Der Name Ludwig Thuille begegnet uns heute vor allem als Briefpartner und Freund von Richard Strauss sowie als Autor der zusammen mit Rudolf Louis herausgegebenen „Harmonielehre“. Am 05. Februar 2007 wurde der hundertste Todestag von Ludwig Thuille begangen. In Bozen geboren, studierte
Thuille zunächst in Innsbruck und dann an der Königlichen Musikschule in München, wo er nach Abschluss seines Studiums als Kompositions-Dozent eingestellt wurde. Als Nachfolger auf die Professur von Joseph Gabriel Rheinberger prägte er eine ganze Generation von in München ausgebildeten Komponisten.
Sein OEuvre umfasst fünf Bühnenwerke, eine Sinfonie, ein Klavierkonzert, Chöre, Lieder und Kammermusik. In seinen Vertonungen von Liedtexten wird die Jugenstil-Ästhetik deutlich spürbar in der Suche nach Naturhaftem, Volkstümlichem bei gleichzeitiger harmonischer Komplexität. In ihrer feinnervigen,
vielschichtigen Klangbildung ist Thuilles Liedkomposition eine faszinierende,
unverwechselbare Farbe zueigen.
Fünf Lieder für eine hohe Singstimme mit Begleitung des Pianoforte, op. 4 (1886)
Fünf Lieder für eine hohe Singstimme mit Begleitung des Pianoforte, op. 19 (1901)
Drei Lieder nach Gedichten von Clemens Brentano op. 24 (1902)
Drei Lieder für drei Frauenstimmen solo nach Gedichten von Joseph von Eichendorff (1904)
Drei Mädchenlieder nach Gedichten von Wilhelm Hertz, op. 36
Rebecca Broberg, soprano ·
Frank Strobel, piano
Ksenija Lukic, soprano ·
Heike Kohler, alto
Thuilles Lieder – ein Erfahrungs-bericht als Einführung
von Rebecca Broberg
Ludwig Thuille gilt als der Jugendstil-Komponist
schlechthin. Im Liedschaffen um die vorige Jahrhundertwende findet man die nost-algische Neigung zum Volkstümlichen, vielleicht
teilweise als Protest gegen den Erwerbsrausch
und die Wunder der Technik, wie auch als Zeichen deutschen Nationalitätsgefühls. Diese Neigung betrifft die Wahl des Gedichtes (Natur, Märchen, einfache Landsleute), Melodiensatz
(liedhaft und deklamatorisch) und die Form (strophisch). Aber in der Vereinfachung wie in der Abstrahierung haben manche Komponisten,
gierig als Genius zu gelten oder weil sie unfähig waren, nicht immer den Gesang als exaltierten Ausdruck der Psyche behandelt.
Ludwig Thuille hingegen scheint aus der inneren Seele heraus geschaffen zu haben. Er hat das Gedicht mit Seele und Geist durch die Darstellung verschiedener Emotionen lebendig gemacht und erzählerisch angereichert.
Jedes Thuille-Lied, das ich gesungen habe, ist für mich ein dramma in musica, weit mehr als ein Lied plus Begleitung. Neue Welten werden geschaffen; das Gedicht wird zu einer Einheit von den zwei autonomen, ineinander
zerschmelzenden Dimensionen der menschlichen Stimme und des Klaviers. In gleicher Weise bewundernswert erscheinen uns die Anima des Liedes, das transformierte, dramatisch überhöhte Gedicht, und das souveräne
Können des Komponisten, welches dies ermöglicht. Gleichermaßen wunderbar und selten: Der Komponist zwingt den Zuhörer nicht, seine übermenschliche Bedeutung aufgrund
ausgefallener Kompositionsprozeduren anzuerkennen, sondern vermag mit seiner breiten Palette von Kompositionstechniken die überzeitliche Gültigkeit von Inhalt und Leidenschaften
des Textes agogisch darzustellen.
Dabei besitzt jede der hier eingespielten Opusnummern – Opus 4, 19, 24, 31 und 36 – einen
ganz besonderen, eigenen Charakter.
