Nicolaus Bruhns: Das Orgelwerk
Melchior Schildt: Orgelwerke
Joseph Kelemen, Arp-Schnitger-Orgel, Norden
In seiner Reihe mit Orgeleinspielungen auf historischen
Orgeln legt Joseph Kelemen nun sein drittes
Album vor, das die Norddeutsche Orgelschule
zum Gegenstand hat. Stets wählt Kelemen für seine
Aufnahmen Instrumente, die möglichst eng in
Verbindung zum jeweils porträtierten Komponisten
stehen.
Nicolaus Bruhns zählt zu einem der prägendsten
Vertreter eines zunehmend befreiten, affektgeladenen,
rhetorischen Stils, des Stylus phantasticus.
Bruhns wurde 1665 bei Husum geboren und war
u.a. Schüler von Dietrich Buxtehude. Insbesondere
J.S. Bach schätzte Bruhns sehr. Sein hier vorliegendes
Gesamtwerk für Orgel wird ergänzt durch Orgelwerke
von Melchior Schildt, der ca. eine Generation älter
ist als Bruhns. Er studierte u.a. bei Jan Pieterszoon
Sweelinch in Amsterdam. Bis zu seinem Tod 1667
war er Organist an der Marktkirche in Hannover.
Der Stylus phantasticus
[Der Stylus phantasticus] ist die freieste und am
wenigsten gebundene Art des Komponierens,
weder durch Worte noch ein harmonisches subjectum
eingeschränkt…1
Denn dieser Styl ist die allerfreieste und ungebundenste
Setz- Sing- und Spiel-Art, die man
nur erdencken kan…da man sich weder an
Worte noch Melodie, obwohl an Harmonie,
bindet, nur damit der Sänger oder Spieler seine
Fertigkeit sehen lasse…ohne eigentliche Beobachtung
des Tacts und Tons…bald hurtig bald
zögernd. Das sind die wesentlichen Abzeichen
des fantastischen Styls…so hat die Zeit-Maase
gar Feierabend.“ 2
In Norddeutschland zeichnet sich im 17.
Jahrhundert ein Höhepunkt der Orgelkunst
ab. Wie in anderen wichtigen Orgelmusik-
Regionen (Italien, Frankreich und
Spanien) gilt auch hier das Prinzip, dass
Orgelbau und Orgelspiel sich gegenseitig
befruchten. Durch ihre – sowohl handwerklich
als auch künstlerisch – innovativen Instrumente
beeinflussten Orgelbau-Dynastien
wie die Familien Scherer und Fritzsche das
Musikleben der Region nachhaltig. Mit Arp
Schnitger (1648–1719) haben wir den profiliertesten
Orgelbauer Norddeutschlands im
Blick; seine Werkstatt in Hamburg brachte
insgesamt ca. 150 Instrumente hervor, unter
ihnen die größten der Barockzeit.
Bedeutsam für die Entwicklung der Musik
im 17. Jahrhundert war eine zunehmend individualisierte
Affektausprägung, die den Stylus
phantasticus
3 bestimmte. Große Freiheiten
für den Spieler, ausschweifende rhetorische
Gesten sowie abrupte Wechsel in den musikalischen
Gedanken kennzeichnen diesen
Stil. Kirchers obiges Zitat bezieht sich auf die
frühe Entwicklung des Stylus phantasticus und
betont vor allem die Emanzipation der Instrumentalmusik
von der Vorherrschaft der Vokalmusik.
Die spätere Definition Matthesons
deutet interpretatorische Konsequenzen an.
Nicolaus Bruhns (1665–97), einen der wichtigsten
Vertreter dieses Stils, finden wir auf der
Zeitachse zwischen den beiden Zitaten.
Bruhns wurde 1665 in Schwabstedt bei
Husum geboren, kam etwa 1681 nach Lübeck,
studierte dort bei seinem Onkel Peter
Bruhns Violine und Viola da Gamba sowie

bei Dietrich Buxtehude (1637–1707) Orgel
und Komposition. Nach einem längeren
Aufenthalt in Kopenhagen wurde er 1689 zum
Organisten der Stadtkirche in Husum berufen.
Hier starb er am 29. März 1697 mit 31
Jahren; Nachfolger an der Stelle in Husum
wurde sein Bruder Georg Bruhns.
Johann Sebastian Bach (1685–1750)
schätzte Bruhns sehr, ihm verdanken wir
auch die Überlieferung dreier Bruhns’scher
Werke. „In der Orgelkunst nahm er [Bach]
sich Bruhnsens, Reinkens, Buxtehudens…ihre
Werke zu Mustern.“
4 Wie Bach war Bruhns
Geiger, was sich in seinen (Orgel-)Werken
gelegentlich zeigt.
