Bach, Johann Sebastian:
Präludien und Fugen aus dem Wohltemperierten Clavier
BWV 860, 887, 858, 853, 891
Dmitri Shostakovich:
Präludien und Fugen op. 87 Nos. 4, 14, 15, 17
Bernd Glemser, Klavier
Dmitri Schostakowitsch schrieb seine Präludien und
Fugen nach dem Besuch der Feierlichkeiten in Leipzig
zum 200. Todestag Johann Sebastian Bachs 1950.
Dies führte im Konzertleben häufiger zu der Praxis,
Bachs Präludien und Fugen aus dem Wohltemperierten
Clavier direkt denen Schostakowitsch gegenüberzustellen.
Bernd Glemser verfolgt dabei keine enzyklopädische
Strategie, sondern entwickelte ein Programm,
das einen dramaturgisch motivierten Weg verfolgt
und atmosphärische Zusammenhänge aufzeigt.
Bernd Glemser hat bisher mehr als 30 CDs vorgelegt.
Galt der ehemalige Schüler von Vitaly Margulis
als besonders eng verbunden mit dem Klavierrepertoire
der deutschen Romantik sowie der virtuosen russischen
Schule, so erntete er zuletzt höchstes Lob für
seine Einspielung mit Transkriptionen von Werken
Bachs (OehmsClassics 706).
Neben einem vollen Terminplan als international
gefragter Solist pflegt Bernd Glemser auch sein
pädagogisches Interesse – derzeit als Professor an der
Musikhochschule Würzburg.
Verwandtscahaft im Geiste
Bernd Glemser im Interview mit Marco Frei
Herr Glemser, wo und wie äußert sich das
Wohltemperierte Klavier von Johann Sebastian
Bach in Dmitri Schostakowitschs 24 Präludien
und Fugen von 1950/51?
Das ist eine sehr komplexe Frage. Man kann musikwissenschaftlich
herangehen und Verwandtschaften
herausstellen – Verbindungen zwischen
einzelnen Fugen, in der Kontrapunktik und so
weiter. Krebsgestaltungen kommen bei beiden,
Bach und Schostakowitsch, fast gar nicht vor,
und natürlich gibt es Motive, die sich ähneln.
Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Die ersten vier Töne von Bachs Es-Moll aus dem
ersten Band und Schostakowitschs Es-Moll, Nr.
14, die ich beide für die CD eingespielt habe,
gleichen sich – nur die Reihenfolge ist etwas
anders. Ich glaube nicht, dass das ein Zufall ist.
Wo die Parallelen meiner Meinung nach geringer
sind, ist das, was ausgedrückt werden soll.
Inwiefern?
Bei Bach spielt eigentlich immer das Glaubensbekenntnis
eine Rolle. Er hat stets für den
lieben Gott geschrieben, von Schostakowitsch
kann man das nicht so sagen. Um Religiosität
geht es für mein Empfinden bei ihm nur partiell,
sie spielt aber dennoch eine Rolle.
Meinen Sie den Gebrauch von Kirchentonarten
bei Schostakowitsch?
Das ist ein springender Punkt, in den 24 Präludien
und Fugen kommen auch Kirchengesänge
vor. Für mich ist etwa die vierte Fuge in e-Moll,
Nr. 4 ein Beispiel für Religiöses, das erste Thema
hat für mich etwas Kirchliches.
1953 taucht es im Hauptthema des Kopfsatzes
aus der 10. Sinfonie, der so genannten „Stalin-
Sinfonie“, wieder auf.
Ich denke generell, dass sich bei Schostakowitsch
Welten überschneiden – oder sie gar aufeinanderprallen.
Die Fuge in Des-Dur, Nr. 15 ist
Welten von der Fuge in E-Moll entfernt: Diese
extrem dissonante, „formalistische“ Fuge ist mit
dem Sozialistischen Realismus überhaupt nicht
vereinbar und ist durchaus auch als politische
Aussage zu verstehen.
Auch deswegen, weil Schostakowitsch hier
eine direkte Brücke zu seinem seinerzeit in der
UdSSR verbotenen avantgardistischen Frühwerk
schlägt, wenn man an die 1. Klaviersonate
von 1926 denkt. Ist es vor diesem Hintergrund
nicht erstaunlich, dass Schostakowitsch kurz
vor Entstehung der 24 Präludien und Fugen
– nämlich 1948 – im Zuge der Zweiten Stalinschen
Kulturkampagne erneut als „Formalist“
massiv angegriffen worden war?