Opus 4 ist wie ein Zyklus, mit fließenden Bildern
und Farben wie im Film. Die Lieder erzählen
die Geschichte einer Liebe, die vorbei ist und deren Apotheose in den Tod des Liebeskranken
führt.
Otto Gensichens Gruß wirkt übersinnlich durch die großen Bögen. Weil die erste Phrase nur vier Takte beträgt, überwältigt uns der ekstatische
Rausch der folgenden drei Phrasen, die – im Gedenken an den Geliebten – in einen zwölftaktigen Bogen verschmelzen. Bei den Worten „Und ein himmlisches Singen…“ hört man im Klavier die Akkorde von himmlischen Harfen; sie suggerieren eine Leiter zum Himmel, auf der Engel herabsteigen. Die Liebe ist noch jung und frisch, selig allein und voller Hoffnung.
Hermann Linggs Die Verlassene konfrontiert
den Hörer dann abrupt mit der harten Realität. Der Geliebte ist nicht gekommen. Am Anfang wirkt das Klavier wie die stichelnden Nadeln von Angst und Ungeduld, von zitterndem
Kummer. „Niemand wacht und öffnet dir“ ist ein Ausruf in die stille Einsamkeit: nach sechzehn Takten gibt es eine Pause im Klavier, und die Stimme steht allein. Danach wird es frenetisch, aber auch leicht hysterisch:
perpetuierende Sechzehntel im Klavier und sogar ein schreckhafter Taktwechsel bei „eine and’re wirst du küssen“, dann ein Tonartwechsel in Resignation bei „wenn ich bleich und kalt“. Mit der Vorahnung der Hoffnungslosigkeit
wehen die Maienlüfte bei der letzten Bitte „komme bald!“ – bald wird es keine Maienlüfte mehr geben.
Einer banalen Fanfare des Glückes im Dreivierteltakt
intendiert Wilhelm Osterwalds Im Mai. Sehr kurzatmig und fast manisch sind hier die Phrasen: eine Mischung von physischer und psychischer Krankheit. Die schwindsüchtige
Verlassene hat vom Frühling ein Lebenszeichen
des Geliebten wie eine Dosis Morphium bekommen. Sie verbraucht sich im Refrain, in dessen Langatmigkeit und Umfang.
Hermann von Gilms Allerseelen erdet uns wieder im Viervierteltakt trauernder Einsamkeit.
Laub und feuchte Erde des Herbsttages werden spürbar. Vorhalte (Takt 2, 3, 6, 7, 21, 23, etc.), wie Seufzer. Nach Takt 26, „Komm an mein Herz“, dem großen Höhepunkt, wirkt der Seufzer besonders stark im Takt 28 bei „(ich dich wieder) habe“. Hier gibt es auch einen sehr ausgedehnten Vorhalt zum Dominanten von d-Moll. Takt 27 bewegt sich schwermütig und weinend im Zweivierteltakt. Durch einen Sprung in der Stimme wird der Vorhalt bei „habe“ enger und sehr innig. Richard Strauss’ Vertonung dieser Phrase ist ähnlich, aber enthält
nicht dieselbe Öde der Einsamkeit.
Robert Hamerlings Ganymed erinnert mich an die Farben von Maxfield Parrish und N.C. Wyeth, an pastell beleuchtete Berge und
Himmel-Landschaften. Ganymeds Sehnsucht zu schweben, wie ein Gott, ist eine Metapher für die Sehnsucht des Dichters nach Liebe, die Erlösung durch Orgasmus und/oder Tod. Der kreisende Aar ist der befreiende Tod, der Ganymed vom unseligen Leben erlöst und zum Göttersaal der ewig Liebenden emporhebt.
