Mozarteumorchester Salzburg
Ivor Bolton, DirigentDrei durch ihre Form und Idee herausragende Sinfonien
Joseph Haydns versammeln Ivor Bolton und das
Mozarteumorchester Salzburg auf ihrer neuen CD.
Die Sinfonie Nr. 60 „Il distratto“, bricht mit der
viersätzigen Form zugunsten einer lockeren sechssätzigen
Abfolge. Dem Titel „Der Zerstreute“ entsprechend
(nach dem Protagonisten einer zeitgenössischen
Thaterkomödie) serviert Haydn hier eine besonders
hohe Dichte musikalischer Überraschungen und
komischer Momente, bis hin zur Generalpause im
letzten Satz, in der die Violinen ihre „verstimmten“
G-Saiten um einen Ganzton heraufstimmen.
Pauken und Trompeten kommen in der Sinfonie
Nr. 88 zum Einsatz, allerdings nicht, wie zu erwarten,
bereits im Eröffnungs-Allegro, sondern erst – ganz
gegen jede zeitgenössischer Erwartung – im langsamen
zweiten Satz.
„Das Wunder“, so der Beiname der Sinfonie Nr. 96,
ereignete sich wohl erst während der Aufführung der
Sinfonie Nr. 102 (wenn die Legende stimmt, fiel ein
Kronleuchter ins Parkett, unerklärlicherweise ohne
dass ein Zuhörer zu Schaden kam), aber auch hier
finden sich ein Ideenreichtum und kompositorische
Experimentierfreude, die selbst im farbigen OEuvre
Haydns außergewöhnlich sind.
Höchste Kunst klingt
quicklebendig
Was ist der Rang des Symphonikers Joseph
Haydn? Um diese Frage zu beantworten,
genügt es zunächst, sich vorzustellen, die
Musikgeschichte hätte ohne sein Wirken ihren
Gang genommen. Da wäre alles anders gelaufen,
und nicht nur in der Symphonik: auch in
Streichquartett und Solokonzert, in Klaviertrio
und -sonate, in Messe und Oratorium, weniger
wohl in der Oper. Doch wären Mozart und
Beethoven in der Art, in der wir sie kennen,
nicht möglich. Haydn hat die hauptsächlichen
Gattungen der Instrumental- und der Kirchenmusik
erneuert, und er hat die stilistischen und
technischen Grundlagen für die kommenden
Generationen geschaffen. Ohne Haydn kein
Beethoven; ohne Beethoven kein Wagner, kein
Bruckner, kein Brahms; ohne Wagner keine
Moderne, wie wir sie kennen und heute als
Selbstverständlichkeit annehmen.
Haydn hat 106 überlieferte Symphonien geschrieben.
Einige – u.a. die drei hier vorgestellten
– sind seit jeher sehr populär, insbesondere
die letzten 23 ab Nr. 82, also die sechs Pariser
und zwölf Londoner sowie die fünf dazwischen
liegenden Symphonien; außerdem vor allem
einige seiner „Sturm und Drang“-Symphonien
aus der Zeit zwischen 1765 und 1772 – einer
Zeit, in welcher sein symphonischer Stil sehr
aufregend, dicht und dramatisch wurde und
in welcher er mehr als ein Drittel seiner gesamten
Moll-Symphonien schrieb: Nr. 39 g-Moll,
Nr. 44 e-Moll „Trauersymphonie“, Nr. 45 fis-
Moll „Abschiedssymphonie“, Nr. 49 f-Moll „La
Passione“
(und eben wirkliche Moll-Symphonien,
nicht solche, die in Moll beginnen und mit
einem Dur-Finale enden wie Nr. 95).
