ielen gilt Ivor Bolton als einer der besten Barock-
Interpreten. Das Bild muss korrigiert werden, denn
der Engländer ist zugleich ein aufregender Deuter
der Sinfonien von Anton Bruckner. Dies belegt sein
Bruckner-Zyklus mit dem Mozarteum Orchester
Salzburg, der derzeit bei OehmsClassics entsteht.
Schon mit der ersten Aufnahme, Bruckners 5. Sinfonie,
landete Ivor Bolton einen Überraschungscoup: Die
internationale Presse fand durchweg lobende Worte,
nicht anders die 7. Sinfonie. Nun liegt Bruckners
9. Sinfonie vor, ein gewaltiges sinfonisches Fragment.
Sein ganzes künstlerisches Leben lang hatte Bruckner
mit der sinfonischen Form gerungen: Am Ende mag
er gespürt haben, dass er mit seiner Neunten dabei
war, alle Konventionen zu sprengen – das Finale
blieb unvollendet. Bruckner verfügte, dass stattdessen
auch sein Te Deum angefügt werden könne, denn die
Sinfonie sei „dem lieben Gott gewidmet“. Ivor Bolton
entschied sich für die dreisätzige Fragmentversion, in der kritischen Revision, die Benjamin Gunnar Cohrs
unter Berücksichtigung von Vorarbeiten von Alfred
Orel und Leopold Nowak vorgenommen hat.
Der liebe Gott
ist selber schuld
Der Prophet gilt nichts – oder wenigstens
wenig – im eigenen Land; zumal in Wien,
sei es nun Mozart, Schubert, oder Bruckner, der
lange Zeit als Dorftrottel, der „symphonische
Riesenschlangen“ fabrizierte (Zitat Johannes
Brahms), gehandelt wurde. Doch spätestens
1884/85, mit den überwältigenden Erfolgen der
Siebten Symphonie bei der Uraufführung unter
Arthur Nikisch in Leipzig und noch mehr unter
Hermann Levi in München, konnte man
dann doch auch als Wiener – bei aller kuriosen
Geziertheit peinlichen Berührtseins – stolz auf
den Österreicher Anton Bruckner sein. „Jetzt ist
er eben doch einer von uns!“ Da kam der große
Bruder Deutschland und reklamierte Bruckner
als bodenständiges deutsches Blut für sich.
Berühmt geworden ist das Bild eines einsamen
deutschen „Helden und Führers“ österreichischer
Abstammung – Adolf Hitler – vor einer
Büste Anton Bruckners, des aus mythischer
Allgewalt schöpfenden germanischen Urgenies.
Also dekorierte sich der verhängnisvolle „klinische
Fall von Nekrophilie“ (Erich Fromm) mit
dem bodenständig himmelstrebenden Symbol
kreativer religio.
Zu Lebzeiten und noch lange Zeit danach
spielte man fast alle Werke Bruckners in bearbeiteten,
teilweise extrem verfälschten und
verstümmelten Fassungen. Etwas unglücklich
in den Zusammenhängen der Geschichte angesiedelt,
fiel die Entdeckung und Herausgabe
der überfällig benötigten Originalfassungen
der Brucknerschen Werke ab 1933 in Wien
durch Robert Haas, einen der verdienstvollsten
Musikwissenschaftler des 20. Jahrhunderts,
zusammen mit dem Aufstieg Adolf Hitlers
und der Expansion des „Dritten Reichs“.
Mit dem „Anschluss“ Österreichs 1938 wurde
der Sitz der Bruckner-Gesamtausgabe denn
auch sogleich von Wien nach Leipzig verlegt.
Dies ändert überhaupt nichts an der künstlerischen
Notwendigkeit, die entstellenden Bearbeitungen
und Kürzungen der Brucknerschen
Symphonien aus dem Verkehr zu ziehen und
durch die jeweilige Originalgestalt zu ersetzen,
und hier liegt die immense Lebensleistung
von Robert Haas.
Am 2. April 1932 läutete Siegmund von
Hausegger in München mit der erstmaligen
Aufführung der Originalfassung von Bruckners
Neunter Symphonie das neue Zeitalter
authentischer Bruckner-Aufführungen ein
– einen unumkehrbaren Prozess. Endlich
konnten sich die Musiker, die Fachleute und
das ganze Publikum ein realistisches Bild
verschaffen von Bruckners wahrer Größe.
Endlich wurde es möglich, die tatsächliche
Dimension seines Schaffens im vollen Umfang
zu erfahren. Seither hat eine bemerkenswerte
Bruckner-Tradition begonnen, die in
Deutschland mit Namen wie beispielsweise
Hausegger, Wilhelm Furtwängler, Carl
Schuricht, Joseph Keilberth, Eugen Jochum,
Herbert von Karajan, Günter Wand, Rafael
Kubelik und vor allem Sergiu Celibidache assoziiert
ist. Natürlich gab es auch andere, wie
etwa Hans Knappertsbusch, die am Alten
festhielten und weiterhin die Bearbeitungen
aufführten. Politisch nachvollziehbar, aber in
der musikalischen Sache inakzeptabel ist der
aus New Yorker Kreisen um den Dirigenten
Leon Botstein unternommene Versuch, heute
wieder die zu Bruckners Zeit gespielten,
entstellenden Fassungen von Josef Schalk
und seinesgleichen als gleichberechtigt neben
den Originalfassungen zu vertreten.
Die ersten Länder übrigens außer
Deutschland, in welchen Bruckners Musik
großen Erfolg hatte, waren die Niederlande
und – nach und nach mit wachsender Resonanz
– England. Später trat seine Musik ihren
Siegeszug durch die Vereinigten Staaten
von Amerika an, um auch die skandinavische
und russische Welt zu erobern und schließlich
zum Kultgegenstand japanischer Klassikbewunderung
zu werden.