Die fünf Lieder Opus 19 spiegeln mehrere Facetten
der Emotionen. Nummer 1 und Nummer 5, die Wünsche eines Mädchens nach körperlicher
Liebe und der Schilderung eines Geliebten,
umrahmen die Gesänge Sommermittag, Des Narren Regenlied und Frau Nachtigall. Diese drei verzaubern durch Atmosphäre und Gefühlsaufwallung: Sommermittag ist gleichzeitig
die Schwüle eines sonnigen Mittags im August und geile Lust. Mit Des Narren Regenlied
beginnt Bierbaums Fabelspiel „Die vernarrte
Prinzeß“ (als Oper komplett vertont von Richard von Chelius und Oskar Fried, sowie fragmentarisch von Rudi Stephan) und evoziert
die trostlose Feuchte von grauem Nebel und peinigendem Weltschmerz.
Frau Nachtigall hingegen weckt die belebende
Frische des Frühlingswaldes und selige Verliebtheit.
Mit Joseph von Eichendorffs Die Kleine offenbart der Komponist körperliche Gelüste
eines Mädchens. Der große Umfang der ersten Phrase reflektiert den Umfang ihres Sehnens und Frustration. Mit der spielerischen
und liedhaften Weise „auf drei Rösslein blank“ veranschaulicht der Tonsatz, dass sie noch kindisch ist. Die Kleine weint, „Ihr könnt fröhlich sein“, und schwelgt in eifersüchtigen Träumereien: „Wird es draußen still…“ Dann wirft sie sich ins Bettchen und ist wieder Kind: „Nirgends hab’ ich was!“ Das führt wieder in die umfangreiche erste Phrase mit dem Sehnsucht,
endlich eine Frau zu sein, die küssen darf, so viel sie will.
In Theodor Storms Sommermittag betreibt der Klaviersatz Klangmalerei mit verschlafen summenden Bienen und einem schnarchenden
Müller. Die sehnende Kleine hingegen wird zur heimlichen Verführerin. Die vom Gesangsinterpreten
beschriebene Szenerie ermöglicht
die Steigerung der Spannung bis zum Höhepunkt mit dem Einsatz der Tochter: „Nun küsse mich, verliebter Junge, doch sauber, nicht zu laut!“ Lang gehalten wird der hohe Ton, und das Intervall der Oktave zeigt, wie toll dieser Kuss ist. Die Musik verlängert das vom Dichter geschilderte Bild: in den letzten zwei Takten sinken die Liebenden zu Boden.
Die Öde von Otto Julius Bierbaums Des Narren Regenlied fängt norddeutsches Winterwetter
ein. Chromatisch und beunruhigend, ohne Rast, gefangen im grauen Niemandsland,
zeichnet es der Komponist. Die Prinzessin
identifiziert sich mit der wehvollen Melodie des leidenden Herzens. Hier vermögen Dissonanzen
und Chromatik wirklich zu schmerzen.
Der Schlag der Frau Nachtigall (aus „Des Knaben Wunderhorn“) vermag die Emotionen wieder nach oben schwingen zu lassen. Natur
und die Nachtigall sind stets im Klavier zu hören. Auffällig viele Sprünge in der Gesangslinie
zeigen die Erregtheit des lyrischen Ich. Wunderbarerweise beantwortet die Nachtigall
die gesungene Frage „wo ist gut wohnen? Der Nachtigallenschlag der Phantasien lässt die Singstimme in Ekstase schweben.
Spinnerlied (aus „Des Knaben Wunderhorn“)
führt zurück in die einfache Welt jenes neckischen Persönchens, das als Die Kleine vor uns hingetreten war, und das uns nun im Gespräch mit der Mutter wieder begegnet. Die Mutter versucht vergeblich, die kapriziöse Tochter mit dem Versprechen von Schuhen und Strümpfen zur Arbeit zu locken. Aber die Kleine verweigert die Arbeit, bis ihr ihre Mutter
einen Mann verspricht. Die Komposition genießt die Schlichtheit und Komik dieser Situation.
Die Lieder von Opus 24 (Clemens Brentano) – und auch von Opus 36 (Wilhelm Hertz) – sind viel dunkler als die vorherigen. Die Texte sind düster, sie porträtieren Verlassenheit und Todeswünsche.
