zudem wurde in dem gleichen Konzert
auch die VII. wiederholt, die von Anfang
an zu den erfolgsträchtigsten Stücken des
Komponisten gehörte. Beethoven reagierte
laut seinem Schüler Czerny auf die lauwarme
Aufnahme im Vergleich zur VII. mit der
zynischen Anmerkung, sie hätte nicht so viel
Erfolg gehabt „…weil sie viel besser ist“.
Zumindest war der Autor jener oben genannten
Uraufführungs-Rezension hellsichtig
genug zu bemerken, dass die VIII. wohl
ebenso viele Schönheiten und Eigenheiten
wie die bereits vorangegangene Symphonien
Beethovens besitzt und es verdienen würde,
für sich allein genommen betrachtet und gehört
zu werden. Genau das wollen wir in der
Folge tun und die Aufmerksamkeit auf einige
Besonderheiten lenken, die dieses Meisterwerk
auch ausmachen.
Es gibt mindestens drei Epitheta, die
dieser Symphonie gern beigefügt werden.
Das erste ist „humorvoll“ (was immer jeder
Einzelne darunter verstehen mag). Das
zweite „klassizistisch“, aber im Sinne von
„rückwärtsgewandt“ zu verstehen. Und das
dritte „idyllisch“. Gegen Klischees lässt sich
bekanntlich schwerlich angehen. Doch vielleicht
sollte man sich nur einmal den Beginn
der Symphonie wirklich genau anhören.
Ähnlich wie in der III., V. und VI. Symphonie
verzichtet Beethoven gänzlich auf die langsame
Einleitung. Allerdings geht er nach unserer
Ansicht hier sogar noch ein Stück weiter.
Ob wir die zwei Orchesterschläge in der III.
betrachten, die gleichsam eine an den Beginn
der Symphonie gestellte Zusammenfassung
des Werkes darstellen, oder das in der V.
zweimal vorgetragene pochende Motiv, oder
die Anfangsphrase der VI., die wie ein großer
Doppelpunkt wirkt: sie alle sind – stark
verschlüsselt und auf das knappste reduziert
– Einleitungen.
Nicht so in der VIII. Symphonie. Mit
brachialer Wucht und auftrumpfender Geste
prescht, Allegro vivace e con brio, das
Hauptthema herein; Beethoven fällt also
gleichsam mit der Tür ins Haus. Da ist nichts
gemütlich, nichts klassizistisch oder gar „witzig“.
Hier wird sehr selbstbewusst und ohne
Rücksicht auf Tradition und Erwartungshaltung
einfach eine Behauptung an den
Beginn gestellt. Formal steht wie in jedem
ersten Satz einer Beethoven-Symphonie die
musikalische Gestaltung im Zeichen des Sonatensatzes.
Statt der üblichen zwei arbeitet
Beethoven aber in seiner vielleicht kürzesten
Symphonie mit drei Themen. Dadurch
allein verschiebt sich schon die Gewichtung
der gesamten formalen Anlage. Wie bereits
in der VII. Symphonie räumt Beethoven der
Coda ein ungleich größeres Gewicht ein –
überhaupt werden die Grenzen zwischen
Durchführung und Reprise immer undeutlicher.
Der Schluss des Satzes hatte ursprünglich
noch eine andere Gestalt. Nach einer
Privataufführung im Palais des Erzherzogs
Rudolph
änderte Beethoven ein ziemlich
abruptes, fast prosaisches Ende in die heute
bekannte Version. (Was Beethoven für die
Symphonie im Allgemeinen geschaffen hat,
war ein Bewusstsein, das sich über Schubert,
Brahms, Bruckner bis Mahler immer mehr
verfestigte und verbreiterte, nämlich, dass die
Form dem Inhalt gemäß adaptiert werden
muss, was bis zu Mahlers Riesenwerken
führte, die dann endlich die Form der Symphonie
gänzlich zu sprengen drohen).
Einen langsamen Satz im eigentlichen
Sinn gibt es in dieser Symphonie noch weniger
als in manchen anderen Beethovens.
