Die Würdigung des kompositorischen Werks Wilhelm Friedemann Bachs kam gegenüber der Beschäftigung mit dem unsteten Leben des „Enfant terrible“ unter den Bach-Söhnen stets zu kurz. Nach jahrelanger intensiver Beschäftigung mit seinem Oevre legt Anthony Spiri nun eine Auswahl von Klavierwerken aus verschiedenen Schaffensperioden W.F. Bachs vor. Dabei zeigt sich eine für die Konventionen der Zeit bemerkenswerte Freiheit der Form, ein oftmals satirisches Spiel mit Stilen verschiedener Epochen und eine geradezu
visionäre Vorausnahme späterer musikalischer Erscheinungsformen.
Anthony Spiri wurde in Cleveland, Boston und Salzburg ausgebildet, trat u.a. mit Nikolaus Harnoncourt, Michael Tilson Thomas und Christopher Hogwood auf. Während er sich zeitweise im Bereich der barocken und klassischen Klaviermusik
fast ausschließlich mit der historisch informierten Aufführung auf dem Cembalo und Hammerklavier beschäftigte, nutzt er mittlerweile diese Erfahrungen
für seine Interpretationen auf dem modernen Flügel.
Wilhelm Friedemann Bach
Wilhelm Friedemann Bach ist nicht zu Unrecht für seinen schwierigen Charakter und sein unangepasstes Leben berüchtigt. Filme und Romane haben seinen
Lebenswandel dargestellt, während die Fülle seiner Musik sogar in der Fachliteratur
häufig übergangen oder nur oberflächlich
behandelt wird.
Ein kurzer Überblick der Stationen seines
Lebens soll zunächst zur Orientierung dienen.
1710–1733: Weimar/Cöthen/Leipzig
Als ältester Sohn J.S. Bachs wächst Wilhelm
Friedemann in die Rolle des künftigen Erben einer berühmten Musikerdynastie herein. Noch als seine jüngeren Brüder auch bereits erfolgreich im Musikerberuf stehen hält Vater Bach seinen Erstgeborenen
für die größte Begabung unter seinen Kindern und fördert ihn entsprechend.
1733–1746: Dresden
In einer angesehen Stellung als Organist der Sophienkirche schreibt W.F. Bach viele Instrumentalwerke, gibt große öffentliche Konzerte und lernt auch das Hofleben von innen kennen. Seine Musikdrucke finden aber nicht den erhofften Anklang und erregen
zum Teil sogar das Missfallen des Vaters.
1746–1770: Halle
W.F. Bach ist als Organist an der Liebfrauenkirche
tätig und komponiert die meisten seiner Vokalwerke, vor allem Kirchenkantaten.
Er bearbeitet eigene und fremde Werke für den Gottesdienst. 1765 veröffentlicht er sein bekanntestes Klavierwerk, die ‚Zwölf Polonaisen’.
1770–1784: Braunschweig/Berlin
Wilhelm Friedemann ist ohne Anstellung und muss keine Vorgaben beachten, also steht die Klaviermusik wieder im Mittelpunkt.
Kammermusik und sogar ein Opernfragment
entstehen. Noch weniger als früher
ist er jetzt geneigt, auf den Geschmack des Publikums Rücksicht zu nehmen. Gegen Ende seines Lebens bringt Bach manche seiner seltsamsten Werke zu Papier und wird fast nur noch von einem kleinen Kreis von Musikkennern geschätzt.
Unsere Aufnahme bietet eine kleine, aber repräsentative Auswahl von Wilhelm Friedemann
Bachs Klavierschaffen. Je drei Werke der Gattungen Sonate, Fantasie und Fuge aus verschiedenen Perioden sind hier vertreten.
Die Sonate in D-dur, Falck 3 wurde 1745 als erste einer geplanten Reihe von sechs Cembalosonaten in Dresden veröffentlicht. Dass die restlichen fünf nie erschienen sind, wundert uns kaum, betrachtet man die hier auftretenden Schwierigkeiten und die bei einer Klaviersonate ungewöhnlich streng durchgeführte Dreistimmigkeit. Sonst steht sie den kurz zuvor erschienenen „Württembergischen
Sonaten“ Carl Philipp Emanuel Bachs recht nahe. Die Themen der Ecksätze
wurzeln zwar im galanten Vokabular
der Zeit, doch die großen Sprünge, die kunstvoll gedehnten Phrasen und die durch Vorhaltsbildungen erzeugten Spannungen lassen die meisten Klavierwerke der Zeit im Vergleich harmlos erscheinen. Bach hatte hier die Idee, alle drei Sätze durch ein wiederholt aufflackerndes Sprungmotiv miteinander zu verbinden. In den Ecksätzen erscheint es immer am Schluss der Hauptabschnitte.
Im zweiten Satz, einer gewichtigen,
in Sonatenform gekleideten Fuge, bildet
das Motiv den Endpunkt des Fugenthemas.
Kanon, Umkehrung, Engführung und Stimmtausch prägen die ganze Sonate.
Die drei dreistimmigen Fugen entstammen
einer Sammlung von acht Fugen, die der Kontrapunkt liebenden Prinzessin Amalie
von Preußen, der jüngeren Schwester vn Friedrich II und selbst einer angesehenen
Komponistin, gewidmet wurden. Trotz Anklängen an die Fugen J.S. Bachs gelingt Wilhelm Friedemann, eine eigene Klangwelt zu entfalten, die uns immer wieder an die Fugen Mendelssohns und Schumanns denken lässt. Das Thema der d-Moll Fuge beginnt wie eine Art Halbton-Studie, mündet dann in drei kleine abschließenden Skalen. Das kurze Stück ist voll von chromatischen Linien, verminderten Harmonien und rhetorischen
Pausen. Die c-Moll Fuge scheint eine bewusste Reminiszenz an J.S. Bachs zweistimmige
Invention in d-Moll zu sein, übertrifft
aber das Vorbild in der Häufung von Umkehrungen und Engführungen. Schöne Momente im galanten Stil lockern gelegentlich
den unerbittlichen Vorwärtstrieb. Auch hier kommt die „spannende Pause“ zum Einsatz.
