L’Enfance du Christ – Trilogie sacrée op. 25
Ed Lyon, Tenor · David Wilson-Johnson, bass
Mireille Delunsch, Sopran · Masahi Tsuji, tenor
William Dazeley, bass
Salzburger Bachchor
Mozarteum Orchester Salzburg
Ivor Bolton, conductor
Das Oratorium, das Szenen aus der Kindheit von Jesus
Christus zum Gegenstand hat, war nicht in einem
Zug entstanden. Eine Kette von Assoziationen und
erfolgreiche Aufführungen von bereits fertiggestellten
Teilen des Werks leiteten Berlioz bis zum kompletten
dreiteiligen Oratorium. Seitdem bereichert L’Enfance
du Christ das musikalische Programm zur Weihnachtszeit
um ein großes Werk des 19. Jahrhunderts. Berlioz
zeigt sich hier von einer selten zu betrachtenden Seite
seiner Komponistenpersönlichkeit – in ungewöhnlicher
Sanftheit und einer dem Gegenstand entsprechenden
schlichten, fast naiven musikalischen Faktur
nähert er sich seinem Gegenstand.
Ein Weihnachtsoratorium
der besonderen Art
1. Zwischen Heilsgeschichte und freier Erzählung:
Jesus Christus als Kunstfigur der
geistlichen Musik
Am Anfang war die Passion. So lässt sich
der Eintritt des Gottessohnes in die
abendländische Tonkunst kurz und bündig
resümieren. Die Leidensgeschichte Jesu hatte
von jeher einen besonderen Rang unter den
Evangelientexten. Die Tradition, die Erzählungen
der Passion auf mehrere Stimmen zu
verteilen, geht bereits auf das 13. Jahrhundert
zurück. Die Rolle des Evangelisten fiel dabei
dem Diakon zu; die Christusworte wurden
von einem anderen Geistlichen in tieferer
Lage vorgetragen, während ein weiterer Kleriker
den Randfiguren seine Stimme lieh. Später
trat ein Chor hinzu, der die Kollektive – Hohepriester,
Soldaten, Volksmenge – darstellte.
Einen frühen Höhepunkt erreichte diese
Kunstform mit den Historien von Heinrich
Schütz im 17. Jahrhundert. Gipfelwerke der
Gattung sind die Johannes-Passion (1723) und
ihr Gegenstück nach Matthäus (1729) des
Johann Sebastian Bach. Der lange Schatten
dieser herausragenden Kompositionen
hemmte im 19. Jahrhundert eher die kreative
Beschäftigung mit dem Sujet.
Immerhin haben sich in neuerer Zeit
Komponisten wie Hugo Distler (Choralpassion,
1932), Ernst Pepping (Passionsbericht nach
Matthäus, 1950) und Krzysztof Penderecki
(Lukas-Passion, 1966) auf verschiedene Weise
und aus subjektiver Sicht wieder mit Erfolg
dem Genre zugewandt. Eine besondere Spezies
des Leidensthemas hat Joseph Haydn
mit seiner Komposition Die sieben Worte
unseres Erlösers am Kreuz in verschiedenen
Fassungen bzw. Bearbeitungen vorgelegt.
Ein anderer Aspekt des Erdenlebens Jesu,
die Seligpreisungen der Bergpredigt, inspirierte
César Franck zu seinem Oratorium Les Béatitudes.
Der Komponist hielt dieses Werk, auf
das er zehn Jahre seiner Schaffenszeit verwendet
hat, für seine wichtigste Arbeit. Es fehlt
auch nicht an Stücken, die das gesamte Leben
und Wirken des Erlösers zum Gegenstand haben.
Sie enden meist entweder mit Tod und
Auferstehung oder mit einer Reflexion und
dem abschließenden feierlichen Glaubensbekenntnis.
Den letzteren Typus verkörpert Der
Messias von Georg Friedrich Händel (1741),
das erstgenannte Muster wird beispielhaft von
Franz Liszts Christus (1867) repräsentiert.
Sind die Karwoche und Ostern die herausragenden
Ereignisse im liturgischen Kalender
der Amtskirche, so bedeutet Weihnachten
mit der Geburt Christi für die Gläubigen
das Fest der Herzen und stiftet eine enge Beziehung
zwischen biblischer Geschichte und
persönlichem Erleben. Das Gotteskind wird
gleichsam in die familiäre Feier einbezogen.
