Klaviersonate Nr. 15 op. 28 „Pastorale“
Sechs Variationen über ein eigenes Thema op. 34
Eroica-Variationen op. 35
Michael Korstick, Klavier
Michael Korsticks hochgeschätzter Beethoven-Zyklus,
der weitgehend chronologisch aufgebaut ist, tritt mit
Vol. 6 in ein Stadium, wo Beethoven Vorausahnungen
auf spätere Entwicklungen in seinem Schaffen gibt.
Die Sonate op. 28 entfernt sich von dem klassischen
Charakterpaar Haupt- und Nebensatz zugunsten
einer durchgängigen motivischen Entwicklung.
Op. 34, von Beethoven selbst – gemeinsam mit
op. 35 – als „ganz neu“ bezeichnet, führt die Form
der Variation auf eine neue Entwicklungsstufe: Jede
Variation steht in einer eigenen Tonart und verkörpert
einen individuellen musikalischen Typus. Op. 35
schließlich greift zu den Sternen und lotet extreme
Gestaltungsformen aus. Die grandiose Schlussfuge
weist bereits auf die Hammerklaviersonate op. 106.
Deutsch, europäisch, global?
Vor kurzem gelang es einem Journalisten,
seinen Interviewpartner Michael Korstick
mit der ominös auf dem vorletzten Wort
betonten Frage „Sind Sie ein deutscher Pianist?“
für einen Moment in nachdenkliches
Schweigen zu versetzen. Ging es doch nicht
um eine Frage, die sich durch einen Blick in
den Reisepass beantworten ließe, sondern
um eine künstlerische Standortbestimmung.
Und betrachtet man die Stationen von Korsticks
Werdegang und seine musikalischen
Vorlieben, so wird schnell klar, dass sich
diese Frage tatsächlich nicht mit einem Satz
beantworten lässt.

Seinen ersten Klavierunterricht erhielt
der Neunjährige in seiner Kölner Nachbarschaft,
ohne dass hieran irgendwelche
Erwartungen geknüpft waren, und so war
die Überraschung groß, als Korstick zwei
Jahre später vom lokalen Wettbewerb
„Jugend musiziert“ mit einem ersten Preis
nach Hause kam. Über seine ersten Jahre
am Klavier äußert Korstick, dass der Unterricht
insbesondere im Bereich der Technik
gravierende Mängel gehabt habe, es sich
jedoch als ungeheurer Vorteil erwiesen
habe, dass er jedes neue Stück im Unterricht
zunächst komplett vom Blatt spielen
musste, wodurch er eine extrem rasche
Auffassungsgabe und hohe Lerngeschwindigkeit
entwickeln konnte. So hatte er mit
fünfzehn bereits alle Suiten von Bach, fünfzehn
Sonaten von Haydn, alle von Mozart
sowie seine ersten Beethoven-Sonaten
gelernt.
Mit der Entscheidung, sich ernsthaft
mit dem Klavierspiel zu beschäftigen, kam
der Wechsel zu seinem ersten professionellen
Lehrer Jürgen Troester, dessen Lehrer
Conrad Hansen ein Vertreter der großen
deutschen Klaviertradition
war. Troester
brachte Korsticks Technik zunächst auf
eine solide Basis und begann, mit Brahms,
Chopin, Schumann, Debussy und Ravel
den Horizont seines Schülers zu erweitern,
wobei sich bald herausstellte, dass
dieser in gestalterischen Fragen bereits
völlig eigene Vorstellungen hatte, die er im
Unterricht regelmäßig vor seinem Lehrer
rechtfertigen musste.
Ganz neue Aspekte ergaben sich
dann durch die Begegnung mit der russischen
Meisterpianistin Tatiana Nikolaieva,
zunächst bei Meisterkursen, aus denen
eine jahrelange Verbindung erwuchs.
Besonders ihr – romantisches – Bach-
Spiel beeindruckte Korstick stark, und er
empfand ihr Denken in Bildern als „große
Bereicherung“ bei der Musik des 19. und
20. Jahrhunderts, während seine Sicht
auf die Wiener Klassik fast unbeeinflusst
blieb.
Zwei Jahre lang studierte Korstick
bei Hans Leygraf in Hannover, wo der
Schwerpunkt auf dem bewussten Umgang
mit Klangfarben und deren Erzeugung lag,
was Korstick als „ungeheuer lehrreich“
bezeichnet und als „Glücksfall“, da er
hier einen Lehrer hatte, der bereit war,
auch interpretatorische Entscheidungen,
die von seinen eigenen Konzepten abwichen,
zu unterstützen und umsetzen zu
helfen, solange diese begründet und in sich
logisch waren.