Bruhns’ gesamtes Orgelwerk wird in der
vorliegenden Einspielung durch eine Auswahl
von Stücken Melchior Schildts (ca. 1592–1667)
ergänzt. Schildt, ein Sohn Hannovers, der
etwa eine Generation vor Bruhns wirkte, wird
von heutigen Organisten zu Unrecht vernachlässigt.
Wie mehrere seiner norddeutschen
Kollegen – z.B. Samuel Scheidt (1587–1654)
und Heinrich Scheidemann (um 1596–1663)
– nahm Schildt 1609–12 beim gefragten Pädagogen
Jan Pieterszoon Sweelinck (1562–1621)
in Amsterdam Unterricht. 1623 wurde Schildt
Organist der Hauptkirche Beatae Mariae Virginis
in Wolfenbüttel und weihte 1624 dort die
von Gottfried Fritzsche gebaute Orgel mit 40
Registern ein. 1626 berief ihn der dänische
König als Hoforganisten und Prinzenlehrer
nach Kopenhagen. Drei Jahre blieb Schildt im
Dienste des Königs Christian IV., übernahm
anschließend – nach dem Tod des bisherigen
Stelleninhabers, seines Vaters Antonius – die
Stelle des Organisten der Marktkirche in Hannover,
die er bis zu seinem eigenen Tode 1667
innehatte.
Zur Wahl des Instrumentes
Bruhns’ großes dreimanualiges Dienstinstrument
5
in der – das Stadtbild Husums dominierenden
– Marienkirche wurde 1629–32
von Gottfried Fritzsche erbaut und existiert
nicht mehr. Trotz seiner guten Orgel sann
Bruhns bald nach Amtsantritt in Husum
über einen Stellenwechsel nach; dies belegen
Verhandlungen mit der Stadt Kiel
6.
Die Vielfalt im musikalischen Ausdruck
der Bruhns’schen Orgelwerke verlangt nach
einem farbenreichen Instrument. Mit der
Arp-Schnitger-Orgel
7 der Norder Ludgerikirche
wurde für die Einspielung Ostfrieslands

größtes Barockinstrument
herangezogen,
dessen Bauzeit 1686–92 mit Bruhns’ Schaffen
zusammenfällt.
Dem Besucher der Ludgerikirche fällt
sofort der außergewöhnliche Standort
8 des
Instrumentes ins Auge. Offensichtlich wollte
Schnitger die Raumwirkung beim Bau der
Orgel direkt mit einbeziehen. In der feinen
Kirchenakustik ändert sich der Klangeindruck
mit jedem Schritt. Auch wenn der
Zuhörer an einem Standort verweilt, bleibt
die Entfernung zu den einzelnen Werken
der Orgel doch verschieden. So entsteht die
Illusion, der Klang entstamme
unterschiedlichen Quellen. Das Brustwerk kann mittels
kleiner Türen geschlossen werden, was eine
gedämpftere oder – im geöffneten Zustand
– direkte Klangabstrahlung in den Kirchenraum
ermöglicht.
Zu den Werken und ihrer Registrierung
Bruhns und Schildt verbindet zweierlei:
die geringe Anzahl der überlieferten Orgelwerke
und ihre Qualität. Damals wurde in
erster Linie improvisiert, nur ein Bruchteil
der Stücke wurde – meist für pädagogische
Zwecke – niedergeschrieben. Insgesamt
sind ein halbes Dutzend Orgelwerke beider
Komponisten sowie ein Dutzend Vokalwerke
Bruhns’ und ein einziges Vokalwerk Schildts
überliefert. Bruhns hinterließ kein Stück der
Gattung „weltliche Liedvariation“, während
Schildt hier mit zwei Werken – Gleichwie das
Feuer (02) und Paduane Lachrymae (13) – vertreten
ist.
Im Registrierungskonzept des Programms
spielt das 8’-Principal-Register im Manual
(Norden hat zwei von ihnen: im Werck bzw.
im Rückpositiv) eine wichtige Rolle. Häufig
dient ein einziges Principal 8’-Register als
zeichnende Begleitung in der linken Hand,
wobei die Klangvielfalt durch die jeweils
unterschiedlich registrierte rechte Hand entsteht.
Die 2. Variatio von Schildts Gleichwie
das Feuer (02) verwendet beide Principale
nacheinander solistisch.
In Schildts Werken sind mitunter Register
zu hören, die aus der Entstehungszeit der
Vorgängerorgel 1618 stammen und somit in
die Schaffensperiode Schildts fallen: So z.B.
der Gedact 8’ des Rückpositivs für den Anfang
des Paduane Lachrymae (13) oder die
Quintadena 16’ und Rohrflöte 8’ des Wercks
für die Einleitung von Allein Gott in der Hohe
sey Ehr (10).
