George de La Hèle: Missa „Quare tristis es“
Wolfgang Rihm: Caligaverunt oculi mei · Recessit pastor
noster · Aestimatus sum · Arvo Pärt: Memento
Orlando di Lasso: Quare tristis es
Zahlreiche Komponisten der Gegenwart wurden von der
Vokalmusik des Mittelalters und der Renaissance nachhaltig
beeinflusst. Diesen vielfältigen Verbindungen
geht das preisgekrönte Vokalensemble Singer Pur auf
seiner fünften CD nach. Herausgekommen ist eine
faszinierende Spurensuche, die neue Klangwelten eröffnet
und neue Höreindrücke bietet. Wolfgang Rihms
Zyklus von sieben Passionsmotetten, der Gruppe
Singer Pur gewidmet, wurde bereits in Teilen auf
OC 354 aufgenommen, die Ersteinspielung der restlichen
drei Motetten vervollständigt nun den Zyklus.
Die drei in den Jahren 2005 und 2006 entstandenen
Rihm-Motetten sowie Arvo Pärts Memento treten in
einen schillernden Dialog mit Werken von Orlando di
Lasso und dem 1586 im Alter von 39 Jahren verstorbenen
flämischen Kirchenmusiker George de La Hèle.
Darüber hinaus werden Brücken zwischen Lasso und
de La Hèle geschlagen. Denn in seiner Missa „Quare
tristis es“ hat de La Hèle auf die gleichnamige Motette
von Lasso zurückgegriffen und sie neu interpretiert.
George de La Hèle:
Missa „Quare tristis es“
Das kurze, bewegte Leben des George de
La Hèle ist uns in seinen wesentlichen
Eckpunkten erstaunlich gut dokumentiert.
Im Jahre 1547 in Antwerpen geboren, hat
er dort seine erste musikalische Ausbildung
erhalten, wohl an der dortigen Kathedrale
Notre-Dame. Mit einer Gruppe von Chorknaben,
die vermutlich von einem spanischen
Gesandten in musikalischer Mission in
den „Niederen Landen“ angeworben wurden,
kam er 1560 nach Madrid an den Hof von
König Philipp II. (der als sehr kunstsinniger
Herrscher galt) und war in den folgenden
Jahren in der dortigen Hofkapelle als Sänger
beschäftigt. Dies markiert den Beginn einer
Karriere, wie sie damals für aufstrebende
Musiker aus dem franko-flämischen Raum
nicht untypisch war. Auch der junge Orlando
di Lasso wurde bekanntlich im zarten
Knabenalter von einem italienischen Talentsucher
in Mons entdeckt und wegen seiner
schönen Stimme nach Sizilien gebracht, wo
er in aristokratischen Kreisen aufwuchs und
als Sängerknabe diente. 1570 jedenfalls kehrte
de La Hèle in seine Heimat zurück, um
an der Universität in Louvain Theologie zu
studieren. Mit niederen Weihen versehen trat
er schließlich in den geistlichen Stand ein. In
den folgenden Jahren war er als Chorleiter
tätig, erst in Malines, ab 1574 dann an der
Kathedrale von Tournai. Offenbar hat man
ihn in Madrid in bester Erinnerung behalten,
denn 1580 wurde er von König Philipp
als Leiter der Hofkapelle zurück nach Spanien
berufen, eine Stellung, die der Komponist
aber erst mindestens eineinhalb Jahre später
tatsächlich antrat. Als Geistlicher war de
La Hèle auch in den Vorzug verschiedener
kirchlicher Pfründe gekommen. Diese verlor
er jedoch allesamt, als er sich etwa 1585 zu einer
Frau bekannte und diese sogar heiratete.
Das Glück des Paares währte allerdings nicht
lange. De La Hèle starb im August 1586 im
Alter von etwa neununddreißig Jahren.
