Sergei Rachmaninov: Préludes op. 32/10 & 32/12,
Etude op. 39/5 · Préludes op. 23/2 & 23/10
Alexander Skriabin: Fantasy op.28 · Prélude for the Left
Hand op. 9/1 · Nocturne for the Left Hand op. 9/2
Nikolai Medtner: Two Fairy Tales op. 20
Piotr Ilyich Tchaikovsky: “October” & “January”
from “The Seasons” op. 37b
Sergei Prokofiev: Sonata No. 7 op. 83
Benjamin Moser, piano
Eine Anthologie russischer Klaviermusik hat Benjamin
Moser für sein CD-Debüt ausgewählt. Damit stellt
er ein Kapitel des Klavierrepertoires vor, das ihm
besonders am Herzen liegt und in besonderer Weise
von Kind an begleitet. Die Auswahl mit Werken von
Medtner, Prokofjew, Rachmaninov, Skriabin und
Tschaikowski bietet mehrheitlich seltener zu hörende
Stücke, jedoch auch einige populärere Kompositionen
wie vier Rachmaninov-Préludes und Prokofjews große
Sonate Nr. 7.
Benjamin Moser wurde 1981 in München geboren,
begann seine Klavierstudien bei Michael Schäfer an
der Hochschule für Musik München und studiert
derzeit in der Meisterklasse von Klaus Hellwig an
der Universität der Künste Berlin. 2007 wurde er
Preisträger des Moskauer Tschaikowski-Wettbewerbs
sowie Gewinner des Wettbewerbs Young Concert
Artists in News York.
Russische klaviermusik
Benjamin Moser über die Auswahl der
Stücke seiner Einspielung und sein gestalterisches
wie emotionales Ansinnen:
Ich beschäftige mich seit vielen Jahren intensiv
mit russischer Musik. Die Begeisterung
und Liebe, die ich für diese Musik hege, stammt
bereits aus meiner Kindheit.
Alle Komponisten dieser Einspielung sind in
vielerlei Hinsicht miteinander verwoben bzw.
stehen in mehr oder weniger direkter Beziehung
zueinander.
Der Reiz dieser Programmzusammenstellung
liegt für mich im Aufspüren der Gemeinsamkeiten
und Wechselbeziehungen, aber auch gerade
der charakteristischen Eigenheiten dieser Werke.
Als roter Faden wirkt die ungeheure emotionale
Bandbreite dieser Musik: Liebe, Leid,
Hoffnung, Verzweiflung, Sehnsucht, Freude,
Tragisches, Heroisches… Die Liste ließe sich
endlos fortsetzen.
All die Stücke dieser CD liegen mir gleichermaßen
am Herzen. Auch wenn Virtuosität
ein wichtiger Teilaspekt ist, versuche ich diese
prinzipiell in den Dienst der Musik zu stellen,
nie anders herum.
Sergei Rachmaninov (1873–1943):
„In meinen Kompositionen habe ich niemals
bewusst Anstrengungen unternommen, originell,
romantisch, nationalistisch oder irgendetwas
anderes zu sein. Ich schreibe einfach die
Musik nieder, die ich in mir selbst höre, und
zwar so natürlich wie möglich.“
O bigen Ausspruch tat Sergei Rachmaninov
als Reaktion auf diverse Vorwürfe, die
den russischen Komponisten unter anderem
als rückständig empfanden.
Im Grunde war es das Prélude cis-moll,
das seinen 19-jährigen Verfasser mit einem
Schlag berühmt gemacht und gleichzeitig viel
zum Missverstehen seiner Musik beigesteuert
hatte: zu monströs, Salonmusik, sentimental
sagte man ihm nach.
Etwa zehn Jahre später folgten in weniger
als zwei Wochen die Préludes op. 32, wobei
es Rachmaninov hier vor allem um das
Formen von Klangbildern ging: So könnte
das Prélude in gis-moll eine einsame Winterlandschaft
darstellen, über welcher ein sehnsuchtsvoller
Gesang nach ferner Heimat zu
schweben scheint.

Das Prélude in h-moll gilt als Rachmaninovs
Lieblingsprélude, das der Komponist
selbst mit einem Wort zusammenzufassen
verstand: Rückkehr.
Nach Eintauchen in einen brodelnden
Hexenkessel aus Emotionen und leidenschaftlicher
Tragik strebt die Etude es-moll op.
