by Ferruccio Busoni, Sergei Rachmaninov, Myra Hess and Wilhelm Kempf
Bernd Glemser, piano
Klavierbearbeitungen von Werken Bachs haben sich seit dem 19. Jahrhundert
fast schon zu einem eigenen Genre entwickelt. Meist sind es Persönlichkeiten
mit musikalischer Doppelbegabung, Pianisten, die auch ein beachtliches
kompositorisches Werk vorweisen, oder, wie im Falle Sergej Rachmaninovs,
Klaviervirtuosen, die der Nachwelt vor allem als Komponisten im
Gedächtnis sind. Immer aber verraten die Transkriptionen auch etwas über den
persönlichen Zugang des Autors zu J.S. Bach. Auf seiner neuen CD stellt Bernd
Glemser nicht nur einige der berühmten Bearbeitungen von Ferruccio Busoni
vor (das Programm beginnt mit der d-Moll-Chaconne, die als Standardwerk im
virtuosen Klavierrepertoire bezeichnet werden kann), sondern auch selten zu
hörende Stücke von Sergej Rachmaninov, Myra Hess und Wilhelm Kempff.
Musik durch ihre Veränderung
erkennen
Zu Transkriptionen Bachscher Musik für Klavier
Im Jahre 1907 veröffentlichte Ferruccio Busoni
seinen kühnen Essay Entwurf einer neuen
Ästhetik der Tonkunst. In diesem Klassiker der
modernen Musikästhetik teilte der Komponist
und Pianist in eher unsystematischer Form
„einige Gedanken“ mit, „die Aufzeichnungen
eines Musikers“. Unter den zahlreichen angerissenen,
für sich genommen interessanten
Themen fällt in Busonis Programmschrift
besonders auf, dass er den Genie-Glauben
des 19. Jahrhunderts nicht teilt: „Es kann der
Mensch nicht schaffen, nur verarbeiten, was
er auf seiner Erde vorfindet“. Der Künstler ist
für Busoni nicht etwa ein gottgleicher Weltenschöpfer,
sondern ein ehrlicher Arbeiter, der
sensibel und kreativ auf das reagieren muß,
was er an formbarem Material, an Gegebenem,
auffindet.
Dieser Gedanke, daß nämlich, wie es in
der entsprechenden Bibelstelle heißt, „nichts
Neues unter der Sonne“ geschehe (Prediger
1, 9), war für Busonis Zeit, die von Genieglauben
und Fortschrittsgeist so tief geprägt
war, so revolutionär wie ernüchternd. Überraschenderweise
entwickelt Busoni diesen
Gedanken anhand einer eher musikalischtechnisch
anmutenden Frage, nämlich der
nach Sinn und Wert von Bearbeitungen. In
der zweiten Auflage des Entwurfs einer neuen
Ästhetik zitiert Busoni dazu einen kurzen Text,
den er bereits in einem Programmheft zu einem
eigenen Konzert veröffentlicht hatte:
„Um das Wesen der ,Bearbeitung‘ mit einem
entscheidenden Schlage in der Schätzung
des Lesers zu künstlerischer Würde zu
erhöhen, bedarf es nur der Nennung Johann
Sebastian Bachs. Er war einer der fruchtbarsten
Bearbeiter eigener und fremder Stücke,
namentlich als Organist. Von ihm lernte ich
die Wahrheit erkennen, daß eine gute, große,
eine universelle Musik dieselbe Musik bleibt,
durch welche Mittel sie auch ertönen mag.
Aber auch die andere Wahrheit: daß verschiedene
Mittel eine verschiedene – ihnen eigene
Sprache haben, in der sie den nämlichen Gehalt
in immer neuer Deutung verkünden“.
Die eigene oder fremde Bearbeitung eines
Musikstücks sei also, das ist die Pointe, nicht
etwa als seine Verfremdung anzusehen, sondern
bringe durch die Veränderung gerade
den identischen Wesenskern der Musik selbst
zum Vorschein. In diesem Lichte muß man die
zahlreichen Arrangements sehen, die Busoni
besonders von Werken Bachs angefertigt hat.
Die Spannweite solcher Aneignungen fremder
Musik innerhalb der sogenannten Bach-
Busoni-Ausgabe reicht dabei von der interpretierenden
Edition von Klavierwerken über
die Übertragung von Violin- und Orgelwerken
auf die Möglichkeiten des Klaviers bis hin zu
völlig freien „Compositionen und Nachdichtungen“.
