Klaviersonaten Vol. 7: Sonaten op. 31 Nr. 1–3
Michael Korstick, Klavier
Michael Korsticks gefeierten Beethoven-Zyklus muss
man fast nicht mehr vorstellen. Für ihren interpretatorischen
Ansatz der unbedingten Auseinandersetzung
mit dem Notentext, einer Texttreue, die Beethovens
Anweisungen unter allen Umständen zum Ausdruck
verhilft, ist diese Gesamteinspielung vorbildhaft.
Dass diese künstlerische Haltung zu aufrüttelnden,
hochvitalen Interpretationen führt, bestätigen viele
Rezensionen der bereits erschienenen Folgen dieser
Serie und mehrere Auszeichnungen der Fachmedien.
„Ich bin nur wenig zufrieden mit meinen bisherigen
Arbeiten, von heute an will ich einen neuen
Weg einschlagen“ äußerte Beethoven kurz vor der
Veröffentlichung der Sonaten op. 31. Hier zeigt sich
ein Meister, der seinen Weg gefunden hat, und bereit
ist, die traditionelle Form in seinem Sinne zu vereinnahmen
und weiterzuführen.
Neue Wege
„Ich bin nur wenig zufrieden mit meinen bisherigen
Arbeiten, von heute an will ich einen
neuen Weg einschlagen.“ Gern wird diese
Äußerung Beethovens, die er laut Czerny kurz
vor der Veröffentlichung der Sonatentrias des
Opus 31 im Jahre 1803 gegenüber seinem Vertrauten
Wenzel Krumpholz gemacht hatte, als
Beleg für eine genaue Datierung einer Grenze
zwischen „früher“ und „mittlerer“ Schaffensperiode
herangezogen. Man muss aber kaum
erwähnen, dass ein derart schematisches
Denken den Kern der Sache meilenweit verfehlt
– man erinnere sich nur an die Sonaten
op. 26 und 27, welche der Sonatenform bereits
ganz neue Perspektiven eröffnet hatten. Viel
eher dürfte Beethovens Aussage ganz einfach
das gewachsene Selbstbewusstsein eines
Komponisten reflektieren, der im sicheren
Besitz einer vollendeten Beherrschung aller
Aspekte seiner Kunst spürt, dass er nun in der
Lage ist, zu neuen Ufern aufzubrechen und
seinen Visionen Gestalt verleihen zu können.
Dass er diesen Weg als Evolution und nicht
als Bruch begreift, zeigen die Sonaten op. 31
recht anschaulich: Beethoven hütet sich vor
dem verbreiteten Fehler, vermeintlich „traditionellen“
Ballast abwerfen und gleichsam das
Rad neu erfinden zu wollen, im Gegenteil greift
er etwa in der G-Dur-Sonate auf eine formale
Anlage zurück, die sich äußerlich kaum
von den Mustern eines Haydn oder Mozart
unterscheidet. Das einleitende Allegro vivace
macht aber gleich klar, wohin die Reise
geht: Die Klarheit und beinahe schematische
Einfachheit der Struktur öffnet Freiräume für
ein nie dagewesenes Spiel mit Tonarten und
harmonischen Abläufen, ein beißender Humor
kann sich ungebremst entfalten in der Gewissheit
einer in keinem Moment gefährdeten
formalen Geschlossenheit. Überdies deckt
genaueres Hinsehen auf, dass das gesamte
thematische Material aus einer einzigen
Keimzelle gewonnen ist, was zwar beim Lesen
der Partitur den Eindruck einer gewissen
konstruktiven Kühle suggeriert, wovon jedoch
beim Hören nichts zu spüren ist, sofern der Interpret
die Tempo- und Charakterbezeichnung
ernst nimmt und über entsprechendes Temperament
und technische Reserven verfügt. Wie
genau Beethoven alle Parameter in diesem
Satz kalkuliert hat, zeigt seine Reaktion bei
Erhalt der Erstausgabe, als er bemerkte, dass
der Verleger Nägeli zu Beginn der Coda vier
Takte hinzugefügt hatte in der wohlmeinenden
Absicht, für eine symmetrischere Periodenbildung
zu sorgen: Ein Wutausbruch von olympischen
Dimensionen, nicht eben gemildert
durch zahlreiche Druckfehler in den Details,
führte zu der Entscheidung, sich von dieser
Ausgabe zu distanzieren und noch im seIben
Jahr bei Simrock eine von ihm selbst so betitelte
„Edition très correcte“ herausbringen zu
lassen. Der zweite Satz mit der absolut einmaligen
Tempobezeichnung Adagio grazioso und
seinen reich verzierten Vokallinien über einer
Pizzicato-Begleitung gehört zu den am meisten
missverstandenen Sätzen Beethovens: Oft