In Wenn die Sonne weggegangen
sinkt die Stimme in die Tiefe der Brust bei „Dunkelheit“, „Mohrenkind“ und „dunkel und verloren sind“. Leer klingen die Akkorde am Anfang, bis die linke Hand des Pianisten beim „Abendrot“ in die Stimmung mit einsteigt. Die Form gemahnt an ein strophisches Lied, aber ist doch komplizierter. Bei der dritten Strophe erfährt der Hörer, wozu die Dunkelheit da ist. Was sie verbirgt, enthüllen der Mond und Sterne:
„meines Herzens stille Glut“. Hier stoßen wir auf die große Leidenschaft, „deutschen Puccini“ (Gatti-Casazza); hier wäre dem Interpreten
eine eiserne Lunge anzuempfehlen. Der Text von Thuille ist so genial agogisch vertont, dass Takt- und Tonartwechsel nicht als avantgardistische
Kompositionstechniken auffallen.
Der Spinnerin Lied von Thuille schildert im Klavier das Spinnrad, vielleicht lebensgetreuer
als in Schuberts Gretchen am Spinnrade, aber auch wieder den süßen Schall der Nachtigall.
Die Spinnerin hört auf zu spinnen beim Ausruf „Gott wolle uns vereinen!“, aber sie setzt das Spinnen ihres Schicksalsfadens fort, perpetuierend resignierend im Surrogat des Weinens, dem Singen.
Thuilles Ich wollt’ ein Sträußlein binden erzeugt
den Affekt des Gedichtes treffender als in Strauss’ Vertonung. Es geht nicht um einen zuckersüßen Rokoko-Kranz, sondern um die Erkenntnis:
„Im Lieben wohnt Betrüben“ und um fatale Resignation. Auch die Komposition dieses
Liedes wählt eine freie strophische Form, ohne dabei dem Text an irgendeiner Stelle nicht voll zu entsprechen. In die Tiefe der Brust senkt sich die Stimme bei den Passagen „kam die dunkle Nacht“, „in dem dunklen Klee“ und „Garten ganz allein“. Schrittweise rinnt die Melodik
im Tränenfluss: „da flossen von den Wangen
Thränen in den Klee“ und bei „Mein Schatz ist ausgeblieben, ich bin so ganz allein“. Leere, einsame und fatale Öde verbreitet das a-Moll der letzten Takte.
Die saftigen Harmonien und die schwebende Melodik von Thuilles drei Terzetten Op. 31 Der Schalk, Waldeinsamkeit und Elfen scheinen hingegen geradezu den Stil früher Hollywood-Filme vorwegzunehmen, mit viel Glamour und Showgirls in Silber und Weiß, aber auch mit einer vokalen Stilistik, auf die wir in Liednummern
der Andrew Sisters treffen, mit extrem enger Stimmführung, die exakter Ensemblearbeit
bedarf. Thuilles mit Dissonanzen gewürzte
Tonsprache stellt so extrem hohe Anforderungen an die Ausführenden, dass er sicherheitshalber sowohl die Möglichkeit
der chorischen wie die der solistischen Ausführung dieser Terzette vorgesehen hat. Jedes der drei Terzette auf Gedichte Joseph von Eichendorffs beginnt mit dynamisch treibenden
Ostinato-Figuren, mit starker Betonung
des Sekund-Intervalls. Der Klaviersatz zeigt immanent rhythmische Präsenz. In Der Schalk bewegen sich die Stimmen wiederholt
homorhythmisch über einer dynamischen Klangtapete der Begleitung. Während der Text in den Gesangslinien durch besondere Harmonien oder Intervalle ausgedeutet wird, gestaltet die Figuration des Klaviers Charakter
und Aktionen. So schon im ersten Takt, wo die linke Hand gegen ein Ostinato in der rechten spielerisch und schwungvoll über die Tasten springt. Bei „hebt ein Knabe froh erschrocken“ reckt sich in der linken Hand eine aufsteigende Figur. Bei „Und nun wehen Lerchenlieder…“ vermittelt der Klaviersatz poco più mosso das Gefühl des Schwebezustandes.