So hat die Weihnachtshistorie über die
Jahrhunderte auch für Komponisten als
künstlerische Herausforderung gegolten.
J.S. Bachs so genanntes Weihnachtsoratorium
(1734) ist in Wahrheit ein Gefüge aus sechs
Kantaten für die Feiertage zwischen dem
Heiligen Abend und dem Dreikönigsfest.
Anders steht es mit der kaum noch bekannten
Komposition Die Kindheit Jesu des Bach-
Sohnes Johann Christoph Friedrich auf eine
Dichtung Johann Gottfried Herders.
Vielleicht haben Werk und Titel Hector
Berlioz beeinflusst, als er zwischen 1850 und
1854 seine geistliche Trilogie L’Enfance du
Christ in Wort und Musik gesetzt hat.
2. Stationen eines schöpferischen Vorgangs
Die Mémoires von Hector Berlioz, 1865 in
Druck gegeben, aber erst 1870 postum im
Gesamtumfang erschienen, sind weit mehr
als wohlfeile anekdotische Lebenserinnerungen.
Das gedankenreiche, stilistisch bemerkenswerte
Buch nimmt auch innerhalb der
französischen Prosa einen Ehrenplatz ein. An
Originalität und Wirkungskraft steht es den
Kompositionen des Künstlers würdig zur Seite.
Auch zur Genese der Kindheit Christi liefert
der Text wertvollen Aufschluss. Als erstes
Stück schrieb Berlioz den kleinen Chor Der
Abschied des Hirten, über dessen fast zufällige
Entstehung während einer geselligen Einladung
der Komponist vermerkt: „Ich langweilte
mich augenscheinlich, als Duc (Anm.: der
Gastgeber, ein Architekt) sich zu mir wandte
und sagte: ‚Da du doch nichts tust, solltest du
für mein Album ein Musikstück schreiben.’ –
‚Gerne.‘ – Ich nehme einen Fetzen Papier, ziehe
darauf einige Notenlinien, auf denen bald ein
vierstimmiges Andantino für Orgel entsteht. Ich
glaube in dem Stück einen gewissen Ausdruck
von ländlicher, naiver Mystik zu finden, und es
kommt mir sogleich der Gedanke, einen Text im
selben Stil darunter zu setzen. Das Orgelstück
verschwindet und wird zum Chor der Hirten
von Bethlehem, die dem Jesuskind einen Abschiedsgruß
singen, als die heilige Familie nach
Ägypten aufbricht.“ Mit Staunen und Ergötzen
unterbrechen die anderen Gäste ihr
Kartenspiel und lauschen dem „Mittelalterlichen
meiner Verse und meiner Musik“.
Nun setzt ein kurioser Werdegang ein.
Berlioz führt den Chor als angebliche Komposition
eines erfunden Komponisten Pierre
Lucré aus dem 18. Jahrhundert auf. Die Kritik
lobt das liebliche Klangbild dieses „Ghostwriters“
gegenüber dem bizarren Manierismus
seines Entdeckers Berlioz, der an dieser
Mystifikation zunehmend Gefallen findet.
Er fügt eine weitere Vokalnummer (Die Ruhe
der heiligen Familie) sowie eine Ouvertüre
hinzu und führt die drei Stücke unter dem
Titel Die Flucht nach Ägypten – und jetzt erst
als sein eigenes Werk – erfolgreich auf.
Aus dem „Resultat einer kleinen Farce, die
ich unseren guten Gendarmen der französischen
Musikkritik gespielt habe“, war Berlioz allmählich
ein kreatives Anliegen erwachsen. So
schrieb er zu dem kleinen geistlichen Werk
zunächst eine Fortsetzung des Geschehens
(Die Ankunft in Saïs) und ließ das Werk endlich
mit dem umfangreichen musikalischen
Vorspann Der Traum des Herodes einsetzen.
