Symphony No. 3 (first version 1873)
Philharmoniker Hamburg
Simone Young, conductor
Ich bin eher eine Freundin von Live-Erlebnissen und glaube nicht so recht an
Studioaufnahmen“ sagt Simone Young im Interview mit der Zeitschrift Park
Avenue. „Unsere CDs werden deshalb Mitschnitte von Konzerten sein. Mit den
Hamburger Philharmonikern hat sich gezeigt: Das ist ein Orchester, mit dem
ich etwas zu sagen habe.“
Die Presse reagierte mit enthusiastischen Besprechungen auf den CD-Erstling
aus Hamburg (Bruckners 2. Sinfonie, Urfassung 1872): „Analytischer als ihr
Vorbild Daniel Barenboim, aber auch impulsiver als der unvergessene Günter
Wand, erweckt Simone Young den frühen Bruckner zu orchestralem Leben.”
(KulturSPIEGEL)
Nach dem fulminanten Erfolg des Erstlings folgt nun Vol. 2 mit der dritten
Sinfonie, ebenfalls in ihrer Urfassung (1873), ebenfalls als Live-Einspielung in
der unverwechselbaren Akustik der Hamburger Musikhalle.
„So ist das Leben“
Zu Anton Bruckners III. Symphonie
Im Herbst 1872 – unmittelbar nach Vollendung
seiner II. Symphonie – machte sich Anton
Bruckner an die Komposition der III. Er befand
sich mitten im fruchtbarsten Schaffensabschnitt
seines Lebens. Zwischen Oktober 1871
und Mai 1876 entstanden praktisch ohne Unterbrechung
die Symphonien II bis V, und auch
der Arbeitsverlauf an der III. Symphonie war
ungewöhnlich zügig. Bereits im Juli 1873 waren
die drei ersten Sätze fertig, und am 31. August
des Jahres vollendete er die Skizze des 4.
Satzes in Marienbad, nachdem der Ausbruch
der Cholera ihn aus Wien vertrieben hatte. Mit
diesem Manuskript (und dem der II.) im Gepäck
machte Bruckner im September dieses
Jahres seine berühmt gewordene Reise nach
Bayreuth zu Richard Wagner, wo dieser nach
kurzer Durchsicht der Partituren eine Widmung
zu akzeptieren bereit war – und zwar
eben jener im Fertigwerden begriffenen Dritten.
Unmittelbar nach seiner Rückkehr nach
Wien arbeitete Bruckner die fehlenden Teile
aus und fügte wahrscheinlich erst dann, einer
zur damaligen Zeit verbreiteten Sitte folgend,
Zitate des Widmungsträgers in die neue Symphonie
ein. Am 31. Dezember des Jahres war
das Werk abgeschlossen, und Bruckner nahm
nach eigenem Bekunden unmittelbar darauf
die Arbeit an der IV. in Angriff.
Erhalten ist die dritte Symphonie in drei
Versionen. Der Urversion von 1873, die weder
veröffentlicht noch zu Bruckners Lebzeiten
aufgeführt wurde und nur dank der Widmungspartitur
an Richard Wagner aus dem
Archiv in Bayreuth vollständig erhalten ist.
(Die Uraufführung dieser Fassung erfolgte
erst 1946!)
Dann die Fassung von 1877/78, die bereits
einschneidende Veränderungen enthält und im
Wesentlichen die Grundlage der von Bruckner
selbst dirigierten Uraufführung am 16. Dezember
1877 im Wiener Musikverein bildete, die
bekanntlich zum legendären Fiasko geriet.
Schließlich unterzog der Komponist
1889/90 das Werk einer letzten, wiederum tiefgreifenden
Revision, die ebenfalls, wie schon
die zweite Fassung, zu Lebzeiten des Komponisten
verlegt wurde. Außerdem existiert eine
völlig für sich stehende Version des Adagios
aus dem Jahre 1876, die erst 1980(!) von den
Wiener Philharmonikern uraufgeführt wurde.
Soweit zu den Eckdaten der Entstehung
und der weiteren Geschichte dieser Symphonie.
Doch kehren wir ins Jahr 1873 zurück: die
Schnelligkeit des Kompositionsvorgangs ist
umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass
die Erstfassung der III. Symphonie in d-Moll,
mit der wir es hier zu tun haben, rein taktmäßig
(nicht was die Aufführungsdauer betrifft!)
mit 2056 Takten das längste Werk ist, das
Bruckner in seinem Leben komponieren sollte.