Mit elektrischer Dissonanz „schlägt die Nachtigall“ , damit der Hörer diese Schläge
geradezu mitvollziehen muss. Auch der rauschende, kühle Wasserfall perlt in der Begleitung hinab. „Frühling, Frühling ist es wieder…“ bringt einen ersten Höhepunkt. Die Strophe endet mit einer Kadenz auf dem Dominantseptakkord.
Dann beginnt das Klavier zunächst erneut allein, mit vier Sechzehnteln gegen Achtel-Triolen. Bei „Und den Knaben hört man schwirren“ erhält die Altstimme den Vorzug der Erzählfunktion, die anderen beiden bilden geradezu ein schwirrendes Echo, bis sie bei „Suchen, fliehen, schmachtend irren“ einzeln auf Suche gehen. Auch hier trifft man in Harmonik und Intervallbildung auf Wortmalerei.
Die Spannung steigt bis zur Textstelle „O beglücktes Labyrinth“ zum ultimativen Fortissimo-Höhepunkt an, wieder mit ekstatischer
Dissonanz und großer Spannung in der Sekund-Dominante: Ober- und Mittelstimmen bilden einen Tritonus (a und des, mit h im Alt). Gleich darauf führt ein Diminuendo zurück ins Piano und kehrt sanft in die Tonika zurück.
Waldeinsamkeit beginnt mit einer einprägsamen
kleinen Sekunde als Teil des Ostinatos in der rechten Hand der Klavierbegleitung. Diese Kompositionstechnik malt die unheimliche
und verzauberte Atmosphäre. Am Anfang
wird der stille Wald mit engen Triolen beschrieben. Bei „durch den stillen Wald die Quellen gehn“ fließen die Sechzehntelfiguren. Mit „die Mutter Gottes wacht“ erweitert sich die Harmonie zu sanftem Staunen. Das ganze Lied hindurch, mit Ausnahme der letzten zwei Takte, treffen wir auf hypnotisierende Triolen in der rechten Hand, die uns bis in die „Gute Nacht!“ begleiten.
Auch für die Vertonung von Elfen wählt der Komponisten einen Rhythmus mit geradezu hypnotisierender Wirkung. Die Wiederholung der Bitte „Bleib bei uns!“ in den einzelnen Stimmen intensiviert das Drängen und die Verzauberung
und schafft eine szenische Transformation
des Gedichtes. In der Pracht ihres Vorhabens schwelgend, schildern die Elfen, wie sie den Tanzplan im Tal mit harmonisch-
himmlischen Mondesglanz bedeckt haben. Dem folgt wieder ihre einzeln vorgetragene, dringliche Bitte „Bleib bei uns!“. Nochmals schwärmen sie von dem mit Mondesglanz bedeckten
Tal und dessen Zauber im Zweivierteltakt
und suggerieren dem ins Geschehen gebannten Zuhörer das Versprechen, dort „die Schönste“ zu finden. Wie aus dem Elfen-Traum aufwachend, hört dieser am Ende des Liedes, wie aus der Ferne, wieder den Ruf der drei Elfen mit ihrer jeweils einzeln, dringend an ihn gerichteten Bitte: „Bleib bei uns!“
Gleichermaßen raffiniert und reif in der Tonsprache,
zugleich von ernster Tiefe erfüllt, wirkt Opus 36 auf mich wie eine Vorahnung des Komponisten auf seinen – tatsächlich bald darauf erfolgten – Tod; möglicherweise
hatte aber auch das Nervenleiden seiner Frau Einfluss auf die Wahl dieses Textes, der an Morbidität kaum zu übertreffen ist. Das zentrale Brentano-Lied Letzter Wunsch wird umrahmt von Brentanos Texten Mein Engel hüte dein und Komm, süßer Schlaf. Unerwiderte
Liebe verursacht Lust nach dem Freitod. Der Wunsch, alles mit ins Grab zu nehmen, ist das verbindende Thema dieser drei Lieder. In Mein Engel hüte dein versucht das dichterische
Ego den geliebten Knaben mit sanfter, selbstloser Milde zu manipulieren, doch bei ihr zu bleiben. Der Wunsch „Fahr hin in Frieden!“
umreißt den Gedankengang, er möge zwar gehen, aber als ihr Glück bringe sein Weggang ihr Sterben. Es heißt eigentlich: Bitte nicht gehen! Die Idee, ihr Bild solle mit ihm gehen, erweist sich als eine verzweifelte Drohung, dass ihr Geist ihm folgen werde, falls er sie verlässt.