Jene ‚Sturm und Drang’-Zeit ist eine der fesselndsten
und auch anspruchsvollsten Perioden
in Haydns Schaffen. Und dieses Schaffen war
nicht unabhängig, wie man sich das gerne heute,
in einer Zeit der „Subventions-Ästhetik“, die
sich vom Bedürfnis des Publikums weitgehend
abgekoppelt hat, vorstellen und Abweichungen
vom Primat der absoluten „künstlerischen Freiheit“
verurteilen möchte. Haydn erreichte es
zwar später mit seinen Londoner Erfolgen, ungezwungen
so schreiben zu können, wie ihm der
Sinn stand (und das bedeutet keineswegs, ohne
auf Wirkung und Erfolg zu schauen), doch zuvor
war er unmittelbar vom Wohlgefallen seines
Arbeitgebers, des Fürsten Esterházy (bei dem
er ab 1766 in Diensten stand), abhängig. Und
der legte nun doch mehr Wert auf Gefälligkeit,
als der Nachwelt gefallen mag. So war Haydn
ab 1774 gezwungen, sich mehr den
oberflächlichen Bedürfnissen des Hofes nach glanzvoller
Zerstreuung anzupassen, und in den folgenden
Jahren litt die symphonische Produktion – auf
höchstem Niveau, versteht sich – erheblich darunter.
Stattdessen hatte er sich nun verstärkt
der Oper zuzuwenden, die seinem Naturell weit
weniger entgegenkam. Zugleich stellte sich zunehmend
der internationale Erfolg ein.
In den Anfang dieser Periode fällt die 60.
Symphonie, „Il Distratto“, 1774 komponiert als
Schauspielmusik für die fünfaktige Komödie
‚Der Zerstreute’, eine Übersetzung von Jean-
François Regnards (1655–1709) „Le Distrait“. Sie
gehört zu Haydns originellsten, erfrischendsten
Schöpfungen jener Zeit. Erstaunlich genug, dass
sie sechs Sätze hat, und die sind gespickt mit
Überraschungen; zunächst der Kopfsatz mit jenem
dreimaligen Hängenbleiben auf einem Ton
und Verebben im Pianissimo: vor dem Ende der
Exposition, in der Überleitung zur Reprise und
kurz vor dem Abschluss. Das folgende Andante
ist durchsetzt mit kraftvollen Unisoni, die in der
ganzen Symphonie auftauchen – wie auch die
launig volkstümlichen ungarischen Themen im
Menuett, dem Presto und dem finalen Prestissimo.
Das wundervolle Adagio ist in der Art einer
Arie mit Begleitung gesetzt, mit einem machtvollen
Fanfaren-Zwischenspiel und einem völlig
überraschenden, lakonischen Allegro-Schluss.
Was für ein glänzender, unvorhersehbarer Ideenreichtum!
Eine kurzweiligere, abwechslungsreichere
Symphonie lässt sich nicht denken.
1784 wird Haydn vom Direktorium der
„Concerts de la Loge Olympique“ in Paris beauftragt,
sechs Symphonien zu schreiben. Dies
ist der Beginn der letzten, bedeutendsten Phase
seines symphonischen Schaffens, das in den
1790er Jahren von den zwölf Londoner Symphonien
und der „Oxford“-Symphonie gekrönt
wird. Zwischen den Pariser und den Londoner
Symphonien entstehen zwei symphonische Paare:
1787 die Nummern 88 und 89 für Johann
Tost, vormals Geiger im Esterházy-Orchester
unter Haydn und nunmehr erfolgreicher Geschäftsmann
in Wien, und 1788 die Nummern
90 und 91 für Claude-François-Marie Rigoley,
Comte d’Ogny, einen der Auftraggeber der Pariser
Symphonien. Die 88. Symphonie in G-Dur
hat sich im Konzertleben nachhaltig durchgesetzt
als eine von Haydns beliebtesten Symphonien,
und dies mit besten Gründen. Natürlich
hat auch sie ihre sofort auffallenden Besonderheiten
wie etwa die seltsame Bordun-Begleitung
im Trio des Menuetts, weswegen sie gelegentlich
den Beinamen ‚mit dem Dudelsack’ verpasst bekam.
