Vertonungen durch die Jahrhunderte · Settings from different Centuries
Guillaume Dufay, Brian Elias, Wilhelm Keller, Leonhard Lechner, Joanne Metcalf, Ivan Moody, Dominique Phinot, John Plummer, Jean Richafort, Heinrich Schütz, Ludwig Senfl
Singer Pur
Nach ihrer ECHO-preisgekrönten CD mit Werken von Rihm, Sciarrino u.a. produzierte das Vokalsextett Singer Pur zwei CDs mit eher unterhaltendem Charakter für OehmsClassics. Mit ihrer vierten CD beim Münchner Label kehren sie nun zurück zur geistlichen Musik. Die vorliegende Anthologie von Vertonungen aus dem „Hohelied der Liebe“ (oder auch „Hohelied Salomos“) umspannt einen Zeitraum vom 16. bis ins 21. Jahrhundert. So vielfältig die Klanggestalten sind, die uns auf dieser Zeitreise begegnen, so überraschend sind doch auch immer wieder die musikalischen Anknüpfungspunkte und Parallelen bei den musikalischen Reflexionen zum großen, welt- und zeitumspannenden
Thema der immer gegenwärtigen Liebe.
Das Hohelied
Was für eine bemerkenswerte Liedsammlung
findet sich nach dem Buch Kohelet (Prediger) im Alten Testament der Bibel! Ihr hebräischer Name lautet Shir ha Shirim, was im Lateinischen mit Canticum Canticorum und auf Deutsch mit Lied der Lieder zu übersetzen ist. Im Deutschen hat sie die (auf Luther zurückgehende)
Bezeichnung Hohelied, auch Hohelied Salomos, weil die Sammlung verschiedentlich
Salomo zugeschrieben wurde, oder auch Das hohe Lied (oder Hohelied) der Liebe. Niedergeschrieben, vermutlich nach langer mündlicher Tradition, wurde sie wohl etwa im fünften Jahrhundert v. Chr.
Es beginnt: „Er küsse mich mit dem Kusse seines Mundes“, und es folgt eine bemerkenswerte
erotische Dichtung, in der abwechselnd die Geliebte, der Geliebte und eine Art Chor spricht. Hier ist nichts von „Lustfeindlichkeit“, die der christlichen Tradition oft vorgeworfen wird, zu spüren. Dementsprechend heiß umstritten
ist die Deutung dieses Buches immer gewesen, sowohl in jüdischen als auch in christlichen
Kreisen. (Männern unter 30 war es zwischenzeitlich
verboten, darin zu lesen.) Gemäß der allegorischen Auslegungsmethode wurde in Antike und Mittelalter von Juden und Christen die eindeutige Sprache des geschlechtlichen Begehrens zwischen Mann und Frau auf das Liebesverhältnis zwischen Gott und seinem auserwählten
Volk (im Judentum) bzw. der Kirche als Braut Christi (im Christentum) oder zwischen Gott und der Seele interpretiert. Im christlichen Mittelalter wurde dann auch Sulamith (so heißt die Geliebte) als Repräsentation von Maria angesehen.
Besonders in monastischen Kreisen und in der christlichen Mystik spielte das Hohelied
eine zentrale Rolle.