Das an zweiter Stelle stehende Allegretto
scherzando hat nicht wenig zu den Klischees
über die „kleinere“ F-Dur-Symphonie beigetragen.
Die alten Behauptungen, die sich in
Folge einer der zahlreichen Fälschungen des
Beethoven-Biographen Anton Schindler gehalten
haben, nämlich dass die Grundlage zu
diesem Satz ein Kanon für den Metronom-
Erfinder Mälzel gewesen sein soll, in dem
Mälzels revolutionäre Erfindung porträtiert
und karikiert werden sollte, haben sich längst
als unwahr erwiesen. Allerdings: der scheinbar
gleichmäßig tickende Grundrhythmus
des Satzes und seine versteckten rhythmischen
Fallen sind bis heute unverwechselbare
Charakteristika dieses Werkes.
Ähnlich wie die kompositorischen Neuerungen,
die Beethoven im formalen Bereich
vornimmt, bildet dieser zweite Satz ein meisterhaftes
Beispiel von Beethovens Kunst der
feinen Rhythmusverschiebungen und Experimente
in Takt und Metrum. Alle diese
Kunstfertigkeiten sind beim ersten Hören
gar nicht so auffällig. Beim Studium hingegen
versteht man mehr und mehr, warum
Beethoven meinte, die VIII. sei mit das Beste,
was er bis dahin geschrieben habe.
Auch der dritte Satz bedient das Klischee
der Gemütlichkeit und der Klassizität mehr
durch die Tempobezeichnung als durch den
Inhalt. Beethoven überschreibt den Satz mit
„Tempo di Minuetto“, eine anachronistisch
anmutende Angabe, die er ansonsten lediglich
in seiner I. Symphonie verwendet hat.
Auch hier sollte man sich nicht aufs Glatteis
führen lassen. Wenn man überhaupt von einem
Beethoven-spezifischen Humor sprechen
kann, dann von einem grimmig-zynischen,
dem es ganz offensichtlich Spaß macht, seine
Hörer, und es handelte sich bei den Erstaufführungen
der Beethoven‘schen Werke um
ein zum Teil sehr gelehrtes und kenntnisreiches
Publikum, in die Irre zu führen. Wenn
der dritte Satz überhaupt etwas mit der Tradition
der Menuette zu tun hat, dann eher im
Sinne eines parodistischen Elements, wenn
man alleine die übertriebenen Akzente am
Satzanfang betrachtet. Das Trio wiederum
verweist mit seinem Ton des Österreichischen
Ländlers auf die zukünftige Entwicklung der
Symphonie bei Schubert und Bruckner.
Der vierte Satz, Allegro vivace, überrascht,
relativ ähnlich dem ersten, bei aller Kürze
wiederum mit ausgefeilten formalen Experimenten.
So überkreuzt er hier die Form des
Sonatenhauptsatzes mit der des Rondos, ein
Modell, das Beethoven schon in früheren
Symphonien angelegt hat. Und auch in diesem
Finalsatz zeigt sich, ähnlich dem einleitenden
Satz, dass Beethoven die Proportionen
zwischen Einleitung, Durchführung und Reprise
zugunsten letzterer verschiebt.
Dadurch, dass Kopf- und Finalsatz ziemlich
ähnliches Gewicht haben, erhält die Symphonie
ihre Klammer. Ebenso dadurch, dass
sich im letzten Satz motivische Beziehungen
zum ersten ebenso finden wie zum zweiten.
So mögen die Sätze zueinander in dieser
Symphonie wohl disparater und eigenständiger
wirken, zum Schluss bleibt auch die VIII.
eine „Finalsatzsymphonie“ wie Beethoven es
seit seiner Eroica immer angestrebt hat.
Wie immer man die Symphonie sehen
mag, man soll sich nicht von vordergründigen
Klischees blenden lassen. Dieses verhältnismäßig
kurze Werk behauptet seinen Platz
zwischen den Giganten der VII. und IX.
durchaus zu Recht, man könnte auch sagen:
Beethoven musste nach der VII. die VIII.
schreiben, um dann die IX. komponieren zu
können.
Michael Lewin