Über das Largo sagte Johannes Brahms,
er wolle, dass seine Neunte Symphonie so klinge
wie diese Musik (leicht gesagt, wo er nicht
einmal eine Fünfte geschrieben hat). Dieses Largo
ist in seiner wundersam distinguierten Melodik,
seinem sonnigen In-sich-Ruhen, der magischen
Ökonomie der Begleitfiguren, der so klaren wie
ungewöhnlichen Proportionierung, der in drei
Phasen (Ankündigung – Durchsetzung – Nachklang)
die Gesamtform als Kontrast gliedernden
Fortissimo-Einwürfe ein Wunderwerk von
fragiler Balance und nobler Innigkeit. Einen
ungeheuren Drive entfesselt der Kopfsatz mit
der dynamisch anspringenden Kopplung des
fröhlichen Hauptthemas mit seinem ungeduldig
drängenden Kontrapunkt – organisch aus
diesem Anfang abgeleitetes Ergebnis ist die
fulminante kontrapunktische Auftürmung am
Höhepunkt in der Durchführung. Nicht genug
damit: im Schluss-Rondo frönt Haydn weiter
der Freude an der kontrapunktischen „Tour de
Force“ (H.C.R. Landon), indem er das Thema
in einen schwindelerregend enggeführten Kanon
(im Viertelabstand) verwickelt. Ein Prachtstück
der klassischen Symphonie, die 88. Symphonie,
und nicht von ungefähr die Lieblings-
Haydn-Symphonie einiger großen Dirigenten
wie beispielsweise Wilhelm Furtwängler oder
Fritz Reiner.
Um die 96. Symphonie, die zu den ersten vier
– 1791 entstandenen – Londoner Symphonien
zählt, entspann sich eine Legende, die zu dem
Titel „The Miracle“ (Das Wunder) führte. Während
der Aufführung drängte das Publikum nach
vorne, zu Haydn hin, als ein riesiger Kronleuchter
sich aus seiner Verankerung löste und in die
Mitte des Saals stürzte. Da dort niemand mehr
saß, gab es auch keine Opfer. Diese Wunder-
Geschichte hat sich wohl tatsächlich zugetragen,
jedoch nicht in einer Aufführung der 96., sondern
der 102. Symphonie, die folglich Anspruch
auf diesen Beinamen hätte (und ironischerweise
unter den letzten fünf Symphonien die einzige
ist, die mit keinem Beinamen versehen wurde;
Vorschlag: „The Secret Miracle“). Die 96. Symphonie
ist eines jener zwölf Zeugnisse abgeklärter
Meisterschaft, die als die Londoner Symphonien
zum Kanon der großen klassischen Symphonik
zählen. Wie die beiden anderen hier eingespielten
Symphonien hat sie eine langsame Einleitung,
in welcher die Kunst der fast neutralen
Vorbereitung, der offenen Ankündigung kultiviert
ist. Das motivische Gewebe des Allegro ist
noch dichter als früher, auch die „komponierten
Pausen“ erfüllen ihre (teils modulatorische)
Funktion perfekter denn je, und das Wesen der
Sonatenform (Drama des Gegensatzes) wird tiefer
entfaltet in der eigentümlichen Kontur des
zweiten Themas. Stringenz und vollendete Anmut
vereint in souveräner Weise das Andante,
das im dramatisch bewegten g-Moll-Mittelteil
die
der Heiterkeit innewohnende Gegenwelt
offenbart und im Schlussteil nach einer Fermate
solistisch fortführt, wodurch sich der Hörer
wie in ein Solokonzert versetzt fühlt. Auch die
Menuette tendieren in den späten Symphonien
ganz selbstverständlich zu größerer Anlage, und
hier ist es vor allem das Trio mit der Solooboe,
welches diesen Satz von Anfang an zu einem
besonderen Publikumsliebling machte. Im Finale
schließlich führt uns Haydn mit leichter
Hand vor, wie intrikateste Satzkunst dem Ton
unwiderstehlich umgarnender Konversation zu
Diensten steht – die höchste Kunst klingt nicht
gelehrt, sondern (wie auch, auf so ganz andere
Weise, bei Mozart) quicklebendig und immer
neu, und schlägt Funken aus jedem Material,
den Unkundigen bei der Hand nehmend, den
Kenner ergötzend. Ein gelebtes Ethos, auf das
sich rückzubesinnen für heutige Schaffende
lohnte.
Christoph Schlüren