Heute teilen viele Theologen verschiedenster
Konfessionen die Auffassung Dietrich Bonhoeffers über das Hohelied: „Ich möchte es tatsächlich als irdisches Liebeslied lesen.“ Gegen die traditionellen religiösen Deutungen und gegen ein rein weltliches Verständnis formuliert
der jüdische Religionsphilosoph Franz Rosenzweig: „Nicht obwohl, sondern weil das Hohe Lied ein ,echtes‘, will sagen: ein ,weltliches‘
Liebeslied war, gerade darum war es ein echtes ,geistliches‘ Lied der Liebe Gottes zum Menschen. Der Mensch liebt, weil und wie Gott liebt. Seine menschliche Seele ist die von Gott erweckte und geliebte Seele.“ Am schönsten ist es vielleicht mit den Worten von Helmut Gollwitzer auszudrücken: „Wenn wir nicht mehr bestreiten, dass es sich hier um ein glühendes menschliches Liebesgespräch handelt, dann gerade darf es uns als etwas Herrliches erscheinen, dass eben solch heißbrünstige
Liebesgesänge als Gleichnis genommen
werden konnten für das Hin und Her der Liebe zwischen dem liebenden Gott und dem zur Gegenliebe erweckten Menschen. Das gibt ein Leuchten nach beiden Seiten hin: So schön, so frei, so wenig verworfen ist die Glut der sinnlichen Liebe, dass ihre flammende
Sprache der göttlichen Liebe die Sprache leihen kann. Und so blutvoll, so wenig entsinnlicht,
so leidenschaftlich und hinreißend kann Gottesgemeinschaft erfahren werden, dass sie in der blutvollsten menschlichen Sprache, in der Sprache der Liebesverzückung, die ihr gemäßeste Sprache zu finden weiß.“
Abseits aller Auslegungsvielfalt ist es uns am wichtigsten, dass diese herrlichen Texte mit ihrer blumigen Sprache und ihrem Bilderreichtum
Komponisten aller Zeiten, Regionen und Stile zu ihren schönsten und zärtlichsten
Kompositionen inspiriert haben. Dass die unumwundene „Feier der sinnlichen Liebe“ (Gollwitzer) mit ihren zärtlichen Dialogen nach musikalischem Ausdruck geradezu verlangt, kann niemanden, der diese Verse kennt und liebt, verwundern. Wir haben einige dieser Meisterwerke, darunter einige wunderbare neue, die für Singer Pur komponiert wurden, ausgewählt und erlauben uns, sie unseren verehrten HörerInnen als köstlichen Balsam für Ohr und Seele darzubieten.
rsw
Zu den frühen Hohelied-Motetten dieser Einspielung
Dass sich das Hohelied in den Kompositionen
des Mittelalters und der Renaissance einer derartigen Beliebtheit erfreute, dürfte nicht nur mit der bereits an anderer Stelle beschriebenen Allegorie (Braut – Bräutigam = Gott – Kirche bzw. Volk Israel) zu tun haben. Natürlich hat die subtile Erotik des Dialogs zwischen Braut und Bräutigam in erster Linie etwas zutiefst Menschliches, und man darf davon ausgehen, dass auch diese „weltliche“ Textebene schon damals auf die Komponisten anziehend wirkte.
Die ältesten Vertonungen der vorliegenden Einspielung sind die beiden dreistimmigen Motetten
von Guillaume Dufay (ca. 1398–1474) und John Plummer (ca. 1410–1484), beide vermutlich
in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts entstanden. Dufay, der wohl bedeutendste Musiker seiner Zeit, kam (wie viele seiner Kollegen)

aus dem franko-flämischen Raum und verbrachte lange Jahre in Italien. Als Grundlage
seiner Antiphon-Motette Anima mea liquefacta
est hat der Komponist die gleichnamige gregorianische Melodie verwendet, die in allen Stimmen imitatorisch anklingt. Sein englischer Zeitgenosse Plummer war nur wenige Jahre jünger als er. Der „liebliche“ englische Kompositionsstil,
der sich in einer Vielzahl von Terz- und Sextklängen und einem gewissen Hang zum Ornamentalen ausdrückt (ganz im Gegensatz
zu den angeblich eher nüchternen Werken der Kontinentalkomponisten jener Zeit), ist hier deutlich auszumachen.
Leidenschaft, Anmut und Schwärmerei prägen
nahezu alle Motetten unserer kleinen Auswahl. Dominique Phinot (ca. 1510–1555) und Jean Richafort (ca. 1480–1547) stammen ebenfalls aus dem franko-flämischen Raum. Beide lassen in ihren hier dokumentierten Stücken die sechsstimmige Polyphonie in weiten Melodiebögen strömen. Während Phinot überwiegend auf dichte Klangpracht setzt, hat sein Kollege Richafort immer wieder
einzelne Stimmpaare konstruiert, die sich nur gelegentlich zum Vollklang ergänzen, eine Technik, die sich auch in vielen Werken seines
Lehrers Josquin Desprez (ca. 1457–1521) beobachten lässt. Richaforts Motette endet mit einem prächtigen Alleluja-Jubel in einem beschwingten Dreiermetrum.