wird er wegen der schwer zu gestaltenden,
wenig pianistischen Schreibweise zu einem
Allegretto verfälscht, bei dem die Feinheiten
der Artikulation des Stimmgewebes entweder
unterschlagen oder durch reichlichen Pedalgebrauch
zum Verschwimmen gebracht,
wodurch das Stück in die Nähe biedermeierlicher
Salonmusik gerückt wird. Auch der
Rossini-Assoziationen weckende Mittelteil
wird gern vordergründig in einem neuen, noch
rascheren Tempo genommen und verliert
dann seine strukturbildende Wirkung. Wird
der Satz jedoch in einem angemessen ruhigen
Adagio-Tempo durchgehalten und der Grazioso-
Charakter mit einer genauen Wiedergabe
der vorgeschriebenen Artikulationsfeinheiten
getroffen, dann zeigt sich das Neuartige des
Stücks: Die ungewöhnliche Ausdehnung wird
von einer erheblich komplexeren Architektur
als bisher üblich getragen, was dem Komponisten
größeren Spielraum für eine freiere
Entfaltung verschafft und beispielsweise die
riesige Coda in Balance hält und sie trotz ihrer
Länge und ihres Gewichts perfekt in den
Gesamtzusammenhang integriert. Das Finale
macht sich Prozesse zu eigen, die Beethoven
im Kopfsatz der vorangegangenen Sonate
op. 28 entwickelt hatte, und überträgt sie auf
die Rondoform. Ein einziges Thema liefert das
gesamte Material für den Satz und wird unter
Vermeidung der sonst üblichen kontrastierenden
Elemente zu einer recht komplexen Struktur
bruchlosen „Erzählens“ ausgesponnen,
welches erst am Ende des Stücks aufgebrochen
wird, wenn das Thema zunächst als Fugato erscheint und schließlich mit zögernden
Adagio-Einschüben „dekomponiert“ wird, bevor
es in einer brillanten Stretta ins Grimmig-
Humoristische gewendet wird. Ob mit Recht
immer wieder behauptet wird, dieses Rondo
weise auf Schubert voraus, mag dahingestellt
sein, sicher ist jedoch, dass Franz Schubert
bei der Komposition des Schlussrondos
seiner A‑Dur-Sonate D 959 den Ablauf von
Beethovens Rondo bis ins Detail nachgebildet
hat. Eine gänzlich andere Sprache spricht
op. 31 Nr. 2, die sogenannte „Sturm-Sonate“.
Dieser nicht authentische Titel, der dem Stück
allerdings zu großer Popularität verholfen
hat, gibt keinerlei Aufschluss über dessen
musikalischen Gehalt, nicht im Hinblick auf
Shakespeares Stück – Beethoven hatte auf
Schindlers Bitte um Erklärung dieser Sonate
und der „Appassionata“ op. 57 (!) wegwerfend
mit dem Satz „Lesen Sie Shakespeares
Sturm!“ geantwortet – und schon gar nicht mit
einer meteorologischen Begriffsauslegung.
Der erste Satz mit seinen improvisatorischen
Rezitativen und explosiven Ausbrüchen (Beethoven:
„Brechen muss das Klavier!“) erzielt
die Wirkung einer freien Fantasie, ist aber in
Wirklichkeit eine bis ins Detail durchkonstruierte
Architektur mit rigorosester thematischer
Arbeit. Der in der Form traditionellste
Teil des Werks ist das Adagio, doch auch hier
erreicht Beethoven mit einerseits harmonisch
stark reduzierten Mitteln, andererseits mit orchestral
konzipierten gleichzeitigen Verläufen
in verschiedenen Registern ein Maximum an
Ausdruckstiefe. Das abschließende Allegretto
ist zwar ein Perpetuum-mobile-Satz mit einer
durchgängigen Sechzehntelbewegung, hat
aber wenig mit einem typischen Kehraus-Finale
zu tun. Auf den ersten Blick ist die Faktur
des Themas ähnlich angelegt wie der Beginn
des berühmten Klavierstücks „Für Elise“, und
tatsächlich drängt sich in so mancher Interpretation
eine gewisse Ähnlichkeit auf. Doch
genaues Hinsehen enthüllt auch hier – wie die
komplizierte Notation der Begleitfigur der linken
Hand beweist –, dass es in diesem hochemotionalen
Finale um etwas ganz anderes
geht als um ein harmlos-freundliches Genrestückchen:
Von den jeweils vier Sechzehnteln,
aus der die Begleitung besteht, ist der Basston
zu Beginn kurz zu spielen, die zweite Note
muss für den Rest des Taktes mit dem Finger
gehalten werden, nur die letzten beiden Töne
sind „normal“ notiert – ein irritierender Effekt.