Nicht weniger ambitioniert als der Umfang
war der Plan, der dem Werk zu Grunde liegt:
Nichts Geringeres als die IX. Symphonie seines
Abgottes Ludwig van Beethoven – natürlich
ebenfalls in d-Moll! – bildete – wie wir in
der Folge gleich sehen werden – das Vorbild,
sowohl für den Aufbau, aber auch teilweise
für den Charakter dieser Schöpfung.
Hier spiegelt sich auch sogleich die Janusköpfigkeit
des Menschen und Künstlers
Bruckner. Einerseits unsicher und vor allem
verunsicherbar wie kaum ein zweiter der Großen
der Musikgeschichte, andererseits nur
inspiriert von größten Formen, verwegensten
Konzepten und daraus resultierend zu einer
Tonsprache findend, die in Klang und Ausdruck
nicht nur einzigartig bis dahin war, sondern
auch bis heute bleiben sollte. Es musste also
Beethovens
IX. sein, die Symphonie der Symphonien!
Bruckner hat sich in seinen Studien
wiederholt mit Beethoven und insbesondere
seiner Formensprache analytisch auseinandergesetzt.
Besonders die III. und die IX. waren
wiederholt Objekte eingehender Studien.
Die Übereinstimmung in der Anlage zwischen
Beethovens IX. und Bruckners III. ist
augenfällig – besonders in der hier vorliegenden
Urfassung: Die Einleitung könnte stellvertretend
als Urbild für die Anfänge sämtlicher
Bruckner-Symphonien stehen: Über eine leere
Quinte legt sich das berühmte Hauptthema,
zuerst in der Trompete vorgetragen, bevor es,
über eine lange Steigerung aufbereitet, unisono
im Fortissimo des gesamten Orchesters
vorgetragen wird. Der ganze Satz nimmt sich
bei näherem Hinsehen wie eine Kopie der
Anlage des Stirnsatzes von Beethovens IX.
aus, ebenso die 5-teilige Anlage des folgenden
Adagios. Nur in einem Punkt ist Bruckner
vom Vorbild abgewichen. Den Versuch, das
Scherzo an zweite und das Adagio an die
dritte Stelle zu stellen, wird er – wiewohl er
ihn bereits in der Erstfassung seiner II. in die
Tat umgesetzt hatte – erst wieder in den Symphonien
VIII und IX (letztere wieder in d-Moll!)
realisieren.
Im Finale werden – gleich wie im Vorbild
– die Motive der vorangegangenen Sätze kurz
angerissen – auch das ein Stilmittel, das in der
II. bereits seinen Niederschlag fand.
Überhaupt sollte die unmittelbare Nähe zur
zweiten Symphonie deutlicher hervorgehoben
werden. Dass der Bezug zwischen den beiden
Werken bisher nicht deutlich wurde, rührt auch
daher, dass beide bis vor relativ kurzer Zeit nur
in ihren späteren Gestalten und nicht in den
Erstfassungen bekannt waren, in denen sich
diese Parallelen deutlich manifestieren. (Auch
wird man besonders der Zweiten Symphonie
nur wirklich Gerechtigkeit widerfahren lassen
und sie aus dem Schatten der unmittelbar darauf
entstandenen „Schwester-Symphonie“ lösen
können, wenn man sie in ihrer Erstfassung
kennen lernt und möglichst häufig aufführt).
Als Bruckner in Bayreuth den „Meister aller
Meister“ (Bruckner über Wagner) um die
Erlaubnis zu einer Widmung ersuchte, legte
er ihm die vollendete II. und die in Vollendung
begriffene III. vor. Für ihn waren die beiden
Stücke also gleichwertig. Erst spätere Generationen
betrachteten die III. als das würdigere
Werk. Auch der von Bruckner selbst geprägte
Name „Wagner-Symphonie“ entstand
erst, nachdem sich Wagner für die III. als
widmungstragendes Werk entschieden hatte.
Deshalb erscheint es auch eher wahrscheinlich,
dass die von vielen Kommentatoren über
Gebühr hervorgehobenen Wagner-Zitate in
dieser Symphonie – zumindest zum größten
Teil – erst im Nachhinein interpoliert wurden.
Dass diese „Zitate“ in Wahrheit sehr dezent
und gar nicht so leicht auszumachen sind (und
zudem, bis auf ein einziges im Adagio, in den
folgenden Bearbeitungen wieder getilgt wurden),
wird viel weniger besprochen. Auf die
Frage, woraus denn Bruckner „zitiert“ habe,
bekommt man kaum eine eindeutige Antwort.