39 Nr. 5 erst ganz zum Schluss der Erlösung
entgegen.
Ein Liebesbekenntnis, das keiner Worte
bedarf, spricht aus den Klängen des Prélude
Ges-Dur op. 23 Nr. 10, das sich so ganz anders
präsentiert als das op. 23/2, welches den
Rachmaninov-Teil dieser Einspielung triumphal
und majestätisch beschließt.
Alexander Skrjabin (1872–1915):
Nach erfolgreichem, aber nicht blendendem
Abschluss seines Studiums am Moskauer
Konservatorium sah Alexander Skrjabin sich
dem Konkurrenzdruck als Pianist nur gewachsen,
indem er sich einem selbst auferlegten,
überaus rigorosen Training verpflichtete,
das bereits nach kurzer Zeit seinen körperlichen
und in Folge dessen später auch psychischen
Tribut zollte. So sah sich der Pianist
und Komponist 1893 mit einer Sehnenscheidung
der rechten Hand konfrontiert, die
ihn – ganz entgegen der ärztlichen Diagnose,
nach der zu urteilen Skrjabin nie wieder gesunden
würde – in beinahe trotziger Haltung
zur Komposition zweier Werke ausschließlich
für die linke Hand veranlasste.
Nicht wissen konnte der junge Verfasser
von Op. 9 zu diesem Zeitpunkt, dass ihm
eben diese aus verzweifelter Not entstandenen
Kompositionen, die den Gedanken
an die Überwindung der Krise musikalisch
verarbeiten und daher trotz melancholischer
Anflüge eher Hoffnung ausstrahlen, als Komponist
Geltung verschaffen und zwölf Jahre
später den Durchbruch in Amerika erbringen
würden. Seine etwa sieben Jahre später komponierte
Fantasie in h-moll op. 28 gilt in ihrer
orchestralen Vollgriffigkeit als eines der pianistisch
anspruchsvollsten Werke Skrjabins.
Das der Mittellage entspringende Hauptthema
wird oktavisch in Gegenbewegung
schier auseinandergerissen und erreicht bereits
nach vier Takten die Extremlagen des
Instruments.
Das Seitenthema nutzt ebenfalls den gesamten
Klangraum, um aus ihm einen mehrstöckigen
„Orgelsatz“ zu formen.
Die „Sonate ohne Durchführung“, wie
sie später von Fachleuten bezeichnet wurde,
erfuhr erst sechs Jahre nach Notendruck ihre
Uraufführung.
Nikolai Medtner (1880–1951):
„Meines Erachtens sind Sie der größte Komponist
unserer Zeit,“ äußerte sich Sergei Rachmaninov
in direktem Gespräch über seinen
Kollegen, den deutschstämmigen Klaviervirtuosen
und Komponisten Nikolai Medtner.
Rachmaninov auch war es, der sich sehr für
seinen Freund einsetzte und u.a. eine Amerikatournee
organisierte, die jedoch, trotz
seiner Beliebtheit im eigenen Lande, wenig
ruhmreich verlief. Erst später, im englischen
Exil, begannen Medtners Werke auch internationale
Beachtung zu finden.
„…als ob (sie) jemanden mit glühender
Eindringlichkeit bitte…“ lautete Nikolai
Medtners Anweisung an eine Schülerin, wie
sein op. 20 Nr. 1 zu spielen sei, diese Miniatur,
knapp drei Minuten lang und doch einem
Erguss gleich, der allen Kummer der Welt auf
einer Nadelspitze unterzubringen versucht.
Das Gegenstück op. 20 Nr. 2 hingegen
macht eher den Eindruck einer Explosion:
Ohne jedes Rubato solle diese verhängnisvolle
Episode gespielt werden, so Medtner über
Campanella. Dies hier sei weniger die Geschichte
einer Glocke, sondern sei von einer
Glocke erzählt, in deren Geläute „Unheil und
Terror zu hören sind.“ Trotz pulsierender, beinahe
schlagender Rhythmen und unerbittlicher
Härte hat dieses Stück dennoch wenig
gemein mit damals gängigem Virtuosentum,
dem sich der musikalische Einzelgänger
Medtner zeitlebens schon allein deshalb beinahe
trotzig zu entziehen versuchte, um seiner
Verachtung gegenüber zeitgenössischen
Komponisten wie etwa Strawinsky und Prokofiev
Ausdruck zu verleihen.