Schließlich ging Korstick 1976 für sieben
Jahre in die USA, wo er an der Juilliard
School in New York bei Sascha Gorodnitzki
studierte, der Meisterschüler und Assistent
des legendären Josef Lhévinne gewesen
war und die Linie des romantischen
Klavierspiels russisch-amerikanischer
Prägung vertrat. Die Sommermonate seiner
ersten Jahre in den USA verbrachte
Korstick
an der Aspen Music School, wo
er mit der Pädagogin Jeaneane Dowis am
technischen Feinschliff arbeitete. In dieser
Zeit erarbeitete sich Korstick den „großen
Ton“ und die Mittel des „romantischen
Stils“; gleichzeitig behielt er eine gewisse
Distanz zu der polierten Oberfläche und der
gewissen Glätte, die das Ideal dieser Richtung
ist, und blieb besonders beim Thema
Beethoven seinen europäisch geprägten
Idealen treu.
So überrascht es nicht, dass Korstick
auf die anfangs zitierte Gretchenfrage
weder mit Ja noch mit Nein antworten
wollte und sich als „Promenadenmischung“
bezeichnete, die „an vielen Honigtöpfen
genascht“ habe.
Wichtiger als sich dem Denken einer
bestimmten Richtung oder Schule zu
unterwerfen,
sei, einerseits eine unverwechselbare
Individualität zu besitzen,
andererseits jedoch eine größtmögliche
Palette instrumentaler Möglichkeiten zum
Einsatz bringen zu können, um unterschiedlichen
stilistischen Anforderungen mit den
jeweils adäquaten Mitteln zu begegnen.
Vorgemacht habe das ja schon einmal
eine historische Pianistenpersönlichkeit,
und so schloss Korstick: „Wenn Sie darauf
bestehen würden, Walter Gieseking als
,deutschen’ Pianisten abzustempeln, dann
könnte ich mit so einem Etikett immerhin
leben, ohne nachts ins Kissen zu beißen…“
Variationen über Beethoven
Alle drei Werke dieser CD haben eines
gemeinsam: jedes weist auf seine Art
weit voraus auf künftige Entwicklungen im
Schaffen Ludwig van Beethovens. Mit der
Sonate op. 28 von 1801 kehrt Beethoven
zwar nach den beiden Quasi una fantasia
betitelten Sonaten op. 27 zurück zur „klassischen“,
viersätzigen Form, aber bereits
der Anfang, welcher die Keimzelle des Violinkonzerts
in sich trägt, macht ganz klar,
wie weit der Komponist sich von seinen
Anfängen entfernt hat und die Tür zu einem
neuen Jahrhundert aufstößt.
Das sollte jedoch nicht zu vorschnellen
Schlüssen verleiten, etwa, Beethoven
habe hier ein „pastorales“ Stück in Vorausahnung
Schuberts im Sinn gehabt. Dem
widersprechen
schon die zahlreichen stacheligen
Sforzati und auffahrenden Gesten,
durch die Beethoven – wenn sie nicht vom
Interpreten weichgespült werden – eine
Atmosphäre erzeugt, die mit biedermeierlicher
Gemütlichkeit recht wenig zu schaffen
hat. Das Neue liegt vielmehr darin,
dass der Komponist einen stetigen Fluss
erzeugt und die klassische Profilierung
zwischen Haupt- und Seitenthema hinter
das Prinzip einer kontinuierlichen motivischen
Entwicklung zurücktreten lässt. Im
zweiten Satz begegnet uns die im Largo
der Sonate op. 7 erprobte Methode, eine
langgezogene Legato-Melodie der rechten
Hand über eine Quasi-Pizzicato-Begleitung
der linken zu legen, hier jedoch mit einem
viel asketischer wirkenden Ergebnis. Der
Mittelteil nimmt fast wörtlich eine Idee aus
dem zweiten Satz der 2. Sinfonie vorweg.
Der dritte Satz ist merklich ökonomischer
angelegt als seine Vorgänger-Scherzi, und
der vierte knüpft an die langen Orgelpunkte
des ersten Satzes an. Es dürften diese auf
die 6. Sinfonie vorausweisenden Elemente
sein, die dieser Sonate nach Beethovens
Tod den Beinamen „Pastorale“ eingetragen
haben, welcher dem Stück zwar nicht
zu wirklicher Popularität verholfen hat,
aber zumindest nicht ganz absurd genannt
werden kann.
Die Bedeutung der Variationsform im
Schaffen Beethovens wird in der öffentlichen
Wahrnehmung gern auf bewunderndes
Staunen über ein Riesenwerk wie die
Diabelli-Variationen op. 120 reduziert, tatsächlich
jedoch war diese Form für einen
Komponisten, der wie kaum ein anderer
die Fähigkeit besaß, Themen durch ständiges
Feilen zu optimieren und innerhalb
einer Architektur zu maximaler Wirkung zu
bringen, eine einzigartige Gelegenheit, sich
neue Ausdrucksmöglichkeiten
innerhalb
eines festgefügten dramaturgischen Rahmens
zu eröffnen. So ist es kein Zufall, dass
bereits das erste erhaltene und gedruckte
Werk Beethovens eine Reihe von Variationen
(über einen Marsch von Dressler, 1782)
ist, welche er als Zwölfjähriger in Bonn
komponiert hatte.