Nun denn: am bekanntesten sind die Zitate
aus Walküre und Tristan – aus ersterer das so
genannte „Schlafmotiv“ (übrigens das einzige,
das auch in den späteren Fassungen im 2. Satz
„überlebte“) und aus letzterem das „Sehnsuchtsmotiv“.
Manche Exegeten meinen auch
Anklänge aus Meistersinger und Tannhäuser
auszumachen; deutlich hingegen das Zitat aus
Lohengrin – hier das beziehungsreiche Motiv
aus dem 2. Akt „Gesegnet sollst Du schreiten“
– allerdings in einer sehr „tannhäuserhaften“
Verarbeitung. Alle diese Motive sind keineswegs
wörtlich übernommen, sondern im Gegenteil
bewusst frei und beziehungsreich zum
eigenen thematischen Material gesetzt. Und
nicht nur der über alles verehrte Meister aus
Bayreuth wird zitiert. Wie schon in der II. Symphonie
verwendet Bruckner am Schluss der
Exposition des 1. Satzes ein „Miserere“-Zitat
aus dem „Gloria“ seiner eigenen d-Moll-Messe,
und die II. Symphonie selbst wird mit ihrem
Hauptthema explizit zitiert!
Der Musikwissenschaftler Constantin Floros
weist in seinem Bruckner-Buch auch auf
ein mehr oder weniger direktes Liszt-Zitat hin –
wir werden darauf noch zu sprechen kommen.
All genannten Zitate stehen nicht nur musikalisch,
sondern oft auch mit dem unterlegten
Text oder der dramaturgischen Bedeutung in
beziehungsreichem Zusammenhang zum Gesamten.
So ist es nur zu bedauern, dass sich
Bruckner genötigt sah, in der Hoffnung auf
eine Aufführung des Werks das Geflecht der
Anspielungen in den späteren Bearbeitungen
weitgehend zu zerstören, wahrscheinlich dem
Drängen seiner engsten Umgebung folgend.
Betrachten wir die formale Anlage der Urversion
der III. Symphonie von 1873 genauer,
um anhand der Strukturen die Unterschiede
aufzeigen:
Gemäßigt, misterioso steht als Tempobezeichnung
über dem ersten Satz (in den späteren
Fassungen wird es dann: Mehr langsam,
misterioso heißen) – allerdings – wie auch in
der IX. von Beethoven steht als Taktbezeichnung:
alla breve. Der Beginn des Satzes gemahnt
überhaupt in jeder Hinsicht unmittelbar
an das große Vorbild: bewegte Streicherfiguren
im pp, liegende Holzbläserakkorde – dann
im 5. Takt das Thema, mit dem Wagner nicht
nur die Symphonie, sondern auch Bruckner
selbst noch später assoziiert haben soll; im
p ertönt das Thema in der Solotrompete –
eigentlich auch das ein „Selbstzitat“, denn
es ist jenes Thema, mit dem Bruckner – hier
allerdings in den Streichern – seine Annullierte,
dann als „Nullte“ bekannt gewordene
Symphonie eröffnete. Wie es bei Bruckner
nicht anders sein konnte, liegt dem Satz die
Sonatensatzform zugrunde – wenn auch in
höchst eigener Spielart und Varianten. Nach
dem ersten Thema in der Trompete werden in
der Exposition zwei weitere Themen etabliert:
Ein lyrisches Seitenthema gewinnt zuerst zum
im p vorgetragenen Trompetenmotiv einen
zunächst gar nicht allzu großen Kontrast. Im
Laufe des gesamten Werkes, vor allem in der
Durchführung des ersten, aber am meisten in
der Verarbeitung des letzten Satzes soll sich
noch zeigen, was in den beiden Anfangsthemen
steckt und vor allem, was Bruckner mit
ihnen vorhat. Das dritte Thema bildet eine
choralartige Bläserfigur, bevor die Exposition
mit dem oben erwähnten „Miserere“-Zitat
abgerundet wird. Mit diesem Choral hat es insofern
eine eigene Bewandtnis, als, wir haben
in der Einleitung schon darauf hingewiesen,
Constantin Floros hier zu allen Wagner- und
Selbstzitaten auch ein indirektes Liszt-Zitat
ausmacht, denn der Choral erweist sich als
Paraphrase des katholischen Chorals: Crux fidelis
inter omnes, und zwar in der Gestalt, wie
sie am Ende der Symphonischen Dichtung Die
Hunnenschlacht von Franz Liszt verarbeitet
ist (vielleicht sollte man hier daran erinnern,
dass Bruckner seine II. Symphonie Franz Liszt
zueignen wollte). Damit ergibt sich natürlich
ein weiterer Zusammenhang im Zitaten- und
Motivgeflecht, besonders zwischen den liturgischen
Hinweisen des ersten Satzes.
