Jura Margulis, piano
Der in Russland geborene Pianist Jura Margulis begann das Klavierstudium bei seinem Vater, dem großen Pädagogen Vitaly Margulis. Anschließend wurde er Schüler von Leon Fleisher in Baltimore/USA. Jura Margulis ist Preisträger bei 12 internationalen Wettbewerben. Neben seiner weltweiten Konzerttätigkeit als Solist konzertierte er im Duo mit Martha Argerich in Deutschland, USA und Japan. Auf seiner neuen CD stellt Jura Margulis die Kunst der Klaviertranskription in ihrer ganzen Vielfalt vor. Die Originalwerke von Bach über Gluck bis Wagner und Caplet werden mit ganz verschiedenen Mitteln und Zielsetzungen auf das Klavier übertragen. In die Reihe der Bearbeiter, zu denen Busoni, Liszt und Sgambati zählen, stellt sich auch der Interpret selbst mit drei eigenen Transkriptionen.
Jura Margulis
Klaviertranskriptionen
Sofern Stücke als Materialisationen von abstrakteren und zerflossenen Ideen anzusehen sind, so verflüssigen Übertragungen
die spezifische Form, um sie daraufhin
erneut zu kristallisieren. Dieser Prozess kann verborgene, im Originalwerk schlummernde
Möglichkeiten offenbaren und einen willkommenen Perspektivenwechsel für eventuell zu sattsam bekannte Meisterwerke
bieten. E.T.A. Hoffmann sah den Reiz der Übertragung in der besonderen Hörstrategie, zu der diese einlädt: „Wie eine Skizze ein großartiges Gemälde, so gibt das Klavier ein großes Werk wieder; es bleibt der Phantasie überlassen, es in den Farben des Originals zum Leben zu erwecken.“1 Er deutet damit an, dass die Übertragung eines Werkes nicht als von seinen orchestralen Ursprüngen getrennt und neu „für Klavier“ gehört werden solle; sondern als Heraufbeschwörung
symphonischer Klangfarben. Die Tatsache, dass die Originalklänge nicht wirklich vorhanden sind, ist für die Kraft der Übertragung von wesentlicher Bedeutung; ihre Abwesenheit öffnet einen einzig vom Zuhörer ausfüllbaren Raum, in dem dieser
anhand seiner Phantasie die fehlenden Dimensionen rekonstruieren muss.
Übertragungen fördern folglich eine besonders aktive Hörweise. Dies trifft insbesondere
zu, da das Klavier nicht nur ein durchsichtiger Schleier ist, durch den die orchestralen Tuttis und Blechfanfaren schimmern; in der lisztschen, virtuosen Tradition
der Übertragungen zieht das Klavier ebenfalls als solches, mit idiomatischen Läufen und Oktav-Kaskaden, die Aufmerksamkeit
auf sich. Der Zuhörer wird dazu ermutigt, hin und her zu wechseln zwischen
dem Akt der Abstraktion, weg vom Klavier zu einer gedachten klanglichen Verwirklichung, und dem Akt der Konzentration
auf das Klavier als Ort neuer pianistischer
Umsetzungen der schlummernden Möglichkeiten des Originalwerks.
Die Tradition der Übertragung fördert den gesunden Geist der Zusammenarbeit zwischen dem Interpreten und dem Komponisten,
besonders willkommen in einer Zeit, in der der ästhetische, falsch verstandene Wert der Authentizität die Gewohnheiten der Innovationen und Improvisationen bei den Interpreten unterdrückt hat. Übertragungen
können relativ dicht am Original liegen oder sich sehr frei danach richten, können die ganze Skala von einer Takt-für-Takt-Wiedergabe bis zu einer freien, auf dem motivischen Material basierenden Umschreibung durchlaufen. Die vorliegende
CD bietet Beispiele von den beiden Enden des Spektrums.