Alle diese fein differierenden Weisen
der Anverwandlung einer fremden Schöpfung
lassen sich auf engem Raum an Busonis Übertragung
der Chaconne d-Moll aus der Partita
Nr. 2 für Violine solo BWV 1004 studieren: In
seiner Version, die er 1893 während seiner
zweiten Amerika-Tournee öffentlich spielte,
gewinnt er einen massiv-vollgriffigen, immens
virtuosen Klaviersatz aus der zarten einzelnen
Geigenstimme – eine Bearbeitungsleistung,
die den Namen Nachkomposition wirklich
verdient.
Von anderer Art sind dagegen diejenigen
Übertragungen Busonis, die auf Orgelwerke
zurückgehen; hierbei kam es vor allem darauf
an, die Pedalstimme in einen spielbaren Satz
für zwei Hände zu integrieren. Zwischen 1907
und 1909 stellte Busoni insgesamt zehn Chorvorspiele
zusammen, wobei er effektsicher
besonders bildreiche Sätze herausgriff, die
dann auch durch weitere Bearbeitungen populär
wurden. „Wachet auf, ruft uns die Stimme“
BWV 645 wurde ursprünglich 1731 für die
gleichnamige Kantate BWV 140 verfasst und
später von Bach selbst als Eröffnungsstück in
die kleine Sammlung der „Schüblerschen Choräle“
eingefügt. Die spätere Eigenbearbeitung
legt es nahe anzunehmen, dass Bach selbst
es als besonders gelungen empfunden haben
könnte: Grundlage des Satzes ist eine eingängige
Arien-Melodie, die vollkommen autonom
eine großartige Entwicklung durchläuft, noch
bevor der Choral in sie eingepasst wird. „Nun
komm´ der Heiden Heiland“ BWV 659 und „Ich
ruf´ zu dir, Herr Jesu Christ“ BWV 639 sind
harmonisch komplexe Sätze, die Busoni auch
durch seine Dynamisierung, Phrasierung und
Agogisierung als geradezu meditativ interpretiert,
während „Nun freut euch, liebe Christengmein“
BWV 734 als spielerisch-pianistischer
Allegro-Satz vorgestellt wird.
Ein besonderes Verhältnis hatte Busoni zu
Bachs Orgelphantasien, denen er, wiederum
im Entwurf, im Gegensatz zu den Fugen einen
„starken Zug von Landschaftlichem (dem architektonisch
Entgegenstehenden), von Eingebungen,
die man mit ,Mensch und Natur‘
umschreiben möchte“, zugestand; Bach zeige
sich hier als reiner Vertreter der „Ur-Musik“.
Bei seinen Übertragungen klammerte er freilich
die Fugen nicht aus; bereits 1888, und damit
als erste seiner Bach-Anverwandlungen
überhaupt, entstand seine Version von Präludium
und Fuge D-Dur BWV 532, zwei Jahre
später diejenige von Präludium und Fuge Es-
Dur BWV 552, einem Werk, dem besondere
Bedeutung zukommt, weil es die Rahmenteile
des dritten Teils der Clavier-Übung liefert. Kein
Geringerer als Arnold Schönberg sollte 28
Jahre später von diesem Ausnahmewerk eine
großbesetzte Orchesterversion erstellen.
Überhaupt zogen Busonis Bearbeitungen
weite Kreise. Im Jahre 1933 machte Sergej
Rachmaninov drei Sätze der Partita Nr. 3 EDur
für Violine solo BWV 1006 für das Klavier
urbar; es handelt sich wiederum um eine veritable
Nachkomposition, weil Rachmaninov
– wie schon Busoni im Falle der Chaconne
– die einzelne Geigenstimme zu einem vollen
Klaviersatz ausbaute. Auch der deutsche Pianist
Wilhelm Kempff fertigte eine Reihe von
Transkriptionen an; dem Siciliano aus der
Flötensonate Es-Dur BWV 1031 dürfte nicht
zuletzt deshalb eine besondere Bedeutung
zukommen, weil es in der selben Tonart steht
wie Kempffs bis heute bekanntestes eigenes
Werk, seine Klaviersonate g-Moll op. 47. Im
Falle des Chorales „Jesu bleibet meine Freude“
aus der Kantate „Herz und Mund und Tat
und Leben“ BWV 147 schließlich war es sogar
die Klaviertranskription durch die englische
Pianistin Dame Myra Hess, die das Stück
mit seiner wunderbar schwebenden Melodie
überhaupt erst weltweit bekannt machte.
Gelungene Übertragungen wie diese zeigen,
dass der Anteil der Bearbeiter kaum überschätzt
werden kann, bringen doch gerade sie
oft lange vernachlässigte Werke zu wohlverdienter
Aufmerksamkeit.
Michael Bastian Weiß