Die nun folgende Durchführung ist bereits
in der für Bruckner typischen Variantentechnik
gearbeitet, wenn auch nur vollständig in der
vorliegenden Urfassung erkennbar: Der langsame
Aufbau, vor allem durch eine sorgfältig
abgestufte Dynamik gekennzeichnet, kulminiert
zuerst im fff des ersten Themas, um dann
mit dem zweiten Thema die Gegenbewegung
einzuleiten und dann erst in die Reprise zu gehen,
wo das lyrische Thema in der dem Werk
zu Grunde liegenden parallelen Dur-Tonart
erklingt, um erst in der Coda zurück ins angestammte
d-Moll zu finden. Nun erklingt gegen
Ende dieser Durchführung eines der für Bruckner
so typischen Rätsel, dessen Auflösung (im
Finale) man in der Urfassung mit sämtlichen
Zitaten und Selbstzitaten eher nahekommt als
später, wo die meisten dieser Hinweise getilgt
wurden. Denn hier zitiert Bruckner nicht nur ab
Takt 463 (–466) Anklänge aus Tristan und ab 479
(–488) aus Walküre sondern auch nicht weniger
als fünf Mal das Hauptthema seiner II. Symphonie.
Noch einmal drängt der dynamische
Aufbau des Satzes ins fff – bricht dann unvermittelt
ab – das lyrische zweite Thema erklingt
noch einmal in ruhigem p, um dann ebenso
entschlossen, fast grimmig vom fff des ersten
Themas quasi „weggewischt“ zu werden und
den Satz in nur 16 Takten zu einem geradezu
explosiven Schluss zu bringen.
Einer der wesentlichsten Gründe für viele
Interpreten, heute wieder zur Urfassung
dieser Symphonie zurückzukehren, liegt im
Aufbau des Adagios. Zwar verlor der zweite
Satz in den späteren Umarbeitungen rein von
der Länge weniger als der erste oder gar der
vierte Satz, aber die grandiose fünfteilige Architektur
musste in letzter Konsequenz einem
3-teiligen Aufbau weichen. Auch bei diesem
Satz liegt natürlich als Grundmuster wieder
die IX. Beethoven vor: hier wie dort wechselt
das Adagio in 4/4 mit einem Andante-Teil
in ¾ ab – und was Bruckner in der Urfassung
seiner III. Symphonie hier – ausgehend vom
verehrten Vorbild – gestaltet, war bis dahin im
wahrsten Sinne des Wortes „unerhört“:
Feierlich überschreibt Bruckner die einleitende
Streichermelodie in Es-Dur im p.
Interessant, dass dieser Satz also einen
Halbton höher beginnt als die Grundtonart,
worin ganz eigentlich schon die Ursache der
eigentümlichen Chromatik dieses Satzes ihren
Anfang nimmt. Die Dynamik nimmt nach 8
Takten ziemlich rasch zu, um nach weiteren 4
Takten ins ff zu gelangen – noch einmal versucht
sich das Einleitungsmotiv mit seiner p-
Feierlichkeit durchzusetzen, wird sofort vom ff
zum Schweigen gebracht und nach einer Generalpause,
die bei Bruckner immer bedeutet:
„Ich habe euch etwas Wichtiges zu sagen“,
folgt eine so typische Bruckner-Kadenz, wie
sie „brucknerscher“ kaum sein kann. Robert
Haas, der frühere Herausgeber der Bruckner
Gesamtausgabe, behauptete, sie sei seine
„Lieblingskadenz“ gewesen. Hörner leiten nun
ins Andante über. Eine Melodie, von den Bratschen
intoniert, benutzt fast sämtliche Töne
der chromatischen Skala – übrigens gleich
dem zweiten Thema der Exposition des ersten
Satzes. Diese Melodie gehört zweifellos zu den
Eingebungen Bruckners, die das Einzigartige in
seinem Werk charakterisieren. Man assoziiert
den Vorzug, auf engstem Raum thematisches
Material zu entwickeln und weiterzuführen,
eigentlich mit Bruckners Antipoden Johannes
Brahms. Dass Bruckner hierzu gleichermaßen
imstande war, bezeugt der Beginn dieses