Bruhns’ Präludium G-Dur (01) zeigt den
Aufbau einer norddeutschen Toccata, d.h.
freie Teile umschließen mehrere imitierende
Abschnitte: hier sind es drei Teile und zwei
Fugen. Diese haben ein Ur-Thema; die zweite,
fünfstimmige Fuge variiert das Thema der
ersten Fuge (sechsstimmig mit Doppelpedal)
lediglich in der Mensur. Der einleitende Teil
des Präludiums zeigt die vier Plena der vier
Orgelwerke (Manuale) abwechselnd.
Die damals international bekannte, volkstümliche
Melodie von Schildts Gleichwie das
Feuer (02) dürfte englischen Ursprungs sein.
Die Bearbeitung verkörpert eine von nur
zwei erhaltenen Variationen über weltliche
Liedweisen von norddeutschen Meistern der
Sweelinck-Schule.
Die Autorenschaft beim Präludium
g-Moll (03) ist bis heute nicht geklärt. Auf ein
norddeutsches Präludium mit ausgedehntem
Pedal-Solo folgt nach einer kurzen rezitativischen
Überleitung die Fuge, deren Thema
die zeittypischen Tonrepetitionen aufweist.
Der Primus Versus (04) von Schildts
fünfteiligem Magnificat ist ein Plenumsatz,
die vorliegende Einspielung bietet eine Version
mit Doppelpedal (registriert mit Zungenstimmen
der 16’-, 8’- und 4’-Lage). Hierbei
kommen die akustischen Verhältnisse der
Ludgerikirche – mit dem ins Kirchenschiff
hineinragenden Pedalturm – zum Tragen.
In einer Ausführung mit Doppelpedal treten
sowohl die Choralmelodie im Tenor als auch
der stützende Bass deutlich hervor, während
das Manual-Plenum für einen festlichen
Charakter des Versus sorgt.
Der Secundus Versus (05) bildet eine
ausschweifende Choralfantasie, kompositorisch
in vier klare Abschnitte gegliedert;
Aufbau und künstlerische Raffinesse zeigen
Verwandtschaft mit Heinrich Scheidemanns
Choral- und Magnificat-Fantasien. Auf die
schnelle Einleitung folgt ab T. 36 ein fröhliches
Echo-Spiel, abgelöst ab T. 58 von einer
ebenfalls echoartigen, mit 8’-Flöten registrierten
Passage. Im vierten Teil (ab T. 85)
hören wir ein ausladendes Solo der rechten
Hand über der immer wieder hervortretenden
Choralmelodie im Pedal. Dieses Solo
verwendet, neben einer Zungenmischung
des Oberpositivs, auch die Sesquialtera des
Rückpositivs aus der 1. Hälfte des 17. Jahrhunderts,
eines der schönsten Register aus
dieser frühen Zeit.
Der als Ricercar komponierte Tertius Versus
(06) erscheint mit seiner ausgedehnten
Chromatik als Essay über die mitteltönige
Stimmung: Der Reiz dieses expressiven Satzes
besteht in den unterschiedlichen Größen der
Halbtonschritte der chromatischen Fortschreitungen.
Einmal – mit dem Ton dis² im
T. 70 – verlässt Schildt den Tonbereich der
mitteltönigen Stimmung.
Das heitere Solo des Quartus Versus (07)
verwendet eine von Mattheson empfohlene
Registrierung
9 (Gedackt 8’ und Waldflöte 2’),
hier über der Choralmelodie (Trompete 8’) im
Pedal. Im Diskant des Quintus Versus zitiert
Schildt den gesamten Choral ein letztes Mal
(08), ausgeführt mit dem Werck-Plenum, ehe
das Stück unter Verwendung des Cimbelsterns
feierlich ausklingt. Bedenkt man, das Schildts
Magnificat den Ton a² nicht übersteigt, so stehen
wir vor einer bewundernswerten kompositorischen
Leistung.
Das unlängst im Husumer Orgelbuch
10
entdeckte und Bruhns zugeschriebene, mit
leisen Flötenklängen registrierte kurze Adagio
in D (09) wird wohl Fragment einer unbekannten
Bruhns’schen Komposition sein.
Der vierstimmig gearbeitete – klanglich
hier von Schnitgers hellem 1’-Register dominierte
– Choral Allein Gott in der Hohe sey
Ehr (10) wird jeweils von einem kurzen Prolog
und einer kurzen Coda umrahmt.
Verkörperte Schildts Choralfantasie (05)
aus dem Magnificat noch ein frühes und virtuoses
Beispiel, so strahlt Bruhns’ abgeklärtes
Stück der Gattung Nun komm der Heyden
Heyland (11) eine meditative Stimmung aus.