Und er verlässt sie: „Mein Schatz will Hochzeit halten; ich liege auf den Tod!“ fährt sie in Letzter Wunsch fort. Hier schafft der Komponist einen extremen Kontrast zwischen dem dramatischen Ausbruch bei der Erkenntnis
der Wahrheit und der hoffnungslosen Resignation,
als sie ihre Wünsche zum Kränzlein binden möchte. Eines der zwei Sträußlein wird der Geliebte erhalten, das andere trägt sie mit ins Grab. Dies werden ihre letzten Gaben sein. Danach wird das Lied geisterhaft parlando alla recitativo; sie bedroht ihn, als Geist wiederzukehren
und ihm zu folgen. Tonlos kündigt dies die Singende an. Die Melodie des ersten Taktes wird am Ende mehrfach eingesetzt und erhält dabei einen bösen, spukenden Aspekt.
Bei Komm, süßer Schlaf erfahren wir, dass diese Liebende doch nicht gestorben ist und immer noch leidet. Ihrer Obsession ist sie offenbar
lebend nahe geblieben. Sie träumt, wie es einst hätte sein können – „Einst stilltest du nach Kuss und Scherz“ – und die Musik ist eine schwelgerische Rhapsodie. Nüchtern wacht sie auf: „Nun ist er längst zu Grab gebracht
und Lieb’ und Glück dazu“. Nochmals, wie eine Beschwörung, wiederholt sie Komm, süßer Schlaf.
Mit seinem großen und einfühlsamen Wissen um die Menschen und ihre Gefühlswelten, gepaart mit technischem Können, erlaubt Ludwig Thuille
der Sängerin und ihrem Begleiter, plastische Geschichten zu erzählen, und dem Zuhörer, diese
geradezu bildhaft mitzuerleben. Dabei dient Thuilles Musik stets dem Wortlaut des Gedichts, die er zu einem dramatischen Kosmos verdichtet.
Er vereint Lyrik und Stimme mit Herz und Seele zu einem Kunstwerk voll ungebrochener Aktualität. Die Beschäftigung mit Ludwig Thuilles
Vokalkompositionen ist für die Aufführenden in technischer, musikalischer und interpretatorischer
Hinsicht eine lohnende Herausforderung – und so auch für den mitfühlenden Zuhörer.
Ludwig Thuille (1861–1907)
Den Namen des Komponisten Ludwig Thuille kennt man heute primär als Briefpartner
von Richard Strauss, infolge des in zwei Ausgaben vorliegenden Briefwechsels der befreundeten Komponisten und als Autor der weiterhin gebräuchlichen, gemeinsam mit Rudolf Louis herausgegebenen „Harmonielehre“.
Ludwig Wilhelm Andreas Maria Thuille wurde am 30. November 1861 in Bozen geboren.