Die spätere Bezeichnung Fairy Tales, ursprünglich
„Märchen“, verfehlt die Herkunft
der poetischen Anregungen, die Medtner aus
Werken von Puschkin, Shakespeare und russischen
Dichtern bezog.
Ein Zeitgenosse des Komponisten deklarierte
die Sammlung treffend als „Erzählungen
über persönliche Erfahrungen, über die
inneren Konflikte im Leben eines Menschen.“
P. I. Tschaikowsky (1840–1893):
Die Anregung zu Tschaikowskys Klavierzyklus
Die Jahreszeiten ging von Nikolaj Bernard,
Herausgeber der Zeitung „Der Novellist“
aus. Er beauftragte den Komponisten, für
jeden Monat des Jahres 1876 eine kurze musikalische
Episode zu schaffen, die den Leser
dazu bewegen sollte, kein Exemplar seines
Blattes zu versäumen.
Dabei ging jeder Pièce eine Strophe
voraus, die dem Text eines berühmten russischen
Dichters entnommen war und die
dem Hörer quasi als Anker dienen mochte,
von dem aus er seine Fantasie frei schweifen
lassen konnte. Wesentlicher als jedes einleitende
Wort erscheinen jedoch die unterschiedlichen
Stimmungen, die nicht nur auf
den steten Wandel der Natur, sondern ebenso
auf den Menschen selbst und gleichnishaft
seinen Lebensweg verweisen.
„Januar: Am Kamin“ gehört dabei zu den
winterlichen Träumereien und damit zum
„kleinen Gefühlsradius“, dem schon einen
Monat später die Turbulenzen des Karnevals
kontrastierend gegenüberstehen.
Ebenfalls elegisch, jedoch müde abwärts
strebend und weitaus schmerzlicher, gestaltet
Tschaikowsky den „Oktober: Herbstlied“: Die
Basslinie vermag sich kaum mehr von der
Tonika zu erheben, auch wenn die Melodie
sich harmonisch im Dominantraum bewegt.
Sie liegt wie gelähmt und scheint die anfangs
noch aufwärts drängende Hauptlinie stetig
nach unten zu ziehen, bis die Melodie in der
Mittellage hängen bleibt. Hier jedoch – und
damit ist Tschaikowsky ein meisterlicher
Kunstgriff gelungen – erfährt sie die Unterstützung
einer Gegenstimme, die, phasenverschoben
um ein Achtel, durch ihr rhythmisches
Eigenleben zu rettender Belebung
beiträgt.
Sergei Prokofiev (1891–1953):
„Das ist keine Kunst, das ist das Leben selbst,“
entgegnete der Dichter Wladimir Majakowski
all denen, die vollkommen überfordert ob der
nahezu rauschhaften Wirkung der Musik des
jungen Prokofiev den Komponisten als einen
„Wahnsinnigen“ titulierten und seine Musik
als „futuristische Katzenmusik“ abtaten.
Kein Revoluzzer war er, sondern ein Neugieriger,
der zwischen den Stilen tanzte und
damit eine frühe harmonische Avantgarde
einläutete.
Dies und das Interesse an Oppositionen
zeigt sich anschaulich in seiner während eines
Zeitraumes von drei Jahren entstandenen
Sonate Nr. 7. Die Komposition steht in direktem
Zusammenhang mit den Ereignissen
der Zeit: Schauplatz des ersten Satzes ist der
Zweite Weltkrieg, in dessen Tosen marschierende
Soldaten vorbeiziehen, Gewehrfeuer
und Bombenhagel widerhallen, Zorn und
Angst verbreitend, die das Seitenthema
mit wehmütiger Reminiszenz abzufangen
versucht. Das folgende Andante caloroso erscheint
wie eine vage Erinnerung an friedvollere
Tage, einem Märchen gleich, warm,
schlicht und melancholisch, einer kurzen
Phase der Ruhe, ehe bereits im Mittelteil die
Realität wieder aufflackert. Glocken läuten
über dem Leid der Menschen, obige Vision
lebt noch ein letztes Mal auf, bevor sie im
Nichts versinkt.
Im Schlusssatz dann rollende Panzer,
gnadenlos und unbarmherzig, alles vernichtend,
was sich ihnen in den Weg stellt – die
vollkommene Zerstörung der Welt.
Kathrin Feldmann