Sinfonie Nr. 9 e-Moll op. 95 „Aus der Neuen Welt“
Radio-Symphonieorchester Wien
Bertrand de Billy, DirigentDer Amerika-Aufenthalt der Familie Dvorák ab
1892 bedeutete in doppelter Hinsicht einen vorübergehenden
Verzicht für Dvoráks 18-jährigen
Kompositionsschüler Josef Suk: Dieser musste nicht
nur für längere Zeit ohne seinen Lehrer, Ratgeber und
väterlichen Freund auskommen, dazu wurde er noch
von Dvoráks Tochter Otylka getrennt, zu der sich
eine Beziehung anbahnte. Nach der Rückkehr der
Dvoráks dauerte es noch einige Jahre bis die beiden
schließlich 1898 heirateten.
Aus seinem Märchen-Melodram Radúz a Mahulena,
das im Hochzeits-Jahr 1898 uraufgeführt wurde,
destillierte Josef Suk die viersätzige Orchestersuite
Pohádka op. 16.
Antonin Dvorak (1841–1904)
9. Sinfonie e-Moll op. 95, „Z nového sveta“ (Aus der Neuen Welt)
Josef Suk (1874–1935)
„Pohádka“ (Märchen), Sinfonische Suite E-Dur op. 16
In bitterer Armut absolvierte Antonín
Dvorak die Prager Orgelschule. 1859
legte er ein glänzendes Examen ab, doch
musste er sich mit Tanzmusik, als Orchesterbratscher
und Klavierlehrer noch jahrelang
über Wasser halten. Dessen ungeachtet
heiratete er 1873 seine frühere Schülerin
Anna C? ermáková. Schwer traf das Paar der
Verlust der drei ersten Kinder: Josefa starb
am 19. September 1875 zwei Tage nach der
Geburt. Im August 1877 trank die elf Monate
alte Ru°zena versehentlich Milch, in
die zuvor Zündhölzer gefallen waren und
starb an der Vergiftung. Nur drei Wochen
später erlag der dreijährige Otakar den
Windpocken. Glücklicherweise wurden
später sechs weitere Kinder geboren, die
überlebten – Otylka (1878), Anna (1880),
Magdalena (1881), Antonín (1883), Otakar
(1885) und Aloisie (1888). Zwar hatten
dem Komponisten die Slawischen Tänze
(1878) und andere Werke, dank Vermittlung
von Brahms im renommierten Verlag
von Simrock erschienen, den Durchbruch
gebracht. Auch waren die Konzertreisen
als Dirigent eigener Werke, die er ab 1884
insbesondere nach England und Russland
unternahm, finanziell ertragreich.
Doch Ende der Achtziger hatte schließlich
Dvorak eine Familie mit sechs Kindern zu
versorgen. Dies mag mit den Ausschlag
dafür gegeben haben, dass er Ende 1890
nach anfänglichem Zögern zusagte, an der
neu gegründeten Kompositionsschule des
Prager Konservatoriums zu unterrichten.
Unter den zwölf Schülern seines ersten
Lehrjahrs war der 17-jährige Josef Suk
der Begabteste. Er war schon seit 1885 am
Konservatorium und praktisch mit dem
Studium fertig, doch blieb er noch, um
bei Dvorak Komposition studieren zu
können. Suk wurde bald sein
Lieblingsschüler
und Freund; seinen Abschluss bei
ihm machte er im Sommer 1892 mit der
Dramatischen Ouvertüre op. 4. Auch ging
Suk im Hause der Dvoraks ein und aus.
Die älteste Tochter Otylka hatte es ihm
bald angetan, doch musste er sich zurückhalten
– am 4. Januar 1892 war Josef 18 geworden,
doch Otylka wurde im Sommer
erst 14. Zu allem Überfluss wurde sie ihm
für einige Zeit genommen, denn unterdessen
hatte Dvorak nach langem Zögern ein
lukratives Angebot angenommen: Jeanette
Thurber, reiche Mäzenin und Präsidentin
des Nationalen Konservatoriums in New
York, hatte erkannt, dass eine Persönlichkeit
aus Europa Direktor ihres jungen Institutes
werden sollte, um es an die Spitze
zu bringen. Sie bot Dvorak großzügige
Konditionen. Am 20. Juni 1891 schrieb der
Verblüffte an den Freund Alois Göbl: „Ich
soll für zwei Jahre nach Amerika fahren, die
Direktion des Konservatoriums übernehmen
und zehn Konzerte leiten (eigene Kompositionen),
für acht Monate und vier Monate
(follow) werden mir dafür jährlich 15.000
Dollar, das heißt über 30.000 Gulden angeboten.“
In Prag bezog er ein Jahresgehalt
von 1.200 Gulden …
Am 17. September 1892 schiffte sich
Dvorak in Bremerhaven ein und reiste mit
der „Saale“ nach New York. Ihn begleiteten
Gattin Anna, Tochter Otylka und der
neunjährige Sohn Tonik. Außerdem hatte
er als „Mädchen für alles“ den Schüler
und Freund Josef Kovar?ík mitgenommen,
geboren als Sohn tschechischer Emigranten
in Spillville/Iowa und ab 1888 Student
in Prag – Dvorak nannte ihn liebevoll den
„Indianer“. Die vier übrigen Kinder blieben
bei Vater, Schwager und Schwester zurück.