Gluck/Sgambati
In Glucks 1774 erweiterter Version von Orpheus und Eurydike beginnt die Abschlussszene des zweiten Aktes mit dieser
Melodie, gesungen von einem Chor, der die unendliche Glückseligkeit im Elysium lobpreist. Orpheus kann sich dieser Glückseligkeit
nicht erfreuen, da Eurydike sich noch nicht zu ihm gesellt hat. Giovanni Sgambati (1841–1914), einer von Liszts Schützlingen, fertigte eine transparente Übertragung an, die es der Spannung zwischen
diesen zwei Gefühlen erlaubt, vielleicht
noch reiner als im Original zu sprechen,
in dem die gewaltige physische Präsenz
des Chors die Einbildungskraft des Zuhörers beinträchtigen kann.
Bach/Busoni
Die Chaconne in d-Moll bleibt das meistübertragene
und -bearbeitete von Bachs instrumentalen Werken. Als Chaconne besteht das Stück aus einer Reihe Variationen
über einem Basso ostinato. Der viertaktige, wiederholte Bassrhythmus artikuliert eine Fassung der Romanesca, nämlich eine schrittweise absteigende Folge von der Tonika auf die Dominante. Brahms, Autor einer der zahlreichen Übertragungen,
die von Felix Mendelssohn bis Leopold Stokowski reichen, erklärte den anhaltenden Anreiz des Werks in einem Brief an Clara Schumann:
„Die Chaconne ist mir eines der wunderbarsten,
unbegreiflichsten Musikstücke.
Auf ein System, für ein kleines Instrument
schreibt der Mann eine ganze Welt von tiefsten Gedanken und gewaltigsten Empfindungen… Hat man nun keinen der größten Geiger bei sich, so ist es wohl der schönste Genuß, sie sich einfach im Geist tönen zu lassen. Aber das Stück reizt, auf alle Weise sich damit zu beschäftigen.“
Ferruccio Busonis (1866–1924) Über-tragung, 1893 vom Komponisten anlässlich einer Vorstellung in Boston uraufgeführt, bietet eine solche „andere Art“ und macht sich das ganze Spektrum des späten romantischen Klaviers zunutze, um die Kraft der Chaconne zu entfesseln.
Obwohl Busonis Übertragung ein Geigen-
in ein Klavierstück verwandelt, enthält es auch Anflüge eines dritten Instruments. Busoni schrieb, dass er es „mit dem Klang der Orgel im Sinn“ komponierte. „Dieser Ansatz rechtfertigt sich dadurch, dass die Geige den wesentlichen Inhalt nicht genügend
ausdrückt, und wegen des Beispiels von Bachs eigener Orgelübertragung (BWV 539) seiner Violinfuge in g-Moll.“
Schubert/Liszt
Franz Schuberts (1797–1828) mehr als 600 Liedvertonungen stellen die Stimme und das Klavier als ebenbürtig ausdrucksfähige Partner dar. Anhand seiner Übertragungen versuchte Liszt, den Ruf des damals wenig bekannten Schubert zu fördern. Seine Übertragungen
entwickeln Schuberts höchst ausdrucksvolle Begleitungen und binden die Originalstimmlinie in den Klavierpart ein. Als Liszts Herausgeber die Texte in voller Länge vor der Partitur statt direkt anbei, jedes Wort neben der entsprechenden Melodie-note, drucken ließ, protestierte Liszt heftig. Schuberts Musik macht den Eindruck, so unweigerlich aus dem Text zu fließen, dass sie sogar in der stimmlosen Übertragung die Worte auszudrücken scheint.