Der bekannte Adventschoral, mit vier Zeilen
in vier kompositorisch unterschiedliche
Abschnitte gegliedert, zieht sich wie ein roter
Faden durch das lange Werk, gelegentlich
durchbrochen von genretypischen Kompositionsmitteln
wie Echo-Effekten und dramatischen
Pausen.
Das bekannte „kleine“ Präludium e-Moll
(12) besticht durch seine symmetrische Anlage,
die in ihrer Mitte eine italienisch anmutende,
heitere Fuge birgt. Besonders wirksam
im Werk sind das Anfangs-Pedalsolo unter
Akkordblöcken, die darauf folgenden Echo-
Passagen sowie der Abschluss mit den „beschleunigten“
Akkordrepetitionen.
S childts Paduana Lachrimae (13) bearbeitet
John Dowlands berühmte Melodie, die
schon für William Byrd, Giles Farnaby und
Sweelinck als Vorlage zu Klavierkompositionen
gedient hatte… Schildt schuf …in seiner Fassung
– vielleicht der bedeutendsten von allen
Lachrymae-Kolorierungen – mit ihrem Wechsel
zwischen stiller Zurückgezogenheit auf Dowlands
Originalsatz und expansiver, auch die
unteren Stimmen des Satzes ergreifenden Kolorierung
(=ausgeschriebene Verzierung) ein
Stück von höchst gespannter Expressivität…
11
Bruhns’ „großes“ Präludium e-Moll (14)
ist „das…eindruckvollste Beispiel der norddeutschen
Orgeltoccata überhaupt.“12 Das Werk,
dessen häufige Brüche mit stets neuen
Affekten einhergehen, weist die meisten verschiedenen
Metren in einem einzelnen Werk vor
Bach auf. In der Registrierung wird jedem Affektwechsel
mit einer neuen Klangzusammenstellung
Rechnung getragen. Ähnlich dem eröffnenden
Präludium G-Dur zeigt das Präludium
e-Moll den Aufbau einer norddeutschen
Toccata mit mehreren freien Teilen und zwei
– im Ausdruck hier sehr unterschiedlichen –
Fugen. Trotz der vielen abrupten Wechsel und
dramatischen Pausen strahlt das Werk ein hohes
Maß an musikalischer Stringenz aus. Wurde
das Präludium G-Dur in seinem Anfang
und Abschluss auf 16’-Basis im Manual noch
mit der verhaltenen Quintadena registriert,
erhält das wahrhaft „große“ Präludium e-Moll
am Schluss des Programms eine Registrierung
mit der gravitätischen Trompete.
Joseph Kelemen
1 Athanasius Kircher, Musurgia universalis sive
ars magna consoni et dissoni, Rom 1650, in:
Matthias Schneider, Ad ostentandum ingenium,
& abditam harmoniae rationem – Zum
Stylus phantasticus bei Kircher und Mattheson,
in: Basler Jahrbuch für Historische Musikpraxis
XXII, Winterthur 1999, S. 204f., deutsche
Übersetzung von Matthias Schneider.
2 Johann Mattheson, Der vollkommene Capellmeister,
Hamburg 1739, Bärenreiter, Kassel
1999, § 93–94.
3 E ine Darstellung des Stylus phantasticus in:
Jürgen Trinkewitz, Historisches Cembalospiel.
Ein Lehrwerk auf der Basis von Quellen des 16.
bis 19. Jahrhunderts, Stuttgart 2009, Kap.6.8.5.
4 Zitiert in: Schulze, Hans-Joachim, Dokumente
zum Nachwirken Johann Sebastian Bachs 1750–
1800, Kassel 1972, S. 82.
5 Disposition angegeben in: Nicolaus Bruhns,
Sämtliche Orgelwerke, Edition Breitkopf, Wiesbaden
2008, Hrsg. Harald Vogel, S. 59.
6 M artin Geck, Nicolaus Bruhns. Leben und
Werk, Köln 1968, S. 13.
7 Für eine Geschichte und Dokumentation der
Orgel siehe Harald Vogel/Reinhard Ruge/
Robert Noah, Orgellandschaft Ostfriesland,
Norden 1997, S. 27–31. Die Disposition der
Arp-Schnitger-Orgel, abgedruckt auf S. 18–19
dieses Beiheftes, ist diesem Band (S. 162) entnommen.
8 S iehe hintere Umschlagseite.
9 M attheson, op.cit., § 88.
10 Das Husumer Orgelbuch von 1758, Carus, Stuttgart
2001, Hrsg. Konrad Küster.
11 Lied- und Tanzvariationen der Sweelinck-Schule,
Hrsg. Werner Breig, Schott Mainz 1970, Vorwort.
12 Geck, op.cit., S. 25.