Andante-Teils. Erneut eine Generalpause, die
in diesem Schaffensstadium Bruckners so
überaus wichtige Gliederungsfunktionen hatte
und deren weitgehende Eliminierungen in
den späteren Fassungen (wie schon bei der
II. Symphonie) durchwegs zu Lasten des dramatischen
Ausdrucks und der Verständlichkeit
gehen. Danach jenes Misterioso, zu dem es (in
späteren Jahren) auch eine der wenigen persönlichen
Erklärungen Bruckners zu seinem
Werk gab; nämlich, dass die Melodie ihm am
16. Oktober 1872, dem Namenstag seiner geliebten
verstorbenen Mutter Theresia, eingefallen
sei. Auch schon in der eng verwandten
II. war der Hintergrund des Adagios durchaus
biographisch zu sehen, und so gibt es keinen
Grund, diese späte Mitteilung Bruckners nicht
ernst zu nehmen. Wenn man bedenkt, dass
erst kurz vor diesem von Bruckner genannten
Datum nach seinem eigenen Bekunden die
II. abgeschlossen wurde, könnte man diesen
„Misterioso“-Einfall als eine Art Keimzelle zur
ganzen Symphonie bezeichnen. Bruckners
Zitieren und Selbst-Zitieren spielt bei dieser
Symphonie eine weit größere Rolle, als man
gemeinhin annehmen will. Constantin Floros
weist in seinen Bruckner-Studien darauf hin,
dass das Hauptthema des Adagios eine deutliche
Ähnlichkeit mit dem Benediktus-Thema
der 1842 entstandenen C-Dur-Messe ( „Windhager“)
hat: an Zufälle glaubt niemand, der
sich eingehender mit den Strukturen und der
Entstehungsgeschichte der Brucknerschen
Schöpfungen beschäftigt.
In diesem Zusammenhang steht auch
das erneute Zitat des „Schlaf-Motivs“ aus
der Walküre. Auch hier möchte man Floros
beipflichten, der hier wiederum einen Zusammenhang
zur „entschlafenen“ Mutter sieht.
Wir wollen dieses Gedankengebäude noch
weiter führen – nun aber für einen Moment
zum weiteren Verlauf des Satzes zurückkehren.
Nach dem Misterioso, das den zweiten
Teil des Andante bildet, wird die Musik zuerst
wieder ins bewegtere Andante und schließlich
zurück ins Adagio in 4/4 geführt. Neuerlich
steigert sich die Musik mit retardierenden
Einschüben bis ins ff – wird durch eine der
berühmten Generalpausen unterbrochen – es
folgt vom p bis ins pp die Überleitung zuerst in
den Streichern, welche dann in die Holzbläser
steigen – darauf eine erneute Generalpause,
und nochmals kehrt das Andante zurück – die
Celli tragen die Melodie vor, es folgt nach einem
kurzen Ritenuto das zweite Thema in den
Hörnern, die Violinen übernehmen in extrem
schwierigen Synkopen (es gibt genügend
Gründe, warum die Urfassungen bei Orchestermusikern
nicht allzu beliebt sind) den Anfang
und plötzlich – womit wir an die früheren
Überlegungen anschließen – intoniert das gesamte
Orchester ziemlich unverkennbar das
Motiv aus dem 2. Akt von Wagners Lohengrin:
„Gesegnet sollst Du schreiten“ – auch das
lässt sich unschwer ins vorher aufgezeigte
Gedankengebäude des 2. Satzes integrieren.
Erst danach wird zum 5. Teil des Satzes in
allmählich abebbenden Wellen – sowohl dynamisch,
als auch durch ständige Rubati im
Tempo – zum letzten Adagio-Block übergeleitet.
Hier zieht Bruckner das Hauptthema in der
Coda noch zwei Mal grandios ins fff, bevor der
Satz nach einem nochmaligen ff-Aufbäumen
und dem erwähnten Zitat des „Schlaf-Motivs“
schließlich im pp endet.
Im Scherzo sind wir so recht bei Bruckner,
wie er auch in späteren Werken unverkennbar
hervortritt. Es ist jener Satz, der im Laufe
der Umgestaltungsprozesse im Verhältnis am
wenigsten „gelitten“ hat.