In Paris im Dezember 1854 als vollständige
Komposition uraufgeführt, eroberte das
Oratorium nicht zuletzt unter einer falschen
Annahme das Publikum und die Kritik. Man
meinte – oder hoffte – wohl, Berlioz hätte als
Musiker nunmehr zu einer wohltuend gefälligen
Tonsprache gefunden. Der Komponist
widerspricht dieser Annahme in seiner Autobiographie
heftig: „Nichts ist weniger begründet
als diese Ansicht. Das Sujet hat naturgemäß
eine einfache und sanfte und eben dadurch ihrem
Geschmack und ihrer Intelligenz besser entsprechende
Musik hervorgebracht. … Ich hätte
L’Enfance vor zwanzig Jahren ganz genauso
geschrieben.“
Derselben Quelle (zitiert nach W. Dömling,
„Berlioz“, 1977) dürfen wir auch entnehmen,
dass der Musiker seinen Stil dem
jeweiligen Wesen der Figuren sowie der gegebenen
Situation angepasst hat: „Herodes’ Arie
der Schlaflosigkeit in g-Moll“ mit „düsteren
Harmonien und Kadenzen von eigentümlichem
Charakter“. Die Ouvertüre wiederum
schreibt er „in unschuldigem Stil, in fis-Moll
ohne Leitton“, was eine „melancholische, etwas
einfältige Stimmung alter volkstümlicher Klagelieder“
hervorruft.
Erst einer späteren Epoche der Rezeption
war es vorbehalten, hinter der scheinbar
glatten Fassade die subtilen Absichten des
Schöpfers zu erkennen. Desgleichen dauerte
es lange Zeit, ehe die Qualitäten der davor
komponierten (und einhellig abgelehnten)
„konzertanten Oper“ bzw. „dramatischen
Legende“ La Damnation de Faust wahrgenommen
und gewürdigt worden sind.
3. Struktur und Gehalt
Zu Beginn des ersten Teiles führt ein Erzähler
in die Zeit und das Milieu der Handlung ein.
Darauf erklingt ein „nächtlicher Marsch“,
und der Dialog zweier Römer verweist auf
den verstörten Zustand von Herodes, ehe
dieser selbst seine diffusen Ängste preisgibt
und ein zerrissenes Inneres offenbart. Der
Chor der Wahrsager verdichtet und konkretisiert
die Panik des Herrschers: Ein neugeborenes
Kind, dessen Namen keiner kennt,
wird Herodes entmachten und beerben. Die
Geisterbeschwörer raten daher zur berüchtigten
Tötungsaktion. Die Szene wechselt zum
Stall in Bethlehem. Maria und Joseph preisen
im Duett ihren kleinen Sohn. Ein Chor
unsichtbarer Engel warnt die Eltern vor der
drohenden Gefahr und rät zur sofortigen
Flucht nach Ägypten.
Im zweiten Abschnitt stimmt eine pastorale
Ouvertüre auf das folgende Abschiedslied
der Hirten ein. Dann berichtet der Erzähler
von der Reise der heiligen Familie, ehe
ein Jubelchor von Engeln diesen ‚Mittelakt’
ausklingen lässt.
Detailreich und spannungsvoll verläuft
der abschließende dritte Teil Die Ankunft
in Saïs. Erschöpft und von der Bevölkerung
angepöbelt, finden die Flüchtigen erst in einem
ismaelischen Haushalt freundliche Aufnahme.
Ein Trio für zwei Flöten und Harfe
soll die Gäste aufheitern. Ihre Sorge und
Müdigkeit schwinden in der wohltuenden
Geborgenheit des neuen Domizils und seiner
liebenswürdigen Bewohner. Ein Chor fordert
die heilige Familie zur Ruhe auf und vermittelt
neue Hoffnung. Der Epilog, den wieder
der Erzähler einleitet, beschließt das Werk
mit meditativen Passagen: „Mein Herz, sei
du erfüllt von reiner, tiefer Liebe, die allein
uns das himmlische Königreich öffnen kann.
Amen“.
Die Beschäftigung mit dieser geistlichen
Trilogie erweitert, bereichert und vertieft unser
Bild vom Musiker Berlioz, der eben mehr
war als ein künstlerischer Bürgerschreck, auf
den ihn seine französischen Zeitgenossen
festlegen und reduzieren wollten.
Oswald Panagl