Mozarteum Orchester Salzburg
Ivor Bolton, Dirigent
Ivor Bolton als Bruckner-Dirigent war noch vor
wenigen Jahren ein eher ungewohntes Bild, doch
nach nunmehr drei Bruckner-Einspielungen mit dem
Mozarteum-Orchester hat er nachhaltig gezeigt, dass
er Bruckners Musik eine eigene Farbe und eine ganz
spezielle Aussage verleiht. Nun erscheint die vierte
Folge im Salzburger Bruckner-Zyklus, wir hören die
Sinfonie Nr. 3 in der von Leopold Nowak vorgelegten
Fassung von 1889.
Hinter der Wagner-
Fassade
Schlaglichter in der Rezeption von Anton
Bruckners 3. Sinfonie
Deutschland im Jahre 1937. Fanfaren
dröhnen durch das Radio, erhaben
umrahmen sie den „Tag der Deutschen
Kunst“. Was im Sinne der Nationalsozialisten
„deutsch“ tönt, wird beweihräuchert;
alles „Nichtarische“, „Bolschewistische“ oder
Experimentelle wird hingegen als „entartet“
diffamiert. Die Fanfaren zum Tag der Deutschen
Kunst symbolisieren das im Sinne der
Nazis „Urdeutsche“ schlechthin, deswegen
wurden sie ausgewählt: Es handelt sich um
Dur-Versionen des Hauptthemas aus der 3.
Sinfonie von Anton Bruckner.
Das Orchester des Reichssenders München
nahm die Fanfaren am 30. Juni 1937
unter Karl List auf, Albrecht Dümling hat
sie für sein wertvolles Tonarchiv Entartete
Musik auf CD dokumentiert. Mit diesem
Missbrauch durch die Nazis war der bislang
absolute Tiefpunkt in der Rezeptionsgeschichte
von Bruckners 3. Sinfonie erreicht –
eine Rezeptionsgeschichte, die so verworren
ist wie die Frage nach den unterschiedlichen
Fassungen des Werks.
Rückblick auf das Jahr 1872, Bruckner
beginnt mit der Arbeit an der Dritten. In
dieser Originalfassung steht alles im Zeichen
des von Bruckner verehrten Richard Wagner.
1934 weist Robert Haas in seinem Bruckner-
Buch insbesondere auf Zitate aus Wagners
Tristan und Isolde, Walküre und Meistersinger
von Nürnberg hin. Bruckner selbst widmete
die 3. Sinfonie Wagner, nachdem er diesen
nach Vollendung des Werks 1873 in Bayreuth
besucht hatte; Bruckner wollte Wagner entweder
die 2. oder 3. Sinfonie zueignen, der
„Meister aller Meister“ (so Bruckner über
Wagner) entschied sich für die Dritte.
Laut Wagners Freund G. A Kietz soll sich
in Bayreuth Folgendes zugetragen haben: „Der
gute Bruckner trank und trank, trotz Jammer
und Gegenwehr, die seine musikalischen Gespräche
immer von neuem in komischer Weise
unterbrachen.“ Am nächsten Morgen kam
Bruckner beim Frühstück im Hotel auf Kietz
zu: „Ach, Herr Hofrat“, so Bruckner. „Welches
Glück, dass ich Sie sehe – ich bin der unglücklichste
Mensch! Sie haben doch gestern gehört,
dass ich dem Meister mehrere Sinfonien zur Auswahl
für eine Widmung geschickt habe, und nun
bin ich in der fürchterlichen Lage, dass ich mich
nicht besinnen kann, welche davon der Meister
gewählt hat. O das Bier, das schreckliche Bier!“
Kietz erwiderte, es sei von einer Trompete
gesprochen worden – nämlich die besagte
Fanfare, das Hauptthema der Dritten. Damit
war das Wagner-Schicksal der 3. Sinfonie
besiegelt, doch da gibt es ein Problem: Die
Wagner-Zitate gelten nur für die Originalfassung,
für die zweite (1876/77) und dritte
(1888/89) Version – letztere hören wir auf der
vorliegenden CD – hat sie Bruckner nahezu
vollständig gestrichen. Bei der Uraufführung
der Dritten am 12. Dezember 1877 erklang
die zweite Fassung, die erste wurde zu Bruckners
Lebzeiten nicht aufgeführt.