Jeannette Thurber hatte einen beispiellosen
PR-Rummel angezettelt. Am 6. Oktober
1892 schrieb Dvorak in die Heimat: „Die
Zeitungen in ganz Amerika machen ungeheures
Aufhebens; sie begrüßten mich wie einen
Erlöser. (…) Ich selbst wurde gleich am ersten
Tag von Reportern bestürmt, was schrecklich
war.“ In der East 17th Street 327 fanden die
fünf eine geräumige Wohnung. Dvorak
trat sein Amt am National-Konservatorium
mit allem gebotenem Engagement an.
Auch wurde schon sein erstes Konzert am
21. Oktober, u.a. mit dem Te Deum und
drei Ouvertüren,
ein großer Erfolg.
Noch im November beendete er den
Hymnus The American Flag und machte
sich Gedanken über eine neue Sinfonie.
1931 schilderte Harry Petterson Hopkins,
späterer Schüler Dvoraks in Prag, aus
Gesprächen mit ihm darüber: „ ,Ich habe
sie in F-Dur begonnen‘, sagte er nachdenklich,
,Ausdruck von Glück und Fröhlichkeit.
So schrieb ich die Hälfte des ersten Satzes.‘
Er bemerkte meine Überraschung und fügte
hinzu: ,Das zweite Thema erschien mir
dann zu einfach, deshalb habe ich es nochmals
verändert.‘ Dann fuhr er fort: ,Ich trage
immer ein Merkbuch bei mir und so skizzierte
ich die Themen, wie ich sie in Amerika
hörte. Später beschloss ich, dass es besser
sein würde, sie in Moll zu versetzen. Und so
steht die Sinfonie nun in e-Moll.‘ “ Einiges
vom ursprünglichen Material fand offenbar
später Eingang in das ›amerikanische‹
Streichquartett op. 96, das in der Tat in
F-Dur steht und nach der Sinfonie beendet
wurde. Eigentlich inspiriert wurde die
Sinfonie jedoch durch das Epos Hiawatha
von Henry Wadsworth Longfellow (1807–
1882), das uralte Indianer-Legenden verarbeitet
und von dem gleichnamigen Weisen
berichtet, der sein Volk Liebe und Frieden
lehrt. Eine tschechische Übersetzung war
bereits 1872 in Prag erschienen; Dvorak
kannte es gut und trug sich lange mit dem
Gedanken, eine Oper daraus zu machen.
Nach seiner Ankunft in New York plante
er eine Hiawatha-Kantate, doch fand sich
kein geeigneter Librettist, und das Projekt
wurde aufgegeben.
Dvorak interessierte sich sehr auch für
indogene Volksmusik, die er als Grundlage
für eine künftige amerikanische Musik betrachtete.
Miroslav Ivanov legte in seinem
vorzüglichen Buch „Dvorak in Amerika“
(orig. NovoSvetská, Prag 1985) nahe, dass er
sogar schon früher mit solcher Musik in
Berührung gekommen sein könnte: Anfang
August 1879 gab es ein weit beachtetes
Gastspiel einer Indianergruppe in
Prag. Dvoraks Freund Novotny verfasste
darüber eine Besprechung inklusive einiger
Notenbeispiele der Indianergesänge,
aus denen sich einiges im Material zur

Sinfonie wie auch des Quartetts wiederfinden
lässt. Allerdings stellte Dvorak später richtig:
„Ich habe einfach Originalthemen geschrieben,
denen ich die Eigentümlichkeiten
indianischer Musik einverleibte, und indem
ich diese Themen benützte, habe ich sie mit
allen Errungenschaften modernen Rhythmus,
der Harmonie, des Kontrapunkts und
der Orchesterfarben weiterentwickelt.“ So
mag man Amerikanismen aus der Sinfonie
heraushören und vermuten, insbesondere
die Innensätze seien eine Tanz- und
Begräbnis-Szene aus dem Hiawatha-Epos,
doch ist sie dessen ungeachtet die eines
Böhmen in Amerika mit Heimweh, und
im Anfang ihres Scherzo klingt sogar noch
das Scherzo aus Beethovens Neunter an!