Caplet/Margulis
André Caplet (1878–1925) teilte mit seinem engen Freund Debussy die Faszination für die Geschichten Edgar Allan Poes. In Die Maske des Roten Todes, der literarischen Grundlage für Conte Fantastique, lädt ein Prinz zu einem phantastischen Maskenball
ein, in arroganter Missachtung des „Roten Todes“, der das Land außerhalb der eisernen Tore seines Schlosses heimsucht. Punkt Mitternacht bemerken die Zecher einen Gast in blutbeschmierten „Leichentüchern“,
seine Maske stellt das Angesicht eines Leichnams dar. Entsetzen breitet sich aus, als die Gäste erkennen, dass es sich bei dem Träger des Kostüms um den Roten Tod selbst handelt, und ihm ein Festgenosse
nach dem anderen erliegt. In Caplets Original werden die zwölf Schläge der Uhr durch zwölf Schläge auf die Harfe dargestellt
– ein zu der Zeit sehr innovatives kompositorisches Merkmal.
Caplet schrieb das Stück ursprünglich für Harfe und Streichquartett, änderte es aber später für eine Besetzung von Harfe und Orchester. Das Werk umgeht, wie es Caplets Stil eigen war, die traditionellen thematischen Entwicklungen zu Gunsten einer improvisierten Entfaltung und resultiert
in einer Struktur, die dem heutigen Zuhörer übermäßig sprunghaft vorkommt. Diese Übertragung paraphrasiert sehr frei den mittleren Teil, wobei sie das beherrschende
Kernmaterial in einem engeren und zusammenhängenderen Rahmen zusammenfasst, während die Struktur der äußeren Teile sowie der idiomatischen Akkordbrechungen und chromatischen Glissandos der Harfe Takt für Takt bewahrt werden.
Wagner/Liszt; Wagner/Busoni/Margulis
Bekannte Werke wie Isoldens Liebestod (vom Ende von Tristan und Isolde) und den Trauermarsch (aus der Götterdämmerung), deren akustischer Eindruck so tief und klanglich ist, auf dem Klavier zu hören ist eine Erfahrung, die den Begriff der Übertragung
in den Vordergrund rückt. Es ist beinahe
unmöglich (und wahrscheinlich nicht wünschenswert), sie als Klavierstücke zu hören; vielmehr versuchen die Übertragungen
die Kraft des Originals zu verstärken, indem sie auf das Gedächtnis und die Einbildungskraft des Zuhörers zielen,
in der Weise, wie von E.T.A. Hoffmann beschrieben. Margulis verdichtete die harmonische Struktur, wie sie von Busoni übertragen wurde, um die Heraufbeschwörung eines eingebildeten Orchesters zu erleichtern. Bemerkenswert ist, dass Wagner glaubte, seine Opernmusik würde nicht als Bühnenwerk,
sonder eher in der Übertragung überleben.
Saint-Saëns/Liszt/Margulis
Liszts Übertragungen waren berühmt für ihre unübertreffliche „Klaviertauglichkeit“ gegenüber den Originalen. Statt bewusster Hervorrufung des Orchesterklangs stellen Übertragungen wie jene des Danse Macabre
eine Art alternativer Verwirklichung dar, die schlummernden Möglichkeiten des Originals werden erforscht und nur durch die Fähigkeiten des neuen Instruments ans Licht gebracht. Im Gegensatz zu anderen Übertragungen von Liszt, wie zum Beispiel Don Juan und Rigoletto, ist die Übertragung
des Danse Macabre karg und skizzenartig,
und bietet nur das Gerüst für eine wahre, „klaviertaugliche“ Verwirklichung, je nach Deutung des einzelnen Interpreten. Margulis baut auf Liszts Rahmenwerk auf und führt so die gemeinschaftliche und kreative Tradition von Generationen von Pianisten fort.
Elizabeth Hellmuth
Chicago, 2006
Übersetzung:
ar-pege translations – Micheline Wiechert
1 E.T.A. Hoffmann’s Music Writings (E.T.A. Hoffmanns
Schriften zur Musik): Kreisleriana, the Poet, and the Composer, Music Criticism (Kreisleriana: Der Dichter und der Komponist, Musikkritik), Hrsg. David Charlton, übers. Martyn Clark (Cambridge: Cambridge University Press, 1989), S. 251.