Absolut. Dass sich Schostakowitsch das getraut
hat, ist wirklich erstaunlich. Diese Fuge muss
die Hörer schockiert haben, und deswegen denke
ich sehr wohl, dass die 24 Präludien und Fugen
für Schostakowitsch eine gute Gelegenheit
waren, um etwas auszudrücken, was er in einem
anderen Zusammenhang nie hätte ausdrücken
können – weil das viel zu auffällig gewesen
wäre. So etwas „formalistisches“ wie die fünfzehnte
Fuge in Des-Dur hätte er damals in einer
Sinfonie nicht komponiert.
Weil die Sinfonie im Gegensatz zur Kammerund
Klaviermusik spätestens seit Beethoven
eine öffentliche, „massenwirksame“ Gattung
ist?
Ja. Ich denke, dass sich Schostakowitsch in der
Kammer- und Klaviermusik einen gewissen
Freiraum schaffen konnte. Das hat ja eine große
Tradition, nehmen wir doch Beethoven: Seine
Klaviersonaten und Streichquartette sind eben
nicht für eine breite Öffentlichkeit gedacht,
und was stecken da für Bekenntnisse drin! Derart
Avanciertes wie seine letzten Sonaten und
Quartette hätte Beethoven nicht in einer Sinfonie
oder einem Konzert verarbeitet, hier war
stets die Massentauglichkeit wichtig.
Schostakowitsch hat seine 24 Präludien und
Fugen anlässlich der Bach-Feierlichkeiten in
Leipzig komponiert. Schon früh wurden Bach
und Schostakowitsch auf CD gekoppelt. Wie
kamen Sie zu diesem Projekt?
In den 1980er Jahren, als ich noch Student war,
hatte der Südwestrundfunk – damals noch
Südwest-Funk in Freiburg – eine Konzertreihe.
Einmal wurden an vier Abenden die 24 Präludien
und Fugen von Schostakowitsch und das
Wohltemperierte Klavier von Bach verbunden,
in enzyklopädischer Abfolge und mit verschiedenen
Interpreten. Einen Abend habe ich bestritten,
wobei bei dieser Programmierung Bach
und Schostakowitsch getrennt voneinander in
verschiedenen Programmhälften aufgeführt
wurden. Ich wollte sie nun unmittelbar verbinden
und dabei nicht allzu musikwissenschaftlich
nach Tonarten- oder Motivverwandtschaften
Ausschau halten. Mir ging es um eine in sich
schlüssige Dramaturgie, um Stimmungen.
Nun gibt es eine Vielzahl von gewichtigen
Bach-Interpretationen, und Tatjana Nikolajewa
hat den Schostakowitsch-Zyklus seinerzeit
uraufgeführt und mehrfach eingespielt. Wie
gehen Sie mit diesem Rezeptionserbe um?
Als Kind habe ich Nikolajewa gehört. Vieles,
was Schostakowitsch geschrieben hat, wird von
ihr nicht genau wiedergegeben – und ich rede
nicht von der Metronomzahl, das ist ja immer
heikel. Ich habe auch meine Probleme mit
Schostakowitschs eigenen Interpretationen, sie
sind teilweise extrem schnell. Manches, was ich
bedrohlich oder karg höre, spielt er mit viel Pedal
und etwas süßlich: Er kommt noch aus der
romantischen Tradition. Ich verzichte eher auf
Pedal, um die Polyphonie und Kontrapunktik
klar herauszuarbeiten – auch bei Bach.
Was können junge Menschen von Bach und
Schostakowitsch lernen?
Von Bach kann man lernen, dass eine strenge
Form nicht Mangel an Emotionalität bedeutet.
Eine Fuge von Bach kann genauso traurig
sein wie ein Trauermarsch von Beethoven. Bei
Bach muss man es hinbekommen, Gefühle in
verschiedener Art und Weise zu artikulieren –
auch handwerklich. Bei Schostakowitsch ist es
die Sparsamkeit der Mittel, durch die er viel
sagt. Und wie auch bei Bach kann man von
Schostakowitschs Menschsein lernen, wobei
man bei ihm eines beachten muss: Viele Zeitzeugen,
die von seinen Nöten und Konflikten
unmittelbar wissen, gehen von uns. Viele Andeutungen
in seiner Musik wird man womöglich
nie entschlüsseln können. Dennoch bleiben
die existenziellen Fragestellungen hörbar – und
erhalten eine allgemein menschliche Bedeutung
wie bei Bach.
Marco Frei hat über Dmitri Schostakowitsch
promoviert. Sein Buch Chaos statt Musik –
Dmitri Schostakowitsch, die Prawda-Kampagne
von 1936 bis 1938 und der Sozialistische Realismus
ist 2006 im PFAU-Verlag Saarbrücken erschienen.