Als bedeutendstes Werk des Komponisten
gilt der ebenso kunstvoll wie aufwendig
gestaltete Sammeldruck „Octo Missae“, der
1578 in Antwerpen veröffentlicht wurde. Er
beinhaltet acht Messvertonungen des Meisters
(zu fünf, sechs und sieben Stimmen),
wobei jede dieser Messen auf einer Motette
basiert,
die de La Hèle als jeweilige kompositorische
Vorlage verwendet hat. Diese Art
der Bearbeitung, die so genannte „Parodie“,
erfreute sich im sechzehnten Jahrhundert
außerordentlicher Beliebtheit und war überdies
Zeichen der Verehrung und Wertschätzung
für den Komponisten der Vorlage (was
im heutigen Zeitalter des „Copyright“ eher
befremdlich wirkt). Bei seiner Missa Quare
tristis es hat de La Hèle auf eine gleichnamige
Motette von Orlando di Lasso (1532–1594)
zurückgegriffen, dessen Ruhm zu jener Zeit
bereits in ganz Europa einzigartig gewesen
sein dürfte. Durch diese besondere Art der
Bearbeitung wird die Vorlagenkomposition
gewissermaßen neu interpretiert und erscheint
anschließend in einem neuen musikalischen
Licht. Durch die gezielte Wahl
einer bestimmten Vorlage (etwa einer Oster-
Motette) entstand zudem eine neue Messe
mit einer entsprechenden liturgischen Ausrichtung
(also eine Oster-Messe). Überaus
beliebt war es, vor allem weltliche Kompositionen
(Madrigale, Chansons u.a.) durch Parodie
in einen geistlichen Kontext zu rücken.
Es lässt sich denken, dass es den Unmut der
Geistlichkeit auf den Plan rief, wenn diese
manchmal recht schlüpfigen Gesänge unverhohlen,
mit einem geistlichen Text versehen,
plötzlich im Gottesdienst erklangen (und das
Original von jedermann erkannt wurde). Die
Reformbestrebungen des Tridentiner Konzils
(1545–1563) haben versucht, solchen musikalischen
Spielereien ein Ende zu setzen.
Einige Überlegungen, die nicht mehr als
Mutmaßungen sein können, sollen an dieser
Stelle der Frage nachgehen, was einen
Komponisten dazu bewegt haben mag, ein
bestimmtes Werk als Vorlage für ein neu zu
schaffendes Stück zu verwenden. Angesprochen
wurde bereits die „Verneigung“ vor
dem Komponisten der Vorlage. Dann gab
es sicherlich auch eine Art Wettstreit unter
den Musikern, gewisse Melodien auf immer
neue Art zu bearbeiten (man denke nur an
die zahlreichen Messen, die auf der bekannten
burgundischen Melodie L’homme armé
basieren). Eine gewisse Zeitersparnis, die das
Parodieverfahren mit sich bringen könnte
und die gerne in dem Zusammenhang genannt
wird, ist wohl eher nicht zutreffend.
Denn es scheint in der Tat einfacher zu sein,
ein völlig neues Stück zu komponieren, als
sich mit hoher Kunstfertigkeit und
entsprechendem Ideenreichtum an die Ausarbeitung
einer Parodiemesse zu machen, sich also der
Herausforderung zu stellen, immer wieder
neue Varianten und Blickwinkel auf das bereits
Vorhandene zu finden. Es spricht für
ausgeprägten Sachverstand und Geschmack,
wenn man die Motetten betrachtet, die de La
Hèle als musikalisches Material seiner „Octo
Missae“ herangezogen hat. Orlando di Lasso,
Josquin des Préz, Cypriano de Rore und
Thomas Crequillon sind die Komponisten.
Allesamt Niederländer wie er selbst, zählten
sie zu den größten und einflussreichsten Musikern
ihrer Zeit.
Wie nun geht de La Hèle mit der Vorlage
um? Bei seiner Missa Quare tristis es hat
er die wesentlichen kompositorischen Strukturen
von Lassos Motette beibehalten. Der
sechsstimmige Messsatz wurde allerdings,
zwar im gleichen kirchentonalen Modus, aber
eine Quarte höher als die Motette (in anderen
Schlüsseln) notiert. Für die vorliegende
Aufnahme wurde die Messe jedoch der ursprünglichen
Tonart der Motette angeglichen.
Die dunkle Klanglichkeit (mit einer Bass-,
zwei Tenor-, zwei Altstimmen und nur einem
Sopran) ist sehr charakteristisch für die
Motette und verleiht ihr eine eindringliche
Feierlichkeit. Der hoffnungsvolle Text von
„Quare tristis es“ (Was bist du betrübt, meine
Seele?) stammt aus dem Psalm 41, der in der
Fastenzeitsliturgie vorkommt. Eine liturgische
Zuordnung innerhalb des Kirchenjahrs ist
aber nicht zwingend gegeben. Die Anfangsgestaltung
der fünf Mess-Sätze ist stets vom
Beginn der Motette abgeleitet, aber jeweils
unterschiedlich, und man kann erkennen,
welch großartige Möglichkeiten dem musikalischen
Material der Lasso-Motette innewohnen.