Als Beethoven 1803 nach 18 Klaviersonaten
seine Opera 34 und 35 veröffentlichte,
hatte er bereits 13 Variationswerke für
Klavier komponiert, in denen er zwar neuartige
pianistische Techniken ausprobiert
hatte, jedoch noch kaum über eine ornamentale
Veränderung der Themen, meist
populärer Melodien, hinausgegangen war,
wie man das von Mozart kannte. So ist
aufschlussreich, was er in einem Brief vom
Oktober 1802 an seinen Verleger schrieb:
„Da diese V(ariationen) sich merklich von
meinen früheren unterscheiden, so habe
ich sie, anstatt wie die vorhergehenden nur
mit einer Nummer (nämlich z.B.: Nr. 1, 2, 3,
u.s.w.) anzuzeigen, unter die wirkliche Zahl
meiner größeren musikalischen Werke aufgenommen,
da auch die Themas von mir
selbst sind.“
Niemand könnte die Bedeutung der
Werke besser beschreiben als Beethoven
selbst: „beide sind auf eine wirklich ganz
neue Manier bearbeitet, jedes auf eine
andre verschiedene Art, [...] ich höre es
sonst nur von andern sagen, wenn ich neue
Ideen habe, indem ich es selbst niemals
weiß, aber diesmal – muß ich Sie selbst
versichern, daß die Manier in beiden Werken
ganz neu von mir ist.“
Opus 34 beginnt mit einem 22-taktigen
Thema in F-Dur, welches in dreiteiliger
Form geschrieben ist und für sich genommen
ein abgeschlossenes Charakterstück
darstellt. Es folgen sechs Variationen, von
denen, was wirklich revolutionär ist, jede in
einer anderen Tonart steht (D-B-G-Es-c-F)
und einen eigenen Charakter verkörpert,
so etwa Scherzo, Menuett und Trauermarsch.
Nach der Finalvariation erscheint
das Thema noch einmal in Gänze, diesmal
in reich ornamentiertem Gewand.
Beethoven beschränkt sich innerhalb
dieses noch nie dagewesenen Konzepts
auf eine unkomplizierte pianistische
Schreibweise; er verzichtet weitgehend
auf virtuose Herausforderungen und verlegt
die Anforderungen an den Interpreten
ganz in die gestalterische Sphäre.
Ganz anders das monumentale Opus 35,
ein Gipfelwerk der Klavierliteratur: Hier
benutzt Beethoven die Variationsform als
Experimentierfeld, um sowohl im Ausdruck
als auch im pianistischen Vokabular in
neue Bereiche vorzustoßen. Bei näherer
Betrachtung stellt sich heraus, dass in diesem
Werk tatsächlich bereits alle Elemente
des Beethoven’schen Spätstils vorhanden
sind und gleichsam auf ihre Verwendungsmöglichkeiten
getestet werden. So liegt
etwa in der fünften Variation die Keimzelle
für die fünfte Variation im Schlusssatz der
Sonate op. 109; am Schluss der fünfzehnten
Variation (ab 7‘50“) findet sich die Idee
für das Ende des zweiten Arioso-Teils in
op. 110, und selbst jene berühmte, von
Thomas Mann in seinem „Doktor Faustus“
anschaulich beschriebene Stelle in den
Arietta-Variationen
von op. 111, wo die
tiefste
Lage des Flügels unvermittelt im klaffenden
Abstand von fünfeinhalb Oktaven
dem höchsten Diskant gegenübergestellt
wird, wirft in dieser fünfzehnten Variation
bei 4‘55“ und 6‘10“ ihre Schatten voraus.
Und die aberwitzige Fuge enthält bereits
praktisch das gesamte pianistische Vokabular
der berüchtigten Schlussfuge der
Hammerklaviersonate op. 106. Weitere Beispiele
ließen sich anführen in diesem Riesenwerk,
welches in seiner musikalischen
Ausdruckswelt und immensen Sprengkraft
Beethovens
größten Schöpfungen in nichts
nachsteht.
So ist auch der Titel Eroica-
Variationen,
unter dem das Werk bekannt ist, weil
Beethoven das Thema im vierten Satz seiner
3. Sinfonie noch einmal verwendete,
durchaus als Charakterbeschreibung angemessen,
aber noch viel treffender wäre es,
auch in einem philosophischen Sinne, hätte
man dem Werk nach der tatsächlichen
Herkunft des Themas aus dem 1800/1 entstandenen
Ballett den Titel „Prometheus-
Variationen“ gegeben.
Sascha Selke