Dass Beethoven hierzu durch das Hufgetrappel
eines vorbeieilenden Pferdes inspiriert
worden sein soll, mag Legende sein, Tatsache
ist jedoch, dass das Stück hierdurch einen
ruhelosen, weitab jeder Gemütlichkeit liegenden
Charakter erhält; auch der abrupte Piano-
Schluss wirkt eher resigniert als versöhnlich.
Nicht nur, dass Beethoven mit seinem
Opus 31 zum letzten Mal mehrere Klaviersonaten
unter einer Opuszahl zusammenfasst,
die dritte Sonate dieser Gruppe ist auch (wenn
man von der „Hammerklaviersonate“ op. 106
absieht, die einen gänzlich anderen Werktypus
verkörpert) Beethovens letzte klassisch
viersätzige Sonate mit einem Sonatenhauptsatz
zu Beginn und einem virtuosen Presto-Finale
als Schluss. Die Besonderheit des Stücks
liegt im Verzicht auf einen traditionell üblichen
Adagio-Satz; stattdessen erfindet Beethoven
eine ganz eigene Binnendramaturgie. Wir
erinnern uns, dass Beethovens erste Neuerung
in der Klaviersonate deren Erweiterung
von der Drei- zur Viersätzigkeit war durch das
Einfügen entweder eines Scherzos oder eines
Menuetts an dritter Stelle. Hier nun stellt
Beethoven in der Mitte dieser Sonate diese
beiden Satztypen direkt nebeneinander, und
er tut dies mit ungeheurer Originalität: Das
Scherzo steht im „falschen“ 2/4-Takt und trägt
die ungewöhnliche Bezeichnung „Allegretto
vivace“, das Menuett wiederum – es ist übrigens
das letzte Mal, dass Beethoven in einer
Klaviersonate diese Form benutzt – trägt einen
ausgesprochen nostalgischen Charakter
(Moderato e grazioso) und verklingt mit einer
anrührenden Abschiedsgeste. Das Finale ist
ein ausgesprochenes Virtuosenstück von
höchster Brillanz; der Tarantella-Charakter
mit seinen lebhaften Hornrufen samt Jagdgetümmel
haben der ganzen Sonate den Beinamen
„La Chasse“ eingetragen – ein Echo von
alledem findet sich sowohl im Schlusssatz von
Schuberts c-Moll-Sonate D 958 als auch im
Finale des 2. Klavierkonzerts in g-Moll op. 22
von Camille Saint-Saëns, der übrigens auch
über das Trio des Menuettsatzes glanzvolle
Variationen für zwei Klaviere geschrieben hat.
Interessant ist die frappierende Ähnlichkeit
des Finalthemas
der Es-Dur-Sonate mit dem
Thema des letzten Satzes des „Waldsteinsonate“ op. 53 – nur 30 Jahre später sollten
Berlioz und Liszt die Neuerung vollziehen, solche
Verwandtschaften (gleiches Tonmaterial,
abgewandelt in Tempo, Tonart, Rhythmus und
Charakter) innerhalb eines einzigen Stücks als
strukturbildendes Element einzusetzen. Was
Beethoven wohl zu diesen „Neuen Wegen“
gesagt hätte?
Sascha Selke
Vier Fragen an Michael Korstick
Was ist die Aufgabe des Interpreten im Moment
der Aufführung?
Sich als Anwalt des Komponisten zu begreifen,
obwohl das eigentlich zu kurz greift. Das Wort
„Missionsbewusstsein“ gefällt mir auch nicht
besonders, trifft es aber besser: Im Moment
des Spielens davon überzeugt sein, dass man
nur deshalb auf der Welt ist, um jetzt dieses
Stück mit Leben zu erfüllen und den Zuhörer
davon zu begeistern.