So wird deutlich: Die Wagner-Betonung in
Bruckners 3. Sinfonie wird von Bruckner selbst
mindestens relativiert. Dass sich die Nationalsozialisten
für die „Urfassungen“ der Bruckner-
Sinfonien stark machten, könnte auch hiermit
zusammenhängen; denn Bruckners „Wagner-
Sinfonik“ war ein zentrales Leitmotiv der
Bruckner-Rezeption unterm Hakenkreuz, das
unbedingt gewahrt werden musste. Und womöglich
lag es auch an dem Engagement der
Nazis für die „Urfassung“ der Dritten, dass diese
erst 1982 von Eliahu Inbal eingespielt wurde.
Wie auch immer – die Wagner-Betonung
lenkt von anderen zentralen Rezeptionslinien
ab, die auch zu Bruckners Lebzeiten kaum
beachtet wurden. Ein zentrales Moment findet
sich insbesondere im Finale: Hier überschneiden
sich zwei semantisch konträre
Themengruppen, nämlich einerseits ein Bläser-
Choral und andererseits eine Polka in den
Streichern. „So ist das Leben“, kommentierte
Bruckner. „Die Polka bedeutet den Humor
und den Frohsinn in der Welt – der Choral das
Traurige, Schmerzliche in ihr.“ Dieses Zitat ist
bezeichnend.
Denn damit verweist Bruckner selbst auf
eine mehr oder weniger subtile Tragikomik,
wie sie die Romantik von Franz Schubert
oder Robert Schumann über Hector Berlioz
bis hin zu Gustav Mahler prägt – und die
Wagner in dieser Form fremd ist. Im langsamen
Satz seiner 4. Sinfonie wird Bruckner
noch einen Schritt weitergehen: Hier
wandelt sich ein Trauermarsch zu einem
beschwingten Treiben. An diese Tendenzen
knüpft Mahler im langsamen Satz seiner 1.
Sinfonie von 1884/88 an und übersteigert sie
um ein Vielfaches; hier verbindet sich ein
Trauermarsch in Gestalt des Bruder-Jakob-
Kanons in Moll-Version mit jüdisch-slawischen
Folklore-Anklängen.
Es wird also deutlich, dass die Wagner-Nähe
nur eine Seite von Bruckners Musik darstellt.
Welchen zentralen Einfluss Bruckners
Sinfonik auf die Musik des 20. und 21.

Jahrhunderts hat, wurde bislang nicht umfassend
und systematisch erörtert. Dabei spielt auch
hier die 3. Sinfonie, mit der sich Bruckners
originärer Tonkosmos erstmals vollständig
ausdrückte, eine bedeutsame Rolle. Schon
in den ersten Takten erwächst unter charakteristischem
Bruckner-Rhythmus (aufeinander
folgende Duole und Triole) eine eigene
Klangfärbung.
Zudem verstören die zahlreichen Generalpausen
und Zäsuren, die der Weiterentwicklung
etwas Statisches verleihen. Dies
wird Dmitri Schostakowitsch im ersten Satz
seiner 6. Sinfonie von 1939 aufgreifen und
zu einem angsterstarrten Szenario wandeln,
das als düsterer Kommentar auf Stalins Großen
Terror 1936/38 gedeutet werden kann:
Prompt fiel Schostakowitschs Sechste bei den
Stalinisten durch. Zeitgleich knüpft in Nazideutschland
der innere Emigrant und Nazi-
Kritiker Karl Amadeus Hartmann auch an
Bruckner an – und konterkariert damit das
offizielle Bruckner-Bild, wie es 1937 in Gestalt
der Fanfaren aus der Dritten durch das
Radio dröhnte.
Marco Frei