Ersten Musikunterricht erhielt er in Kremsmünster. Mit sechs Jahren Vollwaise, wurde er als Fünfzehnjähriger von der Komponistenwitwe
Pauline Nagiller nach Innsbruck geholt, wo er von 1877 bis 1879 bei Joseph Pembaur (dem Älteren) studierte. In Innsbruck lernte er auch den jungen Richard Strauss kennen. Thuille setzte sein Studium fort bei Joseph Rheinberger und bei dem Pianisten Karl Bärmann an der Königlichen Musikschule in München, die ihn 1883, gleich nach dem Abschluss
seines Studiums, als Lehrer und 1888 als Professor für Klavier und Harmonielehre einstellte. 1903 übernahm Thuille als Nachfolger
Rheinbergers die Professur für Komposition
und wurde so zum Vater der „Münchner
Schule“. Zu Thuilles Schülern gehörten unter anderem Walter Courvoisier, Richard Wetz, Julius Weismann, Ernest Bloch, Walter Braunfels, August Reuß, Franz Mikorey, Joseph
Pembaur der Jüngere, Clemens von Franckenstein,
Fritz Cortolezis, Edgar Istel, Hermann
Wolfgang von Waltershausen, Hermann Abendroth, Paul von Klenau, Rudolf Ficker, Rudi Stephan und Joseph Suder. Neben einer Sinfonie F-Dur, einem Klavierkonzert, Chören, Liedern und Kammermusik hat Ludwig Thuille
fünf Bühnenwerke komponiert: die Opern Theuerdank (1897), Lobetanz (1898), Gugeline (1901), Der Heiligenschein (unvollendet, postume
konzertante Uraufführung des 1. Aktes 1910) und das Melodram Die Tanzhexe (1901). Die Libretti zur zweiten und dritten Oper Thuilles
sowie zum Tanz-Melodram stammen von dem Dramatiker, Romancier und Jugendstil-Lyriker Otto Julius Bierbaum (1865–1910), der auch am Libretto zu Der Heiligenschein mitgearbeitet
hat. Die Opern des „deutschen Puccini“,
wie der Impresario Gatti-Casazza den in München wirkenden Professor für Tonkunst, Ludwig Thuille, genannt hat, verschwanden nach dem ersten Weltkrieg langsam von den Bühnen der Opernhäuser, obgleich Lobetanz auch in Zürich, Wien, Straßburg, an der Zoppoter
Waldoper, an der Metropolitan Opera in New York, in Philadelphia und in Riga mit großem
Erfolg gespielt wurde.
Ludwig Thuille starb am 5. Februar 1907 in München.
Peter P. Pachl
Die Ausführenden
Rebecca Broberg wurde in Philadelphia geboren. Nach einem Gesangstudium am Peabody Institute in Baltimore, Maryland und an der Universität von Pennsylvania folgten sowohl in den USA als auch in Europa zahlreiche

Gastspiele und Konzerte. Sie erhielt den Annie Wentz Prize am Peabody Institute und das Oberlin Baroque Performance Institute
Stipendium 2002. Rebecca Broberg deckt ein breites Repertoirespektrum ab. Neben zahlreichen Liederabenden in den USA und in Deutschland faszinierte sie mit intensiver Darstellung auf der Bühne, etwa in der Uraufführung
von Father, have you cursed me? (The Siegfried Wagner Story) in Philadelphia. Nach Partien in Barockopern wandte sie sich dem deutschen dramatischen Fach zu, mit Leonore, Elisabeth und Senta. Zu den selten verkörperten
Partien ihres Fachs, die sie auf der Bühne gesungen hat, zählen Megildis (Das Mirakel), Klara (Heaven Ablaze In His Breast) und Miss Donnithorne (Miss Donnithorne‘s Maggot). In WDR und DeutschlandRadio Kultur war sie in der Übertragung des Heidenkönig von Siegfried
Wagner als Gelwa zu erleben, ebensoin DeutschlandRadio und im BR mit der weiblichen
Hauptpartie in Siegfried Wagners Der Kobold, die bei Marco Polo auch auf CD und DVD erscheinen wird. Die internationalen Medien
loben die vokale und körperliche Intensität
ihrer Darstellung und die Bandbreite ihres Ausdrucks. Rebecca Broberg lebt heute in Nürnberg und ist Dozentin für Gesang an der Universität Bayreuth.