Kann man überhaupt Beethoven „authentisch“
spielen, oder sind nicht viele Konventionen
in der Spielpraxis seiner Zeit heute
nicht mehr rekonstruierbar?
Eine einfach Ja-oder-nein-Antwort bekommen
Sie auf diese Frage nur von jemandem,
der ideologisch verbohrt ist. Über Spielpraxis
einer längst vergangenen Epoche lässt
sich, entweder mit mehr oder mit weniger an
gesicherten Informationen, immer nur spekulieren.
Im Fall Beethoven liegen die Dinge
sowieso anders; wir wissen hier, dass er sich
von den Praktiken seiner Zeit bereits abgesetzt
hat, indem er beispielsweise das damals
übliche Auszieren sich ausdrücklich verbeten
hat und in seinem Misstrauen gegenüber dieser
Spielpraxis seine Partituren mit einer fast
schon paranoiden Genauigkeit in Artikulation,
Dynamik und Tempo bezeichnet hat. Zurück
zur Frage, wenn Sie „authentisch“ mit „echt“
oder „unverfälscht“ übersetzen wollen, dann
liegt man mit einer genauen Beachtung des
Notentextes zumindest nicht ganz falsch, Sie
dürfen aber nicht vergessen, dass erst nach
diesem Punkt die eigentliche Interpretation
beginnt.
Wie „texttreu“ sind Ihre Interpretationen?
Das hängt immer davon ab, ob dieser Punkt
für einen Komponisten wichtig war oder nicht.
Denken Sie etwa an Liszt, für den die poetische
Idee entscheidend war, nicht jedoch ihre
Formulierung – Retuschen und Eingriffe durch
den Interpreten waren in diesem Fall ganz im
Sinne des Komponisten. Bei Beethoven sehen
wir aber schon im Prozess des Komponierens,
wie sehr er um die letztmögliche Wahrheit
noch des letzten Details gerungen hat; dasselbe
gilt auch für die Bezeichnung des Textes,
und deshalb bemühe ich mich natürlich, hier
den Text mit der größtmöglichen Genauigkeit
zu lesen und hierauf aufzubauen. Das ist aber
eben nur das Fundament, auf dem noch ein
ganzes Gebäude aus Tönen errichtet werden
muss. „Nur“ den Text getreu wiederzugeben,
ist kein Wert an sich, das macht vielleicht zehn
Prozent des Ganzen aus. Wie ich immer sage:
Texttreue ist längst nicht alles, aber ohne sie
ist alles nichts!
Wo sehen Sie sich in der Tradition des Beethoven-
Spiels, und sind Sie ein „moderner“
Interpret?
Der für mich wichtigste Aspekt bei Beethovens
Musik ist die zeitlose Gültigkeit. Die
wirklich großen Beethoven-Interpreten der
Vergangenheit sind zudem die, deren Spiel am
freiesten von irgendwelchen Modeerscheinungen
sind, was für mich Vorbildfunktion
hat. Der heutige Zeitgeist hat in meinen Augen
fast schon wieder etwas Anachronistisches,
wenn man sieht, wie sehr manche Musiker
gerade bei Beethoven ihre eigene Befindlichkeit
in den Mittelpunkt stellen. Das erinnert
mich an die graue Vorzeit, in der Interpreten,
die sich als begnadet empfanden, sich auf
ihre sogenannte Auffassung beriefen wie die
absolutistischen Fürsten auf ihr Vorrecht, sich
nur gegenüber Gott rechtfertigen zu müssen.
Da bin ich sehr wohl ein Kind der Aufklärung
und möchte meine Interpretationen durchaus
an irdischeren Kriterien und den Erfordernissen
der Werke messen lassen, auch an den
großen Vorgängern. Man sollte das aber nicht
mit Pseudo-Toleranz verwechseln, nach der
jede Meinung gleichermaßen Anspruch auf
Respekt hätte, denn man muss eindeutig Stellung
beziehen, auch wenn das vielleicht für
manche unbequem ist – Objektivismus kann es in der Musik nicht geben. Ich bewundere
da Arturo Toscanini, der den Mut hatte, die
selbstbewusste These zu vertreten: „Im Leben
Demokratie, in der Kunst Aristokratie“.