Der Komponist hat es ungeachtet der Tempobezeichnung:
Ziemlich schnell nicht eilig, zur
Sache an sich zu kommen: eine Einleitung von
16 Takten steht dem eigentlichen Scherzo voran.
Allerdings enthält diese Einleitung bereits
das wesentliche Grundmuster dieses Satzes:
sechs legato gespielte Achtelnoten der zweiten
Violinen gegen drei pizzicato gespielte Achtel
in den Bässen – dieser Wechsel der Bewegung
der 2. Violinen mit Pizzicati der tiefen Streicher
charakterisiert den Satz im Wesentlichen sehr
gut. Das Überraschende des in seiner Heftigkeit
so typischen Bruckner-Scherzos ist ein Mittelteil,
den man zuerst bereits für das Trio halten
möchte, der aber eben nur den Widerspruch
zur fast gewalttätigen Ausgelassenheit des
Einleitungsteiles bildet. Das eigentliche Trio ist
dem Mittelteil des Scherzos verwandt, jedoch
in seinem Tanzcharakter deutlicher ausgeprägt
und nicht nur der österreichischen Volksmusik,
sondern auch dem Erbe Schuberts verpflichtet.
Es ist ebenso 3-teilig angelegt – allerdings ohne
den fast dialektischen Widerspruch, der den
Rahmen bildet.
Das Finale ist nun jener Satz, in dem die Unterschiede
von der Urfassung zu den späteren
Bearbeitungen am deutlichsten hervortreten.
764 Takte umfasst er hier. Später werden es
638, am Ende gar nur 495! Hier zeichnen die
Zahlen doch schon ein deutliches Bild, welche
Einschnitte Bruckner im Laufe der Jahre
meinte, seinem Werk zumuten zu müssen.
In diesem 4. Satz scheint – vor allem in der
vorliegenden Erstfassung – wieder das Vorbild
der IX. Beethovens durch. Das kurze Anspielen
von Reminiszenzen aus den vorangegangenen
Sätzen (in der II. Symphonie bereits
erprobt) ist wohl die deutlichste Parallele.
Auffällig für Bruckner-Kundige ist die
Tatsache, dass der Komponist hier – ganz
gegen seine sonstige Gewohnheit und Vorliebe
– teilweise unregelmäßige Taktgruppen
verwendet, eine Besonderheit, die in späteren
Fassungen – fast möchte man sagen: selbstverständlich
– eliminiert wurde. Wie im ersten
Satz in alla breve notiert, herrscht hier nun
allerdings nicht mehr das Misterioso, sondern
in einem deutlichen „Allegro“ hat das Ostinato
der Streicher nichts mehr geheimnisvoll Tropfendes;
es rollt – auch vom pp ausgehend –
nach neun Takten schnell in ein ff, wo sich das
gesamte Orchester bereits zu einem ersten
furiosen Ausbruch vereinigt, das aus einem
ungebärdigen Verwandten des Trompetenthemas
des ersten Satzes zu bestehen scheint.
Dieser Ausbruch wird erweitert und fortgeführt,
um ebenso abrupt zum Anfang zurückzukehren
und sich nochmals aufzubauen bis hin
zu einer Zäsur von zwei vollen Takten. „Etwas
langsamer“ erklingt nun das Seitenthema,
eine berühmte Eingebung Bruckners, zu der
es ebenso wie zum Misterioso des 2. Satzes
eine spätere Erklärung des Komponisten gibt:
Als er mit einem Schüler am „Sühnhaus“ vorübergeht,
in dem der Dombaumeister Schmidt
aufgebahrt liegt, sind aus einem benachbarten
Palais am Schottenring Klänge einer Tanzveranstaltung
zu vernehmen. Da meint Bruckner:
„Sehen Sie, hier im Haus großer Ball, und daneben
liegt im Sühnehaus der Meister auf der
Totenbahre! So ist das Leben – und das habe
ich im letzten Satz meiner dritten Symphonie
schildern wollen. Die Polka bedeutet den Humor
und den Frohsinn in der Welt – der Choral
das Traurige, Schmerzliche an ihr. “
In Musik gesetzt erscheint das folgendermaßen:
Pizzicati in Celli und Kontrabässen,
Hörner und Trompeten stimmen einen feierlichen
Choral an, währen die Violinen eine
Polka intonieren – das alles grundiert von den
fortlaufenden Pizzicati der tiefen Streicher.