Der Schweizer Ludwig Sennfl (ca. 1486–1542) wirkte in der Hofkapelle Kaiser Maximilians. Er war dort Kollege von Heinrich Isaak und übernahm
nach dessen Tod die Leitung dieser berühmten
Sängerkapelle. Seine beachtliche Karriere
endete in München als Kapellmeister von Herzog Wilhelm IV. Sennfls Motette Tota pulchra es ist zweifellos eine der vollendetsten und schönsten Werke des Meisters. Als Sänger wie als Zuhörer wird man unweigerlich berauscht von der Klanglichkeit und Größe dieser Musik.
Wie Sennfl gilt auch Leonhard Lechner (1553–1606) in Kennerkreisen immer noch als Geheimtipp.
Der wohl wichtigste Schüler des großen Orlando di Lasso (1532–1594) hat, nachdem er zum Protestantismus konvertierte, am württembergischen
Hof in Stuttgart Karriere gemacht. Allein schon der ungewöhnliche Verlauf der Melodielinie zu Beginn der Motette Surge, propera
mea ist typisch für Lechners eigenwilligen und zugleich fortschrittlichen Kompositionsstil.
Aus den berühmten „Cantiones Sacrae“ von Heinrich Schütz (1585–1672) stammt die herrliche Vertonung von Ego dormio (et cor meum vigilat). Diese Sammlung mit vierzig lateinischen Motetten zu vier Stimmen, überwiegend
ohne Generalbass-Begleitung, mag bereits im Erscheinungsjahr 1625 als veraltet und nicht mehr zeitgemäß angesehen worden
sein. Trotzdem gibt es in der geistlichen Musik jener Zeit an Modernität und Expressivität
nichts Vergleichbares. Den Sängern wird hohe Virtuosität abverlangt, wenn es darum geht, das geniale Wort-Ton-Verhältnis und das musikalisch Bildhafte dieser Musik umzusetzen
– eine Meisterschaft, in der Heinrich Schütz unerreicht bleiben dürfte.
kw
Zu den zeitgenössischen Komponisten auf dieser CD
Ivan Moody, 1964 in London geboren, studierte
bei Brian Dennis und Sir John Tavener. Die Liturgie der orthodoxen Kirche hat starken Einfluss auf sein Schaffen. Ein großer Anteil seiner Komposition beschäftigt sich mit liturgischer
Thematik. Zu den neusten Editionen von internationalen Musiklexika lieferte er musikwissenschaftliche Beiträge. Für Singer Pur hat er bereits einige Werke komponiert. Auf unserer CD, die 2005 mit dem Echo Klassik ausgezeichnet wurde, ist sein Stück Lamentation
of the Virgin (1995) dokumentiert.
Er schreibt zu seinem Zyklus: „Canticum Canticorum II wurde 1994 vom Hilliard Ensemble
in Auftrag gegeben als Fortsetzung von Canticum Canticorum I, das ich zehn Jahre
früher geschrieben hatte, und das, glaube ich, öfter aufgeführt und aufgenommen wurde als jedes andere meiner Werke. Während der erste Zyklus auf Latein war, ist der zweite auf Englisch und verwendet eine Bogenstruktur, in der der erste Satz (der Prolog) im sechsten
(Schlusswort) und der zweite im vierten widergespiegelt wird. Eingestreut sind eine

Vertonung von I am black but comely (zweiter
Satz) mit absichtlich stilisierten östlichen Elementen und, im Gegensatz dazu, eine üppige
und erregte Version von Tell me, O thou whom my soul loveth. Diese verschiedenen Arten der Vertonungen reflektieren, hoffe ich, sowohl den Reichtum als auch das Geheimnisvolle
der Dichtung des Hohelieds.“ (Estoril, Februar 2007)
Brian Elias kam 1948 in Bombay zur Welt. Er studierte am Royal College of Music in London,
arbeitete aber zunächst einige Jahre in New York bei einem Finanzunternehmen. Danach kehrte er nach England zurück, um seine musikalische Karriere fortzusetzen. Die Entwicklung seines Personalstils kann vor allem anhand seiner großen Orchesterwerke nachvollzogen werden.