Ksenija Lukic wurde in Kragujevac in Jugoslawien
geboren. Sie studierte Gesang an der Musikhochschule in Belgrad und erwarb gleichzeitig ein Diplom für italienische Sprache
und Literatur an der dortigen Universität. Im lyrischen und Koloraturfach sang Ksenija Lukic über 50 Rollen (Susanna, Musette, Saffi,
Adina, Rosalinde, Anna-Elisa u.a.) an verschiedenen
Theatern in Deutschland und im Ausland. Sie war Solistin bei einer Vielzahl von Festivals und Konzerten und hat bei zahlreichen
CD-Einspielungen mitgewirkt.
Heike Kohler begann ihre Gesangsausbildung
an der Hochschule für Theater und Musik in München bei Maria de Francesca-Cavazza. Anschließend studierte sie an der Hochschule für Musik Nürnberg-Augsburg bei Arno Leicht. Dort sammelte sie erste Opernerfahrungen
in der Rolle der Gräfin Eberbach (Der Wildschütz); 2006 verkörperte sie in Siegfried
Wagners Der Kobold die Käthe. Seitdem befasst sie sich überwiegend mit dramatischen
Frauenpartien (Ariadne, Santuzza, Eboli,
Kundry, Sieglinde, Fricka).
Frank Strobel ist ein Künstler, der sich bewusst zur Auseinandersetzung mit übergreifenden
Genres und Stilarten der Musik bekennt. Das 1966 in München geborene pianistische Wunderkind pflegt heute als Dirigent
neben dem klassisch-romantischen Repertoire

und der Musik des 20. Jahrhunderts auch das weite Feld von „Musik und Film“. Er leitete Uraufführungen von Werken der Komponisten
Franz Schreker, Alexander Zemlinsky und Siegfried Wagner sowie eine Reihe von Erst- und Uraufführungen jüngerer Werke des Musiktheaters. Neben seiner Konzert- und Operntätigkeit ist Frank Strobel als Filmdirigent
bekannt geworden und zeichnet für die Konzeption und künstlerische Beratung von „Musik und Film“-Festivals verantwortlich. Bis 1998 war er Chefdirigent des Deutschen
Filmorchester Babelsberg. Seit dem Jahr 2000 ist Frank Strobel Künstlerischer Leiter der von ihm mitbegründeten „Europäischen FilmPhilharmonie“.
Mit einer Reihe von führenden europäischen Symphonieorchestern spielte er Musik für neue Kino- und Fernsehfilme aus Deutschland, Großbritannien und den USA ein, sowie natürlich auch Werke aus anderen Genres für Rundfunk und Schallplatte.
Die mitwirkenden Künstler sind Mitglieder des pianopianissimo-musiktheaters (www.pppmt.de), das im Jahre 1980 auf Anregung
des damaligen Münchner General-In-tendanten August Everding von Peter P. Pachl in München gegründet wurde. Bei biennalen Wagner-Spectacula im oberfränkischen Pegnitz
kamen Werke Richard Wagners zur Aufführung,
die großenteils überhaupt zum ersten Mal in Szene gesetzt wurden, und andernorts auch Uraufführungen von Franz Schreker und Alexander Zemlinsky sowie lebender Autoren, wie Herbert Rosendorfer und Bernd Schünemann.
Gastspiele führten das pianopianiossimo-
musiktheater u. a. an die Deutsche Oper Berlin, die Staatsoper Hamburg, das Opernhaus
Nürnberg, die Wiener Festwochen, den Carinthischen Sommer Ossiach, das Konzerthaus
Wien, das Schützenhaus Basel, das Theater
Oberhausen, das Philadelphia Arts and Fringe Festival, das Theater und Konzerthaus Solingen, das Stadttheater Fürth und in die Stadthalle Bayreuth. Zu sehen und zu hören war und ist das pianopianissimo-musiktheater auch in Rundfunk-, Fernseh- und CD-(Co-)Produktionen
mit dem Sender Freies Berlin, RIAS, dem Bayerischen Rundfunk, dem Österreichischen
Rundfunk, Südwestfunk, Westdeutschen
Rundfunk, DeutschlandRadio Kultur, Bayerischen Rundfunk – Studio Franken und auf Naxos CDs (Marco Polo).