Der Anklang im Schlussthema der Flöte
des ersten Satzes an das Spiritual Swing
low, sweet chariot kann freilich durchaus
Absicht sein – lauten doch die Worte
dazu „coming for to carry me home“ (!).
Und was Dvorak eigentlich meinte, als er
im Manuskript nach Beendigung am 24.
Mai 1893 die Worte „From the new world“
nachtrug, nannte Josef Kovar?ík in seinen
späteren Erinnerungen einen „der unschuldigen
Scherze des Meisters“, der sich nach
der Uraufführung über die verschiedensten
Deutungen des Titels amüsierte „und sagte:
,Es scheint also, dass ich ihnen ein wenig den
Kopf verdreht habe.‘ Und er fügte hinzu: ,Bei
uns daheim werden sie gleich verstehen, was
ich gemeint habe.‘ “ In der Tat: „Nový Svet“
(neue Welt) heißt noch heute ein Stadtteil
von Prag am Rande des Hradschin, damals
ein beliebtes Vergnügungsviertel …
Josef Suk hatte unterdessen mit dem
Aufbau seiner Karriere zu tun; insbesondere
wurde er 1892 zweiter Geiger des
Tschechischen Quartetts, das bald zu Weltruhm
gelangen sollte und dem er bis 1933
angehören würde. Auf Otylka musste er
warten, bis die Familie Dvorak am 30. Mai
1894 aus den Staaten zurückkehrte. Dass
der mit der Pubertät seiner ältesten Tochter
etwas überforderte Vater noch einmal
nach Amerika zurück musste, mag für die
Entwicklung der jungen Liebe zunächst
hilfreich gewesen sein, doch nach seiner
endgültigen Rückkehr nach Prag mussten
Josef und Otylka behutsam und sehr lang
sam ihre Familien an ihre aufblühende Liebe
gewöhnen. Deren musikalisches Zeugnis
wurde eine Bühnenmusik, die Suk 1897/8
zum Märchenspiel Radúz a Mahulena von
Dvoraks Freund Julius Zeyer (1841–1901)
komponierte. Die beiden gleichnamigen
Königskinder können darin nicht zueinander,
denn die Reiche ihrer Eltern sind verfeindet.
Mahulenas Mutter Runa verfügt
über Zauberkräfte und unternimmt immer
neue Anstrengungen, die Verbindung der
Kinder zu verhindern, bis am Ende der
Fluch aufgehoben wird und die Liebe siegt.
Suk identifizierte sich und Otylka mit den
beiden Protagonisten – obwohl Dvorak
selbst sich über die Verbindung freute. Das
zeigt sich nicht zuletzt darin, dass auf seinen
Wunsch hin die Hochzeit der beiden an seiner
eigenen Silbernen Hochzeit stattfand,
am 17. November 1898.
1898 war auch die Uraufführung von
Radúz a Mahulena ungemein erfolgreich,
und Suk fasste den Entschluss, parallel
zu seiner im Entstehen begriffenen, herrlichen
ersten Sinfonie E-Dur op. 14, aus
der Bühnenmusik eine Suite zu gestalten,
die ebenfalls in E-Dur steht und zugleich
eine Hommage an seinen Schwiegervater
darstellt: Sowohl inhaltlich als auch in der
Struktur gibt es Parallelen zwischen dem
1900 beendeten Pohádka (Märchen) und
den vier neuartigen Tondichtungen nach
den Balladen von Karel Jaromír Erben,
mit denen Dvorak 1897 von sich reden
gemacht hatte. So klingt im Liebesthema
von Radúz und Mahulena das Hochzeitsthema
aus Dvoraks Waldtaube an. Das
Übersinnliche – bei Suk gleich nach dem
Liebesmotto vom Anfang – ist ein ebenso
typisches Element in Dvoraks Balladen wie
die Dorfmusikanten-Musik des zweiten
und der Trauermarsch des dritten Satzes.
Suk konnte übrigens damals nicht ahnen,
was das Schicksal für ihn bereit hielt: Am
1. Mai 1904 starb Dvorak, und gut ein Jahr
später, am 6. Juli 1905, auch Otylka. Den
Verlust der jungen Frau, die nur 27 Jahre
alt wurde, hat Suk nie verwunden. Seine
monumentale Asrael-Sinfonie schrieb er
beiden zum Gedenken.
Benjamin-Gunnar Cohrs, © 2009