Er schreibt: „Eine der vielen faszinierenden
Aspekte des Hohelieds ist seine Doppeldeutigkeit:
sind es Worte eines Geliebten an seine Geliebte, oder der Seele an Gott? Diese gleiche Doppeldeutigkeit gibt es in Hymnen an Krishna (sogenannte Bhajans), die ich in Indien gehört habe. Diese Bhajans wurden von verschiedenen Bordun-Instrumenten begleitet, und dies hat meinen Entschluss beeinflusst, die Vokalstimme mit einer leisen gehaltenen reinen Quart zu begleiten. Dieses Intervall erklingt fast im ganzen Stück, und die Musik für die Stimme ist darum herum konstruiert. Der Bordun wird auf einer Symphonie,
einer Art Drehleier, die im Mittelalter viel benutzt wurde, gespielt. Song wurde 1986 für das „B‘nai B‘rith Music Festival“ in Auftrag gegeben. Es wurde Anfang 1986 komponiert und am 13. Juli 1986 von Andrea Baron in der Wigmore Hall uraufgeführt.“
Bei der vorliegenden Aufnahme wurde für den Bordun eine sogenannte Shruti-Box, ein durch eine Blasebalgvorrichtung betriebenes Bordun-Instrument, verwendet.
Joanne Metcalf wurde 1958 geboren. Sie promovierte in Komposition an der Duke University
und bekam als eine ihrer vielen Auszeichnungen
1993 eine Fulbright Fellowship zum Studium am Königlichen Konservatorium in Den Haag. Heute ist sie Professorin am Konservatorium der Lawrence University in Appleton, Wisconsin. Auch mit ihr verbindet uns eine langjährige intensive Zusammenarbeit,
aus welcher bereits zahlreiche Werke hervorgegangen sind (u.a.: Il nome del bel fior für das Projekt „The Hilliard Ensemble meets Singer Pur“).
Sie schreibt: „Ego dilecto meo vertont die Verse 7:10–12 des Canticum canticorum bewusst bittersüß, sowohl voller Hoffnung als auch Sehnsucht. Lange Melismen sind vorherrschend, abgewechselt mit konzentrierten
Ausbrüchen der schönen naturalistischen
Bilder des Textes. Kurze wiederholte Figuren, häufig unterbrochen und subtil variiert,
werden unter den männlichen Sängern getauscht, was der Schönheit individueller Stimmen erlaubt, durch die dichte Textur hindurch
zu strahlen. Die ekstatische Sopranlinie steigt auf und schwebt über allem, bis ihre frei konzipierten Gegenrhythmen schließlich das komplette Ensemble überholen.“
Wilhelm Keller wurde 1920 in Wels (Oberösterreich)
geboren und wuchs in Salzburg auf, wo er bis 1981 als Professor an der Hochschule
für Musik und darstellende Kunst „Mozarteum“
(Orff-Institut) lehrte. Als Komponist konzentriert
sich sein Schaffen auf die musikalische
Interpretation sprachlicher, szenischer und liturgischer Vorlagen, also auf Vokal-, Theater-, Film-, Kirchen- und Kindermusik. Für Singer Pur hat er verschiedene A-cappella-Stücke geschrieben. Der Gesang der Gesänge
(Übersetzung: Martin Buber) entstand im Jahre 1999.
Vokalmusik von Wilhelm Keller zu singen, erfordert immer ein Höchstmaß an Sprachdeklamation.
Die Stücke, die der Komponist aus Salzburg in der Vergangenheit für unsere Gruppe geschrieben hat, erinnern allesamt in ihrer Stilistik an die Musikdramen Carl Orffs. Indem Keller für seinen Gesang der Gesänge die Übersetzung des jüdischen Religionsphilosophen
Martin Buber heranzieht, beweist er sein feines Gespür für die Sinnlichkeit dieser Texte. Wen lässt es unberührt, wenn da gesungen
wird von „deines Nasenatems Duft“, der „wie von Äpfeln“ ist? Wilhelm Keller hat uns und unser Repertoire damit bereichert.
Singer Pur
Claudia Reinhard, soprano
(1)
Klaus Wenk, tenor
(2)
Markus Zapp, tenor
(3)
Manuel Warwitz, tenor
(4)
Reiner Schneider-Waterberg, baritone
(5)
Marcus Schmidl, bass
(6)