Gewissen Konventionen folgend vertont
de La Hèle bestimmte Textabschnitte mit reduzierter
Stimmenzahl, um sie klanglich von
den vollbesetzten Teilen abzuheben (Vierstimmigkeit
bei „Et resurrexit“ und „Benedictus“;
Dreistimmigkeit bei „Domine Deus“). Es ist
interessant, zu beobachten, wie und wo etwa
die (durch die Terz-Sext-Paralellen altertümlich
anmutende) dreistimmige Phrase „misericordiam
tuam“ aus der Motette später in
der Messe Verwendung findet. Sie erscheint
beispielsweise bei „Cum Sancto Spiritu“ im
Gloria, oder auch bei zentralen Aussagen wie
der Passage „Et homo factus est“ im Credo
und dem Abschnitt „Pleni sunt coeli et
terra“ (Sanctus). Seinem eigenen Katholizismus
scheint de La Hèle zu huldigen, wenn er im
Glaubensbekenntnis ganz unerwartet die
Textstelle „Et unam sanctam catholicam et
apostolicam ecclesiam“ (Ich glaube an die
eine, heilige, katholische und apostolische
Kirche) in ein sanftes Dreiermetrum kleidet
(das sich übrigens in Lassos Motette an keiner
Stelle finden lässt). Das „perfekte“ Metrum
(mit drei Zählzeiten pro Takteinheit) symbolisiert
seit jeher die heilige Zahl Drei. Vielerlei
kompositorische Feinheiten lassen sich
beim vergleichenden Hören von Motette und
Messe entdecken. Es ist aber auffällig, dass es
vor allem die beiden markanten Motive vom
unmittelbaren Beginn der Motette sind (jedes
mit dem charakteristischen Halbtonschritt bei
„tristis es“), die sich durch die ganze Messe
verfolgen lassen, und die in zahllosen wunderbaren
Varianten anklingen. Andere Themen
und Melodien hingegen, die uns vielleicht
ähnlich geeignet erscheinen, haben die Phantasie
des Komponisten offensichtlich nicht
oder zumindest weitaus weniger angeregt.
Bis auf zwei Motetten (eine davon ist den
„Octo missae“ vorangestellt) und eine einzelne
französische Chanson sind keine weiteren
Werke von George de La Hèle überliefert.
Dass es aber eine ganze Reihe anderer Stücke
aus der Feder des Meisters gegeben hat, ist
einer Repertoireliste der spanischen Hofkapelle
zu entnehmen, die mit dem Jahr 1585
datiert ist. Durch einen Brand der Kapelle im
Jahr 1734 wurde dieser musikalische Bestand
aber unwiederbringlich zerstört. (kw)
Arvo Pärt: Memento
Die Musik des estnischen Komponisten
Arvo Pärt (*1935) übt eine große Faszination
aus und ist in ihrer ganz eigenen
Stilistik regelrecht unverkennbar. Von einer
seriellen Kompositionstechnik kommend,
vollzieht Pärt Mitte der Siebziger Jahre einen
radikalen Umbruch in seiner Schreibart und
schafft einen neuen Stil, der sich fortan im
Wesentlichen auf simple Tonleiterausschnitte
und Dreiklangsbrechungen reduziert. Die
Stille und das Unaufdringliche gehen einher
mit einer Haltung von innerer Einkehr. Der
Kanon Pokajanen (und dessen siebter Teil
Memento, der 1994 im Vorfeld der Gesamtvertonung
entstand) ist wesentlich geprägt
von dieser Idee. Den Texten liegt ein Bußkanon
aus alten slawischen Kirchenhandschriften
des 7. oder 8. Jahrhunderts zu Grunde,
der in der griechisch-orthodoxen Liturgie
im Morgengottesdienst Verwendung findet.
Inhaltlich stehen dem Lob des Herrn die
Klagen über die menschlichen Verfehlungen
gegenüber, während der Refrain („Erbarme
dich meiner, o Gott, erbarme dich“) diese
beiden Ebenen verbindet. Die Buße wird zur
unabdingbaren Notwendigkeit, ohne welche
die Seele das himmlische Heil nicht erlangen
kann. Pärt schreibt zur Entstehungsgeschichte
des Stücks: „In dieser Komposition, wie
auch in manchen meiner anderen Vokalwerke,
versuchte ich, von der Sprache auszugehen. Ich
wollte dem Wort die Möglichkeit geben, seinen
eigenen Klang zu wählen, seine melodische Linie
selbst zu zeichnen. Und so entstand – auch
für mich etwas überraschend – eine Musik,
ganz durchdrungen von dem eigenartigen Charakter
dieser besonderen, nur in Kirchentexten
verwendeten slawischen Sprache.“
Epiloge zum Passionsgeschehen.