Auch hier wieder erweitert der Komponist zuerst
das Thema und lässt es dann ein zweites
Mal anspielen. Interessant ist aber auch, dass
in diesem zweiten Themenkomplex erneut die
Reminiszenz an seine eigene II. Symphonie
erklingt. Die dritte Themengruppe besteht aus
synkopierten Oktaven, die unisono vom ganzen
Orchester vorgetragen werden und die
eigentliche Exposition choralartig abrunden. In
der Durchführung wird nun nicht nur der enge
thematische Bezug zwischen Kopf- und Finalsatz
weiter evident, der ganze Kosmos dieses
gewaltigen Entwurfs beginnt sich zu entrollen
und aufzuklären – dies allerdings machen die
späteren Fassungen kaum noch deutlich. Die
kunstvolle Verbindung der eigentlichen Themen
des Satzes, die Verwandtschaft zu den Themen
früherer Sätze, die angedeuteten Zitate werden
nur in der Urform wirklich so klar verständlich.
Vor der Coda erklingen explizit noch einmal
Themen der früheren Sätze: Nach dem zweiten
Thema des ersten Satzes, der Einleitung von
Adagio und Scherzo, und danach einer kurzen
Überleitung, schließt, durch Trompetenfanfaren
und einen ff-Blechbläserchoral vorbereitet,
das Riesengebäude dieser Symphonie mit
einem gewaltigen Effekt: In strahlendem D-Dur
erklingt als Coda das leise Trompetenthema
des Beginns im dreifachen Forte.
Es kann nie gelingen, ein tönendes Meisterwerk
mit Worten auch nur einigermaßen
zutreffend zu beschreiben. Man kann höchstens
versuchen, neugierig zu machen und auf
Besonderheiten hinzuweisen. Im Laufe dieser
Darstellung wurde bereits an mehreren Stellen
die Überlegenheit der Urfassung gegenüber
den späteren Versionen hervorgehoben,
zumindest was die Verständlichkeit des Gedankengebäudes
und – daraus entwickelt –
die Grundzüge der Gesamtarchitektur betrifft.
Selbstverständlich sind die Urfassungen in jeder
Hinsicht radikaler – was Dynamik, welche
unmittelbarer und weniger vorbereitet eintritt,
Tempi und Tempo-Relationen und die Ausführlichkeit
der Übergänge angeht – allein 21 Zäsuren
trennen die Perioden in der Erstfassung
des Finales; in der letzten Fassung bleiben
noch ganze 3(!) über. Dazu zählen auch die Zitate
und Selbstzitate. Vor allem die Anklänge
an Wagner-Themen haben, wie in mehreren
Untersuchungen klar gezeigt wurde, durchaus
auch Gliederungscharakter. Das Eliminieren
dieser Zäsuren verändert die Übergänge
und damit den Zusammenhang zweifellos.
Für die Orchestermusiker, wir haben es
schon angedeutet, bilden diese früheren Fassungen
rein spieltechnisch teilweise erheblich
größere Schwierigkeiten als die späteren Versionen.
Das liegt auch daran, dass der Komponist
zu diesem Zeitpunkt keine Rücksicht auf
leichtere Spielbarkeit, leichtere Durchhörbarkeit
oder Verständlichkeit nahm. Das Partiturbild
der Frühfassungen ist tatsächlich deutlich
komplexer und mag durchaus auch noch den
brillanten Organisten Bruckner widerspiegeln.
Diese Zäsuren, die noch deutlich vom Gefühl
herrühren, wenn die Neuregistrierung der Orgel
eine Zäsur notwendig machte, wurde von
Bruckner unmittelbar in sein musikalisches
Empfinden der früheren Werke übernommen.
Späterhin – auch schon in der Erstfassung der
unmittelbar folgenden IV. Symphonie – werden
die einzelnen Gruppen des Orchesters
kompositorisch enger miteinander verwoben.
Selbstverständlich hat Bruckner in Laufe der
Umarbeitungen weiter unmittelbar am motivischen
Material gearbeitet, was in einigen Fällen
durchaus auch als Verdichtung verstanden
werden kann. Wie auch immer – was hier
ein Vor- oder Nachteil ist, braucht man nicht
zu entscheiden – die Fassungen existieren
heute friedlich nebeneinander. Aber ohne Frage
hört man in dieser ersten Version das, was
Bruckner zur Zeit der Entstehung unmittelbar
am Herzen lag. Die Form ist hier – und zwar
nur hier! – wie der Gesamtplan der Architektur,
die ursprüngliche Phrasierung vieler Teile
und letztlich wie das unverfälschte geistige
und musikalische Gebäude vollständig erhalten.