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurden
die großen Namen der authentischen
Bruckner-Bewegung Siegmund von Hausegger
und Robert Haas vom untergegangenen
„Dritten Reich“ wie von einem schwarzen
Loch mitverschluckt. Nunmehr wieder in
Wien, beschäftigte man für die von Neuem
startende Bruckner-Gesamtausgabe einen
neuen Herausgeber, Leopold Nowak, der
nunmehr alles Redliche und Unredliche
unternahm, um seine Existenzberechtigung
neben dem Pionier Robert Haas hervorzukehren.
Dadurch sind Ausgaben entstanden,
die zu einem großen Teil in Zweifelsfällen
die ungünstigere und untypischere Lösung
vorzogen – einfach nur, um anders zu sein.
Folglich hat man nach Nowaks Abdanken
auf den Druck führender Autoritäten hin
widerstrebend begonnen, eine dritte Auflage
der Gesamtausgabe anzugehen, nunmehr
– mehr als ein halbes Jahrhundert nach den
epochemachenden Haas-Ausgaben – auf der
Grundlage neuer Funde und vielfältiger
Forschungsergebnisse. Diese dritte Auflage liegt
nun auch vorliegender Neuaufnahme unter
Ivor Bolton zugrunde.
Nach heutiger Übersicht schrieb Bruckner
nicht einfach nur neun Symphonien wie
vor ihm Beethoven und nach ihm Dvorák,
Mahler und Vaughan Williams. Er schrieb 19
Fassungen, und der führende Bruckner-Forscher
und Musikpublizist Benjamin Gunnar
Cohrs hat diese in einer Zeittafel aufgestellt
und kommt auf 19 Versionen von elf Symphonien
(die beiden frühen Symphonien in
f-Moll und d-Moll erkannte Bruckner selbst
nicht mehr an). Diese Tabelle bringt Licht
in einen sehr verwundenen schöpferischen
Prozess. So entstanden 1887–89 zwischen der
1. und der 2. Fassung der Achten Symphonie
die 4. Fassung der Vierten Symphonie und
die 3. Fassung der Dritten Symphonie, und
1890–91 als Einschub in die Komposition der
Neunten Symphonie die 2. Fassung der Ersten
Symphonie. Kein Wunder, wenn Bruckner
mit der Neunten Symphonie nicht mehr zu
einem Ende kam!
Ein großer Mythos rankt sich um Bruckners
Neunte Symphonie, seine letzte, unvollendete,
die er „dem lieben Gott“ gewidmet
hat. Peter Raabe zitiert in seiner sehr urteilssicheren
Bruckner-Biographie von 1944
Bruckners Arzt Dr. Richard Heller:
„Ich glaube, einige Äußerungen Bruckners
dahin deuten zu müssen, dass er in seinen Ideen
gewissermaßen mit dem lieben Gott einen Kontrakt
abgeschlossen habe. Wenn der liebe Gott
will, dass er die Symphonie, die ja ein Preislied
Gottes werden sollte, fertigmache, so müsse er ihm
ebensolange das Leben schenken; stürbe er früher,
so hat sich das der liebe Gott selber zuzuschreiben,
wenn er ein unvollendetes Werk bekommt.
Die Religiosität war übrigens ein Hauptzug
dieses großen Genies. Er betete fleißig, und
wenn auch diese Gebete mitunter ganz merkwürdige
Formen annahmen, so waren sie doch
tief empfunden und gläubig vorgebracht. Da
man ihn bei seinem Gebet, das er knieend vor
seinem großen Kruzufix verrichtete, nicht stören
durfte, so hatte ich mehrmals Gelegenheit,
ruhig im Zimmer stehend sein Gebet zu hören.
Er betete eine Anzahl ,Vaterunser‘ und ,Gegrüßet
seist Du‘, und schloss aof mit einem ganz
freien Gebet, wie: ,Lieber Gott, lass mich bald
gesund werden, schau, ich brauche ja meine
Gesundheit, damit ich die Neunte fertig machen
kann‘, usw. Diesen letzten Passus brachte
er in ziemlich ungeduldiger Weise vor und
schloss mit einem dreimaligen Amen, wobei er
sich einigemal beim dritten Amen mit beiden
Händen auf die Schenkel schlug, so dass man
sich des Eindrucks nicht erwehren konnte, er
denke sich: ,Wenn das jetzt der liebe Gott nicht
erhört, dann ist das nicht meine Schuld!‘“
Ist die Neunte Symphonie wirklich unvollendet
geblieben? Heutige Wissenschaftler
gehen davon aus, dass sie zumindest in einer
ersten, rohen Orchesterpartitur vorlag und
wahrscheinlich sogar noch erhalten ist – in
Privatbesitz in Wien. Immer wieder sind verstreute
Seiten aus dem Finale aufgetaucht.
Die Ursache liegt darin, dass nach Bruckners
Tod der Nachlassverwalter ein laxes Regiment
führte und nicht darauf sah, dass die Materialien
in einem ordentlichen und zusammenhängenden
Zustand blieben. Mittlerweile
gibt es einen Kreis von Musikwissenschaftlern,
die Stück für Stück die Leerstellen zwischen
den aufgetauchten Seiten des Finales
aufgefüllt und Zug um Zug verbessert haben.
Es wird ihnen nicht gelingen, der Symphonie
ein wirklich adäquates Finale zu verpassen,
aber als Versuch der Rekonstruktion ist
das eine hochinteressante Stilübung, die viele
Kenner und Musiker mit großem Interesse
verfolgen.
Christoph Schlüren