Wolfgang Rihms Motetten 5–7
Die Texte der drei Motetten Caligaverunt,
Recessit und Aestimatus sum sind der
Karsamstags-Liturgie der Römischen Kirche
entnommen. Nach dem Verstummen Christi
am Kreuz werden – zitierend und frei reflektierend
– Verse aus dem Alten Testament als
gedankliche Zufluchts-Orte aufgesucht.
Das Caligaverunt stammt aus den Klageliedern
des Propheten Jeremia. Musikalisch
wird es hier in ein Zerfließen, Zittern
und Schwirren übersetzt. In voller Sechsstimmigkeit
entwickelt sich ein interessantes
Spannungsverhältnis zwischen vitaldrängenden
Melodie-Bausteinen und deren
schier unbewusster Summierung zu einer
zufalls-offenen Harmonik – bald aufatmend,
bald mürbe in sich zusammensackend. Beim
„si est dolor similis“ eröffnet der Sopran mit
fallenden Septimen eine Art Kanon, der in
freie Polyphonie übergeht. Korrespondierend
mit der Frage, welcher Schmerz dem
eigenen gleich sei, läuft und rennt die Musik
durch ihre Geschichte, sucht nach dem
wahren Ausdruck der Klage und macht ein
ostentatives Crescendo. „Videte“, schaut
her – A-Dur mit lautem B: Schmutz in einer
Wunde, die kurz und heftig brennt, bis
jemand die Dissonanz herauswäscht. Aber
dann wird die Frage anders wiederholt: nicht
mehr rhetorisch, sondern einfach ratlos; ihre
Worte zerfallen zwischen Generalpausen.
Das besitzanzeigende Fürwort des Schmerzes
wird in seine Silben zerteilt, „me… us…“,
und klappt orgelhaft nach: Ober- und Unterstimmen
als rechte und linke Hand, mit
konträren Dreiklängen.
Eine träumende Erinnerung an den
guten Hirten, von dem die Psalmen sprechen,
ist das Recessit. Die Trauer wird zum
Heimweh nach leuchtenden Harmonien,
nach unschuldigen Gedanken von Schmerz
und Linderung, Spannung und Lösung, die
sich nicht scheuen, beim „qui captivum“ in
wiegenden Dreiertakt überzugehen. Unterdessen
schraubt der Sopran sich höher und
höher. Sein Glockenklang bekommt etwas
Beschwörendes; der Seelen-Frieden ist bedroht
von Angst, und die muss, als sei sie des
Teufels, regelrecht fortgeschleudert werden,
mit bannenden Worten: „disrupit… destruxit…
subvertit…“. Ein kurzes Blitzlicht auf
den Feind, den Widersacher: dreifache Tritonus-
Überblendung – und Blackout.
Chromatisch gewundene Themen
durchziehen das Aestimatus sum. Worte aus
Psalm 88 (in der lateinischen Vulgata ist es
Psalm 87) werden darin eindringlich wiederholt;
lange Melismen erwecken den Eindruck
einer dunklen Zeitlosigkeit. Die Stimmen
treten selbständig und in wechselnden
Kombinationen auf. Beim „factus sum sicut
homo“ reiben die beiden obersten, dann die
beiden untersten aneinander; diese zweistimmigen
Dissonanzen wirken besonders hart.
Ein homophoner Neuansatz bereitet das zentrale
Bild vor, mit dem die Gedanken ringen
– aufgeregt, verzweifelt, anklagend: „umbra
mortis“. Das letzte Wort – nach verhallenden
Tenortönen und archaischen Quinten von
Bariton und Bass – führt über den Psalmtext
hinaus; es ist eine leise Bitte um Erbarmen.
Michael Herrschel
Die auf dieser CD in Ersteinspielungen zu
hörenden drei Passionsmotetten von Wolfgang
Rihm vervollständigen einen siebenteiligen Zyklus,
dessen erste vier Teile bereits 2004 auf CD
veröffentlicht wurden (OehmsClassics OC 354).
Die „Sieben Passions-Texte“ sind Singer Pur
gewidmet und wurden unter dem Titel „Vigilia“
(zusammen mit instrumentalen Zwischenspielen
und einem abschließenden „Miserere“)
erstmals im September 2006 im Rahmen der
Berliner Musikfestspiele zyklisch aufgeführt.