Michael Korstick, piano
Der Auftakt wurde zur Sensation: Mit den Diabelli-Variationen begann Michael Korstick seine Gesamteinspielung der Beethoven-Klaviersonaten bei OehmsClassics, die Presse urteilte in Superlativen.
Mit den frühen Sonaten op. 2 setzt Korstick nun seinen Beethoven-Zyklus fort. Die Klaviersonaten werden sämtlich als SACD-Produktionen erscheinen. Der Perfektionismus in der Umsetzung des Notentextes setzt sich hier in einer Aufnahmetechnik fort, die das gegenwärtig Machbare beschreibt, was klangliche
und räumliche Wiedergabequalität betrifft. Erntete noch zu Beginn der Multikanal-Ära eine Surround-Aufnahme bei nur einem einzigen abzunehmenden
Instrument ungläubiges Kopfschütteln, ist inzwischen unbestritten, dass die Authentizität des Klangbildes im Fünfkanal-Modus eklatant zunimmt. Aber auch schon in der hochauflösenden SACD-Stereo-Variante ist ein deutliches Plus an Klangdichte und Klangfarbendifferenzierung zu verbuchen.
Beethovens Sonaten op. 2
Als Beethoven 1795 seine drei Sonaten
op. 2 schreibt, hat er bereits drei Jahre in Wien, Zentrum der musikalischen Welt seiner Epoche, verbracht und dort den Unterricht des auf der Höhe seines Ruhms stehenden Haydn genossen. In Bonn war er zuvor durch Christian Gottlob Neefe unterwiesen worden, hatte Bachs „Wohltemperiertes
Clavier“, von dem er eine Abschrift besaß, gespielt und umfassende Kenntnisse des gesamten musikalischen Repertoires erworben.
Geprägt vom liberalen rheinischen Katholizismus
ebenso wie von den Idealen der französischen Revolution, ist er zum aufgeklärten
Moralisten und entschiedenen Republikaner
geworden, der zu einer Zeit nach Wien kommt, da Musiker sich erstmals von festen Anstellungsverhältnissen bei Adel und Klerus zu emanzipieren suchen und ihr Ideal im freien Schaffen sehen.
Neben Talent und Empfehlungsschreiben
besitzt der junge Beethoven vor allem die charakterlichen Voraussetzungen zur
Verfolgung dieses hohen Ziels: Selbstbewusstsein,
Charisma, Durchsetzungsvermögen
und Leidenschaft (bis freilich hin zu cholerischen Zügen).
In Wien schreibt Beethoven schließlich die ersten Werke, die ihm wert erscheinen, sie unter Opus-Zahlen veröffentlichen zu lassen, darunter die hier eingespielte Trias der Sonaten op. 2, welche er seinem Lehrer Haydn widmet und mit denen er sich gleichzeitig
radikal von diesem emanzipiert.
Gleich der explosive Kopfsatz der leidenschaftlich
geprägten f-Moll-Sonate mit der Figur der „Mannheimer Rakete“ als Hauptthema, mit seinen widerborstigen Synkopierungen und ungewohnt scharfen Akzenten, spricht eine ganz neue musikalische
Sprache und zeigt unmissverständlich,
dass die Musikwelt es mit diesem jungen
Genie nicht leicht haben wird.
Hier gibt es kein tastendes Suchen, keine selbstquälerischen Unsicherheiten, keine konventionellen Floskeln, keine Formprobleme.
Nein, hier spricht eine geformte, energische
Persönlichkeit, und die Botschaft heißt: „Hier bin ich, hört, was ich zu sagen habe!“
In allen drei Sonaten erweitert Beethoven
die traditionelle Dreisätzigkeit zur sinfonisch geprägten Viersätzigkeit und demonstriert
mit vollendeter formaler Meisterschaft

sein Kompositionsprinzip: die Ableitung
aller musikalischen Gestalten eines Satzes aus einem einzigen thematischen Nukleus.
Wenn auch jede der drei Sonaten einen deutlich eigenen Charakter besitzt – auffahrende
Wildheit die erste, spielerische Eleganz die zweite, konzertante Virtuosität
die dritte –, so haben die Stücke doch eins gemeinsam: der 25-jährige Komponist beherrscht die traditionellen Formen souverän,
ohne diese offen in Frage zu stellen, füllt sie aber mit neuen Inhalten, seinen Inhalten. Ein Akt der Subversion? Auch die ungeheure Ausdruckstiefe der langsamen Sätze zeigen jene überwältigende Fähigkeit
Beethovens zu gesanglicher Innigkeit, welche als Markenzeichen seines eigenen Klavierspiels so gerühmt wurde.
Mit seinen ersten Sonaten stößt Beet-hoven das Tor auf ins bevorstehende 19. Jahrhundert – so wie er mit seinen letzten Sonaten die Form aufbrechen und den Weg in ein noch späteres Zeitalter weisen wird.
Wie hat nun ein Interpret des 21. Jahrhunderts
angesichts der Tatsachen mit diesen Werken umzugehen? Michael Korstick
spricht davon, er sehe sich „in der Verantwortung, diese Werke wirklich ernst zu nehmen“.
Tatsächlich zeigt die Interpretationsgeschichte
eine deutlich wahrnehmbare Tendenz,
diese Sonaten entweder unter dem Etikett von „Frühwerken“ klassizistisch zu verharmlosen und ihnen durch akademische
Einengung des Ausdrucksradius gleichsam „die Zähne zu ziehen“, oder sie mit einer Attitüde der Herablassung zu ironisieren
und der Versuchung des „Pointierens“
nachzugeben.
Doch besteht die Kunst der Interpretation
nicht eher darin, die Extreme des Ausdrucks
nachzuempfinden und zusammenzuführen,
der Persönlichkeit Beethovens, wie sie sich in seiner Musik manifestiert, nachzuspüren und ihren unterschiedlichen Aspekten gerecht zu werden, seien es die Ausbrüche und Widerborstigkeiten, seien es die intimsten Gedanken und innigsten Emotionen des Komponisten?
Michael Korstick beantwortet diese Frage für sich, indem er durch intensives Quellenstudium und konsequente Umsetzung
aller Vortragsbezeichnungen (dies bezeichnet er als „bloßes Handwerk“) die Voraussetzungen für die Erfassung und Durchdringung der Kompositionen auf geistiger und emotionaler Ebene schafft.
Gefragt, ob Texttreue der Schlüssel zur Interpretation der Werke Beethovens sei, meint Korstick: „Schön wär‘s! Aber die Texttreue ist nicht mehr als das Fundament, auf dem noch ein ganzes Klanggebäude errichtet werden muss“ – und fügt lachend hinzu: „Also längst nicht alles. Aber ohne sie ist alles nichts!“
Jens Markowsky
Teile des Textes basieren auf einem
Gespräch des Autors mit Michael Korstick