Deshalb hat sich gerade bei der III. Symphonie
in den letzten Jahren diese Fassung
bei einer neuen Generation von Interpreten
weitgehend durchgesetzt, und man muss
heute kein großer Prophet mehr sein, um vorauszusehen,
dass in der allernächsten Zeit die
Erstfassungen der Bruckner-Symphonien sich
zumindest gleichberechtigt neben den späteren
Fassungen auf dem Konzertpodium, aber
auch auf Tonträger behaupten werden.
Der vorliegende Live-Mitschnitt einer Aufführung
der Philharmoniker Hamburg unter
der Leitung ihrer Chefdirigentin Simone Young
aus der Musikhalle in Hamburg soll dazu ein
weiterer Beitrag sein.
Michael Lewin
Dieser Aufsatz verdankt insbesondere folgenden Publikationen
wertvolle Hinweise und Erkenntnisse:
Constantin Floros: Anton Bruckner, Hamburg 2004
Egon Voss: Bruckners Schmerzenskind. In: Die Symphonien
Bruckners, München 1998
Manfred Wagner: Mehrere Arbeiten, die der Autor
dankenswerterweise im Manuskript zur Verfügung
gestellt hat und die verschiedentlich veröffentlicht
waren; insbesondere: Der Wandel des
Konzepts; daraus: Bruckners Dritte Symphonie
in d-Moll in den Fassungen von 1873, 1878 und
1889
Leopold Nowak: Vorwort zur Partitur der III. Symphonie
d-Moll, Wien 1977
Anton Bruckner Gesamtausgabe: III. Symphonie d-
Moll. Revisionsbericht von Thomas Röder, Wien
1997
Hrn. Dr. Wilhelm Sinkovicz sei für wertvolle Korrekturen
gedankt.
Die Philharmoniker Hamburg
Seit über 175 Jahren prägen die Philharmoniker
Hamburg den Klang der Hansestadt.
Gegründet am 9. November 1828, wurde
die „Philharmonische Gesellschaft“ schnell
zu einem Treffpunkt bedeutender Künstler wie
Clara Schumann, Franz Liszt und Johannes
Brahms. Große Dirigenten standen am Pult
des Orchesters: 1905 leitete Gustav Mahler
hier die Hamburger Erstaufführung seiner
Fünften Sinfonie, ihm folgten unter anderem
Sergej Prokofjew, Igor Strawinsky und Otto
Klemperer. Karl Muck, Eugen Jochum, Joseph
Keilberth, Wolfgang Sawallisch, Horst Stein,
Aldo Ceccato, Gerd Albrecht, Ingo Metzmacher
u.a. prägten als Chefdirigenten Programm
und Klang, Gastdirigenten wie Karl
Böhm brillierten am Pult. Seit August 2005 hat
die australische Dirigentin Simone Young als
Hamburgische Generalmusikdirektorin die
künstlerische Leitung des traditionsreichen
Orchesters inne.
Heute geben die Philharmoniker Hamburg
mit großem Erfolg 30 Konzerte und Kammerkonzerte
pro Saison in der Laeiszhalle, aber
auch an anderen Orten wie beispielsweise
in der St. Michaelis-Kirche. Neben zehn philharmonischen
Abonnementskonzerten stehen
vier Sonderkonzerte, darunter das überaus
erfolgreiche Silvesterkonzert „Salut!“ und die
„Summertime“, sowie zahlreiche Kammerkonzerte
auf dem Programm. Darüber hinaus
spielen die Philharmoniker Hamburg fast alle
Opern- und Ballettvorstellungen in der Hamburgischen
Staatsoper.
Die stilistische Bandbreite der 130 fest
angestellten Musiker sucht in Deutschland ihresgleichen.
Generalmusikdirektorin Simone
Young verbindet das Konzertprogramm inhaltlich
mit dem Spielplan der Oper – „rote Fäden“,
die eine spannende und vielfältige Konzertsaison
versprechen: „Unser Programm umfasst
Geschichte und Zukunft – Musik von Mozart
bis hin zu zeitgenössischen Werken“. Zu hören
gibt es neben Orchesterstücken moderner
Komponisten wie Peter Eötvös, Brett Dean
und Friedrich Cerha, auch große Werke des
klassisch-romantischen Repertoires. International
gefragte Dirigenten sind ebenso bei den
Philharmonikern zu Gast wie herausragende
Solisten.