Die Fuge in e-Moll verbreitet eine ganz spezielle Trauer durch die Statik des Themas,
die große Menge langer Vorhalte und die ausdrucksvollen Sprungintervalle. An die Klänge der gis-Moll Fuge aus dem zweiten
Band des Wohltemperierten Claviers werden sich manche Hörer erinnert fühlen.
Die Fantasie in a-Moll ist nicht datiert, zeigt aber Merkmale von Bachs letzter Schaffensperiode. Sie wirkt fast exzentrisch
in der Reihung der Abschnitte und in vielen Einzelheiten. Zum Beispiel können die nachschlagenden Bassoktaven vom Hörer leicht missverstanden werden und der Eindruck von unablässigem Zorn in dieser
Passage kann durchaus als Provokation
empfunden werden.
Die Fantasie in e-Moll gibt sich gemäßigter.
Sie zeigt eine gewisse Annäherung an den Stil Philipp Emanuel Bachs. Dies überrascht,
denn zum Zeitpunkt ihrer Entstehung (1770) hielt Friedemann die Musik seines Bruders
für minderwertig und war bemüht, sich von ihr zu distanzieren. Der Anfang der Fantasie
könnte als typisches Produkt der Epoche gelten, wären nicht die ständigen Septim- und Dezimsprünge und einige seltsame Akkordbildungen.
Wie in der D-dur Sonate Falck 3 droht hier bei den Stellen im punktierten Rhythmus Unspielbarkeit durch den großen Abstand zwischen den drei Stimmen.
Die als P883 bezeichnete Handschrift aus der Berliner Staatsbibliothek war Martin Falck, der 1913 das erste Werkverzeichnis W. F. Bachs herstellte, noch unbekannt. Sie enthält Fantasien und Sonaten, die zu Lebzeiten
des Komponisten nicht gedruckt wurden. Es lässt sich nicht eindeutig ermitteln, aus welcher Zeit diese Werke stammen, doch zumindest die c-Moll Fantasie aus dieser Handschrift besitzt Ähnlichkeit mit einigen der Klavierfantasien aus Bachs letzter Schaffensperiode.
Auch die Vielzahl fein abgestufter
Dynamik-Vorschriften könnte als Indiz fürs Fortepiano und daher für eine späte Entstehungszeit
gelten. Die alte fünfteilige Toccatenform,
bei welcher deklamatorische und arpeggierte Passagen mit Fugen oder Fugati abwechseln, ist leicht zu erkennen. Doch die Art, wie Bach Motive, Rhythmen und Modulationen
unauffällig aufeinander bezieht, aus kleinsten Zellen baut, ist seiner Zeit weit voraus.
Die Überlagerung alter und neuer Kompositionstechniken
bezeugt wieder einmal die hohe Virtuosität seines Geistes.
In der Sonate in D-Dur aus P883 erkennt man Bachs Bestreben, ohne aufdringlichen Kontrapunkt oder hohe technische Anforderungen
auszukommen. Die linke Hand spielt daher in diesem Werk nicht die anspruchsvolle
Rolle, die ihr normalerweise zugewiesen wird.
Während sich der erste Satz – selten bei Bach – der populären süddeutschen Sinfonie
annähert, ist der melancholische zweite Satz in einem etwas alltäglichen spätbarocken
Stil gehalten, allerdings mit kleinen persönlichen, „romantischen“ Merkmalen durchsetzt. Der letzte Satz, mit seinem zerrissenen,
buffonesken Hauptthema und der konstanten Weigerung zu modulieren, ist wahrscheinlich als bitterböse Parodie auf den modischen, oft flachen Sonatenstil der Zeit gedacht. Denn unter der scheinbar banalen
Oberfläche bleibt Bachs Geist aktiv. Zum Beispiel taucht der erste motivische Splitter des Hauptgedankens zum Beginn des Seitenthemas wieder auf, wird dann bei der Reprise weiter zersplittert, und die Einzelteile werden hin und her geworfen. Ein anderes, auftaktisches Quartsprung
motiv geistert durch alle drei Sätze, etwa am Ende des zweiten Satzes, eine Frage aufwerfend, um gleich im dritten Takt des nächsten Satzes wieder aufgegriffen zu werden.
Der erste Satz der Sonate in G-Dur aus P883 vermischt einen modernen, Haydn-nahen Stil mit Musik, die von Händel oder Rameau stammen könnte. Der zweite Satz ist – schon wieder! – eine Fuge von großer Gefühlstiefe. Schulmäßig korrekt ist sie allerdings
nicht, denn das Thema tritt am Anfang
mit akkordischer Begleitung auf. „Romantische“
Harmonien färben im weiteren Verlauf den meisterhaften Kontrapunkt. Der dritte Satz irritiert durch seinen seltsamen
Rhythmus und enthält die für Friedemann
Bach so typischen kurzen, zackigen Figuren. Andere Phrasen hingegen sind so klischeehaft, dass wir darin eine parodistische
Absicht vermuten dürfen. Die in dieser Sonate auftretenden spätbarocken Techniken müssen keineswegs eine frühe Entstehungszeit nahelegen, denn, wie sein jüngerer Bruder Carl Philipp Emanuel, liebte
Wilhelm Friedemann Bach solche Stilbrüche
sein Leben lang, aber besonders im Alter.
Anthony Spiri